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Literaturverfilmung transmedial?

Zum medienvergleichenden Umgang mit Verfilmungen für Kinder und Jugendliche im Deutschunterricht

von Gerrit Althüser (Autor:in)
©2022 Dissertation 278 Seiten

Zusammenfassung

Literaturverfilmungen gehören seit langem zu den Standardsituationen des Deutschunterrichts. Häufig bleiben die Potentiale des Einsatzes von Verfilmungen aber ungenutzt. Dies ist vor allem der Fall, wenn die Verfilmung nur als Belohnung nach der Lektüre geschaut wird oder ihre Thematisierung im bloßen inhaltlichen Abgleich zur Vorlage verbleibt. Zielführendere Verfahren erarbeiten, wie Verfilmungen Bücher intermedial rezipieren. Der Autor möchte weiter gehen und eine transmediale Konzeption vorlegen, nach der Buch und Film nicht in ein Ableitungsverhältnis gestellt werden. Stattdessen schlägt er vor, sie als zwei medial verschiedene Ausprägungen einer abstrakten Geschichte zu behandeln, um an einer ähnlichen Geschichte mediale Spezifika und die mediale Bedingtheit von Bedeutung zu analysieren.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • 1. Einleitung
  • 2. Bausteine zu einer Theorie der Literaturverfilmungen für Kinder- und Jugendliche
  • 2.1 Bestimmung von Kinder- und Jugendfilm
  • 2.1.1 Kinder- und Jugendfilm – Eine Analogie zur Kinder- und Jugendliteratur?
  • 2.1.2 Merkmalsgeleitete Arbeitsdefinition: Kinder- und Jugendfilm
  • 2.1.3 Der Familienfilm als Sonderfall
  • 2.1.4 Literaturverfilmungen für Kinder- und Jugendliche
  • 2.2 Bestimmung von Literaturverfilmung
  • 2.2.1 Forschungsgeschichte und bestehende Definitionsansätze
  • 2.2.2 Verfilmung als Phänomen intermedialer Intertextualität
  • 2.2.3 Arten der Verfilmung
  • 2.2.4 Verfilmung: Weite und enge Definition
  • 2.2.5 Literarische Gattungen, bild-text-literarische Vorlagen und Fiktionalität
  • 2.2.6 Zum Begriff „Literaturverfilmung“ – Eine Apologie
  • 3. Literaturverfilmungen im transmedialen Deutschunterricht
  • 3.1 Mediendidaktische Ausgangspunkte
  • 3.1.1 Der Begriff des Mediums
  • 3.1.2 Bisherige Konzeptionen: Medienintegrativer, intermedialer und symmedialer Deutschunterricht
  • 3.2 Für eine transmediale Herangehensweise
  • 3.2.1 Begriffsklärung „Transmedialität“
  • 3.2.2 Transmedialität und Verfilmungen
  • 3.2.3 Verfilmungen im transmedialen Deutschunterricht
  • 3.2.4 Narratologie und Semiotik und andere Vergleichszugänge
  • 4. Medial spezifische Gestaltungsmittel von Film und Literatur
  • 4.1 Semiotische Differenzen
  • 4.1.1 Vorüberlegungen zur medienkomparativen Semiotik
  • 4.1.2 Literatur als symbolisches Medium
  • 4.1.3 Die Ikonizität des Films
  • 4.1.4 Indexikalische Elemente des Films
  • 4.1.5 Synthetik statt Linearität
  • 4.1.6 Sinnlichkeit statt Diskursivität?
  • 4.1.7 Zwischenfazit
  • 4.2 Narratologische Differenzen
  • 4.2.1 Der Erzähler in der narrativen Literatur
  • 4.2.2 Die Problematik des Voice Over: Erzählerfiguren im Film
  • 4.2.3 Die Debatte um den Filmerzähler
  • 4.2.4 Zwei Instanzen statt einer Figur: VEI und SEI
  • 4.2.5 Filmische Perspektivdarstellung
  • 4.2.6 Literarische Distanz und filmische Szenen
  • 4.2.7 Zeit im Film
  • 4.2.8 Zwischenfazit
  • 5. Zur Umsetzung der transmedialen Arbeit mit Verfilmungen
  • 5.1 Ziele der transmedialen Arbeit mit Verfilmungen
  • 5.2 Methodik transmedialer Arbeit mit Verfilmungen
  • 5.2.1 Roman und Film in narratologischer und semiotischer Perspektive
  • 5.2.2 Der Vergleich von Schlüsselausschnitten
  • 5.2.3 Film während der Texterarbeitung, Beginn mit dem Film
  • 5.2.4 Mischung analytischer und erfahrungsbezogener Methoden
  • 6. Beispiel 1: Rico, Oskar und die Tieferschatten
  • 6.1 Rico, Oskar und die Tieferschatten als Buch und als Film
  • 6.2 Vergleich des Anfangs von Film und Buch
  • 6.3 Vergleich einer weiteren Expositionsszene
  • 7. Beispiel 2: Tschick
  • 7.1 Tschick als Buch und als Film
  • 7.2 Vergleich des Anfangs von Film und Buch
  • 7.3 Maik vor Gericht in Film und Buch
  • 8. Fazit
  • Literaturverzeichnis
  • Reihenübersicht

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1. Einleitung

Als Jorge Luis Borges 1932 seine Gedanken zu einigen Filmen niederschreibt und von einer damals aktuellen Verfilmung von Dostojewskis Die Brüder Karamasow (1880) schwärmt, gesteht er die „Unterlassungssünde“, den Roman nicht gelesen zu haben. Er habe dadurch aber „den Film genießen [können], ohne ständig der Versuchung ausgesetzt zu sein, eine Deckung von aktuellem Schauspiel und Leseerinnerung herbeiführen zu wollen.“ (Borges 1991 [1932]: 193) Dabei ist ihm bewusst, dass sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten zwischen Film und Buch „gleichermaßen bedeutungslos“ (ebd.) sind.

Man mag meinen, wie Borges hätten 2001 viele Menschen den ersten Harry-Potter-Film weit mehr genießen können, wenn sie das Buch nicht gelesen oder doch zumindest gründlicher vergessen hätten. Der „Versuchung“ des Vergleichs sind viele Fans des Romans erlegen und monierten dabei jede einzelne Abweichung des Films vom Buch. Schon Hans-Heino Ewers notiert die „Kritik junger Harry Potter-Fans, die in fachmännischer Ausführlichkeit sämtliche Abweichungen von der Vorlage registrierten“, diese zwar manchmal begrüßten, vielfach aber „als Unkorrektheiten, als fehlerhafte Wiedergabe des Stoffes“ geißelten (Ewers 2006: 300). In zahlreichen Blogs, Internetforen und anderen Medien rügten die Fans des Romans kleinste Abweichungen von der Vorlage: Harrys Augenfarbe sei falsch, heißt es dort beispielsweise, Hermines Schneidezähne nicht spitz genug, der gesamte Anfang des Films ein anderer als der des Buches, im Roman habe es mehr Quidditch-Spiele gegeben. Auch dass die Schlossgeister nur kurz erwähnt werden und selbst, dass manche Nebenfiguren wie z. B. Tante Petunia andere Haarfarben haben, konnte für Unmut sorgen. Diesen Tenor spiegelt auch eine empirische Studie wider, die zeigt, wie sehr die Vorerwartungen durch den Roman in diesem Fall die Bewertung der Filmfiguren prägen (vgl. Hundshagen/ Philipp 2006).

Was jedoch die Diskussion um Ähnlichkeiten und Unterschiede von Harry Potter and the Philosopher‘s Stone (R: Chris Columbus, 2001) zum Roman von Joanne K. Rowling (1997) noch interessanter macht, ist die Tatsache, dass auch die Filmkritiker:innen den Film hauptsächlich im Abgleich zum Buch beurteilten, dabei aber genau die entgegengesetzte Wertung vertraten. Sie warfen dem Film – zumindest in Deutschland – eine allzu große Werktreue vor. In der Zeit beispielsweise resümiert Konrad Heidkamp, der Film bliebe „ganz nah am Buch. Das ist sein einziger, aber auch ein entscheidender Fehler“ (Heidkamp 2001). Lakonisch fragt er: „Was fehlt also? Wenig Wesentliches. Und was ist neu? ←9 | 10→Leider kaum etwas.“ (ebd.) Dass die Harry-Potter-(Roman-)Fans größtenteils die diametral entgegengesetzte Ansicht vertreten, ist ihm bewusst, denn er zitiert exemplarisch die Auffassung, Harrys Haare hätten strubbeliger sein müssen, wie es ja auch auf dem Cover des Buches umgesetzt worden sei (vgl. ebd.). Ähnlich wie Heidkamp äußern sich die meisten deutschen Filmkritiker:innen. Laut Urs Jennys Spiegel-Rezension „stolpert [der Film] über den Anspruch, mehr dem Roman als sich selbst Genüge zu tun“ (Jenny 2001), Anke Westphal (Tagesspiegel) zufolge hält er sich „sklavisch“ an die Vorlage und sei eben daher „kein Film über die Idee der ‚Potter‘-Romane“ (Westfal 2001) geworden und Wiebke Brauer stellt für Spiegel ONLINE fest:

Die Geschichte des kleinen Jungen, der auszog, um das Zaubern zu lernen, ist formal lückenlos in ein anderes Medium übersetzt worden. Keine Figur und keine Szene des Romans fehlen im Film. Ob Troll samt Schleim oder der Schulsport ‚Quidditch‘ mit Flatter-Schnatz – alles taucht auf und verschwindet wieder ohne nennenswerte Nachwirkung im Strudel der filmisch durchhetzten Ereignisse. (Bauer 2001)

Im Tagespiegel konstatiert Harald Martenstein rhetorisch zugespitzt sogar:

So paradox es klingt – gerade durch sein Bemühen, dem Buch möglichst nahe zu sein, entfernt sich der Film von seinem Vorbild. Was auf der Strecke bleibt, sind die retardierenden Momente, der raffinierte Wechsel von Tempo und Stillstand in Rawlings [sic!] Prosa.

Und wenn Hanns-Georg Rodek (Welt) der Werktreue nicht so abgeneigt scheint, was er aber eben mit den besagten Erwartungen der Fans begründet, moniert er doch, dass der Harry-Potter-Film ohne Kenntnis des Buches nicht funktioniere, und stellt fest, die „Buchstabentreue [des Films gehe] so weit, dass er Schwächen des Buches übernimmt.“ (Rodek 2001) Dies wird nur ein sehr dogmatischer Verfechter von Werktreue als Kompliment auffassen.

Auch wissenschaftliche Artikel, die das hohe Maß an Werktreue aus den angenommenen Vorerwartungen der Leser:innen ableiten, schlagen sich bei der Bewertung auf die Seite der Filmkritiker:innen (vgl. Cartmell/ Whelehan 2005; Strobel 2006; Ewers 2006: 299f). Alles in allem zeigt sich am Beispiel des ersten Harry-Potter-Films, wie sehr gerade Literaturverfilmungen für Kinder und Jugendliche auch in jüngerer Vergangenheit allein im Vergleich zu ihrer Buchvorlage rezipiert und beurteilt werden. Wie gesehen lässt sich in der Beurteilung jedoch ein deutlicher Unterschied zwischen Fans und Kritiker:innen ausmachen. Die Filmkritiker:innen scheinen sich dessen bewusst, dass Veränderungen des Stoffes bei der Übertragung in ein anderes Medium notwendig und unvermeidbar sind, da jedes Medium eigenen Regeln gehorcht. Haben sie sich also nicht vom vergleichenden Schauen gelöst, erkennen sie – professionsbedingt ←10 | 11→wäre alles andere auch überraschend – im Film zumindest ein eigenständiges Kunstwerk, statt nach einem bloßen Abbild des Buches zu verlangen. Bei den Fans des Buches hinterlässt die Verfilmung jedoch größtenteils Enttäuschung, da sie keine exakte Kopie des Buches darstellt. Die grundsätzliche Inkommensurabilität beider Medien wird nicht reflektiert.1

Könnte man Verfilmungen denn nicht, um noch einmal Borges zu bemühen, so rezipieren, wie dieser den französischen Roman Vathek, über den und dessen Übertragung ins Englische er bekanntermaßen geschrieben hat: „Das Original ist der Übersetzung untreu“ (Borges 1992 [1943]: 149)? Das geschieht bei Verfilmungen natürlich selten und wird auch von Borges nur mit der ihm eigenen ironischen Verve und seiner Lust am paradoxalen Spiel vorgetragen.2

Aber etwas zumindest Vergleichbares lässt sich am Beispiel von Harry Potter and the Philosopher’s Stone beobachten: Während der Harry-Potter-Stoff vor Erscheinen der Kinofilmreihe zunächst über die Bücher kennengelernt wurde, ist die „mediale Einstiegsversion“, wie Hans-Heino Ewers feststellt, für die meisten jüngeren Kinder nicht mehr das Buch, sondern der Film. Erst im Anschluss rezipieren sie dann andere Medien von Computerspielen bis zum Buch (vgl. Ewers 2006: 305f). Ohne dass gesagt werden soll, dass dies notwendig der bessere Einstieg in den Medienverbund ist, wird man doch konstatieren können, dass dabei der inhaltlich-vergleichend beurteilende Blick sehr viel schwächer ausgeprägt ist. Falsch wäre es jedoch ebenso, Buch und Film überhaupt nicht zu beurteilen. Wichtig ist lediglich, dass jedes Kunstwerk nach den eigenen medialen Bedingungen und nicht in Abgleich zu einer Vorlage, einem vermeintlichen ‚Original‘ beurteilt wird. Die Aussagen der Filmkritiker:innen stehen dieser Rezeptionsweise trotz des grundsätzlich vergleichenden Blickes zumindest näher, schließlich monieren sie die hohe Ähnlichkeit von Buch und Vorlage eben, weil der Film dadurch nicht den Bedingungen des eigenen Mediums gerecht würde.

Auch im Deutschunterricht, in den Literaturverfilmungen schon lange als „Exemplum classicum“ (Lecke 2008: 56) der Intermedialität Einzug gehalten ←11 | 12→haben,3 war lange der Buch-Film-Vergleich leitend, der sich schlimmstenfalls auf den inhaltlichen Abgleich beschränkte4 und wieder dem Axiom der Werktreue folgte. Die Chance, Literaturverfilmungen zu nutzen, um gegen solche Rezeptionsweisen zu einer angemessenen Würdigung von Verfilmungen zu gelangen, bleibt dadurch vertan, ebenso wie die Möglichkeit, die medial spezifischen Bedingungen von ästhetischer Gestaltung zu erschließen. Wenn Sabine Schlickers die Frage stellt, „inwieweit enttäuschte Erfahrungen in Bezug auf Adaptionen mittlerweile zu einer eingefahrenen, beinahe konditionierten Reaktion geworden ist“ (Schlickers: 1997: 40), lässt sich die Frage hinzufügen, ob nicht eine falsche Behandlung von Verfilmungen in der Schule zu einer solchen Konditionierung ihr Scherflein beigetragen hat, statt solchen Ansichten entgegenzuwirken. Ebenso zu hinterfragen ist die sprichwörtliche Bonbon-Didaktik, bei der ein/e Lehrer:in nach der als anstrengend vermuteten Lektüre zum Abschluss als Belohnung noch den Film zeigt. Dieses Vorgehen ist nicht nur für die Lesemotivation fatal, sondern wird dem Film als eigenständigem Kunstwerk ebenfalls nicht gerecht und muss hier gar nicht eigens diskutiert werden. Zu hoffen ist, dass es im tatsächlichen Deutschunterricht ohnehin nicht (mehr) so häufig vorkommt, wie es als Klischee zitiert wird.

Neben der Arbeit am klassischen Beispiel hat sich in den letzten Jahren „Medienverbunddidaktik“ (Kruse 2014a) entwickelt. Auch zum Harry-Potter-Franchise bzw. Harry-Potter-Medienverbund gehören natürlich nicht nur Film ←12 | 13→und Buch, sondern eine ganze Reihe von Werken5 in anderen Medien sowie weitere Merchandisingprodukte.6 Und auch andere Kinder- und Jugendliteratur geht heute nicht selten in einem hypermedialen Verbund auf – oder ist überhaupt erst als Teil eines solchen entstanden. Neben der Verfilmung gibt es dann beispielsweise Hörspiele, Hörbücher, Computerspiele, Comic-Adaptionen, Inszenierungen auf dem Theater und vieles mehr. Gerade an Verfilmungen entzünden sich aber häufig Debatten über Werktreue, gerade hier wird die mediale Eigenästhetik bei solchen Diskussionen häufig vergessen. Dies mag daran liegen, dass Verfilmungen besonders viel rezipierte Adaptionen von literarischen Texten sind – Harry Potter and the Philosopher‘s Stone hatte sogar ein Einspielergebnis von annähernd einer Milliarde US-Dollar –, sodass sie eben entsprechend intensiv diskutiert werden. Vielleicht liegt es aber zudem daran, dass Film und Buch strukturell sehr ähnliche Erzählmedien sind, was die Vorstellung einer leichten Übertragbarkeit von Inhalten evoziert.7

In dieser Monografie wird dafür argumentiert, dass eine konstruktive Arbeit mit Literaturverfilmungen im Deutschunterricht dem vergleichenden Blick auf Buch und Film als ‚Original‘ und ‚Nachahmung‘ entgegenwirken sollte und stattdessen anhand der Buch- und der Filmversion desselben Stoffes paradigmatisch Mediendifferenz und medial spezifische Ästhetik erfahren und analytisch ←13 | 14→erarbeitet werden. Kern der Arbeit ist, ein transmediales Herangehen vorzuschlagen, das Buch- und Filmversionen wie zwei verschiedene Ausprägungen derselben zugrunde liegenden Geschichte zu behandeln und nicht in einem Ableitungsverhältnis zu erfassen. Die Chronologie und das Beeinflussungsverhältnis werden dabei methodisch weitestgehend ausgeblendet. Stattdessen soll geschaut werden, welche Unterschiede sich durch die unterschiedlichen medialen Bedingungen ergeben, wenn dieselbe Geschichte in verschiedenen Medien erzählt wird, und wie das die Bedeutung der Geschichte notwendig verändert.

In der Regel werden Verfilmungen als intermediale Phänomene dargestellt, da bei dem Blick auf Verfilmungen gewöhnlich das Verhältnis zur Vorlage und die Entstehungsbedingung als Film, der auf einer Vorlage aufbaut, in den Blick genommen werden. Intermedialität bezeichnet schließlich nach Rajewsky sämtliche „Formen von Mediengrenzen überschreitende[n] Phänomene[n], die mindestens zwei konventionell als distinkt wahrgenommene Medien involvieren“ (Rajewsky 2002: 13 (Grafik); vgl. auch die ähnliche Definition in Wolf 2001: 284 und Wolf 2002a: 169), darunter Phänomene des Medienwechsels, wie Verfilmungen sie darstellen (vgl. ebd.: 15–19). Unter Transmedialität versteht Rajewsky „[m]edienunspezifische Phänomene, die in verschiedenen Medien mit den dem jeweiligen Medium eigenen Mitteln ausgetragen werden können, ohne daß hierbei die Annahme eines kontraktgebenden Ursprungsmediums wichtig oder möglich ist“ (Rajewsky 2002: 13 (Grafik), also z. B. Stoffkomplexe wie Mythen und Sagen oder Verfahren wie die Parodie (vgl. ebd.: 12f). Darauf, dass die Grenze zwischen beidem gar nicht immer so klar zu ziehen ist, wird noch zu sprechen zu kommen sein. Bei Verfilmungen ist die Angabe des Ursprungsmediums selbstverständlich möglich, sonst könnte man nicht von einer Verfilmung sprechen. Im Setting des transmedialen Unterrichts ist sie aber nicht wichtig bzw. wird eben sogar bewusst so weit wie möglich außer Acht gelassen.

Zwar wird damit angeschlossen an Konzeptionen des intermedialen Deutschunterrichts, demnach intermediale Phänomene sich besonders eignen, um Medialität und medial spezifische Ästhetik zu vermitteln (vgl. v. a. Bönnighausen 2013: 525; Wieser 2016: 96f), dieses Vorgehen aber noch einmal radikalisiert. Um den vorurteilsbehaftet-vergleichenden Blick gering zu halten, soll dabei vorgeschlagen werden, möglichst – ähnlich der Borges’schen „Unterlassungssünde“ – mit dem Film einzusteigen und bei der Gegenüberstellung von Filmszenen und Buchausschnitten stets den Film vor den Text zu stellen, das in der Regel immer noch übliche Vorgehen also umzukehren.

Für die Bestimmung medialer Unterschiede wird zum einen auf ein semiotisches Vorgehen zurückgegriffen und zum anderen werden narratologische Kategorien als medienkomparatistische Analysekategorien bzw. tertia comparationis ←14 | 15→herangezogen. Es handelt sich um an sich transmedial übertragbare Kategorien, die auf Buch und Film gemeinsam angewandt werden sollen, um zu zeigen, wie sie jeweils medienspezifisch konkret umgesetzt werden. Die genauen Kategorien sind freilich noch auszuarbeiten. Dass sich für einen Medienvergleich der Rekurs auf die unterschiedlichen semiotischen Codes anbietet, liegt auf der Hand, sodass für diese Arbeit ein semiotischer Zugriff gewählt wird. Gerade wenn es um ästhetische Bildung geht, sollte allerdings auch die phänomenale Wirkungsweise der entsprechenden Zeichen einbezogen werden. Gerade was die Narratologie betrifft, ist zu konstatieren, dass die neueren Arbeiten der transmedialen postklassischen Narratologie noch nicht in die literatur- und mediendidaktische Forschung zu Verfilmungen einbezogen worden sind. Vor allem, was die Ebene der Perspektive betrifft, tritt hier ein auffälliger Mangel zutage, worauf im Einzelnen noch einzugehen sein wird. In diesem Bereich werden vor allem die in der Didaktik bisher annähernd unbeachteten filmnarratologischen Studien der letzten Jahre als zentrale Referenztexte herangezogen: Heiß (2011), Kaul/ Palmier (2016) und vor allem die bereits als zum „Discours du récit du film“ (Schon 2017) erklärte Dissertation von Markus Kuhn (2013). Was die Semiotik betrifft, wird hingegen mit bereits klassischen Theoriewerken der strukturalistischen Filmsemiotik (Pasolini 1971, Eco 1972; Metz 1972) und den Zeichenklassen nach Peirce operiert, die bereits Maiwald (2015: 16–20) in den didaktischen Diskurs über Literaturverfilmungen eingebracht hat.8

Abschließend soll das Vorgehen noch beispielhaft an einzelnen Ausschnitten aus dem Film Rico, Oskar und die Tieferschatten (R: Neele Vollmar, ←15 | 16→2014) und dem Roman von Andreas Steinhöfel (2008) sowie dem Film Tschick (R: Fatih Akin, 2016) und dem Roman von Wolfgang Herrndorf (2010) dargestellt werden, wobei die transmediale Analyse gemäß des Vorgehens exemplifiziert, Unterrichtspraktisches sowie weitgehend überhaupt Didaktisches ausgespart wird.

Details

Seiten
278
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631877210
ISBN (ePUB)
9783631877227
ISBN (Hardcover)
9783631871331
DOI
10.3726/b19690
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Juni)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 278 S.

Biographische Angaben

Gerrit Althüser (Autor:in)

Gerrit Althüser, geb. 1986, studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie in Münster. Seit 2019 arbeitet er als Akademischer Rat am Germanistischen Institut der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Literatur- und Mediendidaktik, insbesondere der schulischen Filmvermittlung.

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Titel: Literaturverfilmung transmedial?