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Zur prinzipientheoretischen Begründung des positiven Rechts im Ausgang von Hans Kelsen und Immanuel Kant

von Christine Armbruster (Autor:in)
©2022 Monographie 334 Seiten

Zusammenfassung

Die jüngste Vergangenheit führte vor Augen, in welchem Ausmaß Gesetze, Verordnungen und Erlässe die persönliche Freiheit jedes Bürgers eines Staates einschränken können. Der vorliegende Band geht der Frage nach, ob das positive, gesetzte Recht unhinterfragt zu akzeptieren, oder ob eine Begründung des positiven Rechts zu fordern ist. Die Reine Rechtslehre des Mitgestalters der österreichischen Bundesverfassung Hans Kelsen und die Rechtslehre des Verfassers des Kategorischen Imperativs Immanuel Kant geben Antwort: Das positive, gesetzte Recht ist gemäß einem prinzipientheoretischen Ansatz zu begründen und kann sich mithin als Erkenntnisprodukt jedes einzelnen Bürgers präsentieren. Die Ergebnisse der Untersuchung eröffnen einen neuen Blick auf das positive Recht.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhalt
  • Zur Zitierweise
  • Einleitung
  • A Immanuel Kant, Hans Kelsen und die Rechtslehre
  • B Grundlagen für eine prinzipientheoretische Begründung des positiven Rechts
  • C Zum Aufbau der vorliegenden Untersuchung
  • Teil 1
  • 1 Vom endlichen Vernunftwesen, der Moral und dem positiven Recht
  • 1.1 Von der Moral-, Geschichts- und Rechtsphilosophie Immanuel Kants und von der Reine[n] Rechtslehre Hans Kelsens ‒ Ein Überblick
  • 1.1.1 Kant und das Vermächtnis der Metaphysik
  • 1.1.2 Warum Kant seine Rechtslehre „Metaphysik des Rechts“ nennt (AA VI, 205)
  • 1.1.3 Kontroversen rund um das Naturrecht in der „Metaphysik des Rechts“ (AA VI, 205)
  • 1.1.4 Wie die Geschichte in die Rechtslehre kam
  • 1.1.5 Der Kategorische Imperativ und sein juristischer Bruder ‒ das „allgemeine Rechtsgesetz“ (AA VI, 231)
  • 1.1.6 Zur Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Vereinigung des Kategorischen Imperativs und des „allgemeine[n] Rechtsgesetz[es]“ (AA VI, 231)
  • 1.2 Von der Reine[n] Rechtslehre Hans Kelsens und der Frage, ob sie diese Bezeichnung zurecht trägt
  • 1.2.1 Moralische Normen: Stiefkinder oder gleichwertige Mitglieder eines Rechtssystems?
  • 2 Hans Kelsens „diskursprägendste[s]“ Werk ‒ die Reine Rechtslehre (Jestaedt 2017, X)
  • 2.1 Von Hans Kelsen, den Ideologien und der Philosophie
  • 2.2 Hans Kelsens Rechtspositivismus: Seine Eckpunkte, sein Wandel
  • 2.2.1 Von Kausalität und Zurechnung ‒ vom Sein und Sollen ‒ vom Rechtssatz und der Rechtsnorm
  • 2.2.2 Vom Weg zum perfektionierten Theorieansatz
  • 2.3 Die Reine Rechtslehre diskursiv ‒ Kritiker und Befürworter
  • 2.3.1 Ist Kelsens Deutung des Rechts die Einzige? Zu Norbert Hoerster, Robert Alexy und H. L. A. Hart
  • 2.3.2 Christoph Kletzers Neuinterpretation der „Reine[n] Rechtslehre“ Kelsens (Kelsen 2017, 21)
  • 2.4 Zu den Begriffen „Regel“ und „Norm“ als Synonyme?
  • 2.4.1 Harts und Kelsens Antwort auf die Frage: Sind Regeln notwendige oder überflüssige Übel?
  • 2.5 Christoph Möllers und das Phänomen Norm: Formalisierung, Autorisierung, Verschriftlichung
  • 3 Vom Rechtsphilosophen Immanuel Kant
  • 3.1 Von der Kantischen Rechtslehre und ihren Quellen
  • 3.1.1 Von den politischen und rechtsphilosophischen Implikationen der Quellentexte und von der Rechtslehre Kants
  • 3.1.2 Von der Natur und der Freiheit in den Quellentexten der Rechtslehre und in der Rechtslehre selbst
  • 3.2 Immanuel Kants Rechtslehre und Hans Kelsens Reine Rechtslehre ‒ gegensätzliche oder komplementäre Ansätze?
  • 3.2.1 Zum allgemeinen und öffentlichen Gesetz ‒ zur Kompatibilität von Allgemeingültigkeit und Besonderheit
  • 3.2.2 Zur Bedeutung des Kategorischen Imperativs für die Entwicklung des endlichen Vernunftwesens und für das Gelingen eines Gemeinwesens
  • 3.3 Von der Urteilskraft in Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft und ihrem Stellenwert in der Rechtslehre
  • 3.4 Zu Christoph Horn und seiner „eigentümlichen Form von Normativität“ in Kants politischer Philosophie (Horn 2014, 9).
  • 3.5 Zu den komplementären und gegensätzlichen Leitideen in der Rechtslehre Immanuel Kants und der Reinen Rechtslehre Hans Kelsens
  • Teil 2
  • 4 Hans Kelsens Grundnormtheorie und Immanuel Kants Weg zur positiven Rechtsordnung mit Blick auf die Letztbegründung des positiven Rechts
  • 4.1 Die „Grundnorm“ aus der Sicht Hans Kelsens (Kelsen 2017, 346)
  • 4.2 Eine Betrachtung der Kelsenschen Lehre durch Agostino Carrino
  • 4.3 Stanley L. Paulson zur Frage: Kann die Reine Rechtslehre Hans Kelsens durch das „regulative Prinzip“ gerettet werden (Paulson 2014, 259)?
  • 4.3.1 Zu den transzendentalen Ideen der reinen Vernunft und ihrem „regulativen Gebrauch“ (KrV B 670/A 642)
  • 4.4 Ist Kelsens Lehre „eine unreine Rechtslehre“ (Carrino 1998, VIII)?
  • 4.5 Immanuel Kants langer Weg vom Sittengesetz zu einer positiven Rechtsordnung?
  • 5 Zur prinzipientheoretischen Begründung des positiven Rechts im Anschluss an die Rechtslehre Hans Kelsens und die Philosophie Immanuel Kants
  • 5.1 Die Grundnorm und ihr Begründungsdilemma: Zu Aristoteles’ „syllogistischen Figuren (σχἠματα)“ und dem Begründungsskeptizismus
  • 5.2 Robert Alexys und Norbert Hoersters Suche nach einem Ausweg aus dem Begründungsdilemma der Grundnorm Kelsens
  • 5.2.1 Grundzüge der Konzeption Alexys und deren Implikation auf die Interpretation der Grundnormtheorie Kelsens
  • 5.2.2 Hoersters Rechtspositivismus im Kontext mit Kants Rechtslehre und der Grundnormtheorie Kelsens
  • 5.3 Das Naturrecht: Ein potenzieller Lösungsansatz der Begründungsproblematik?
  • 5.4 Die Suche nach der Geltungsbegründung von Normen findet ihr Ende in einem Prinzip der besonderen Art
  • 5.5 Die Philosophie Immanuel Kants als Schlüssel zur Letztbegründung
  • 5.5.1 Kelsens Grundnorm: Ein konstitutives und regulatives Prinzip zugleich?
  • 5.5.2 Der „gemeinschaftliche Sinn“ ‒ seine Maximen ‒ die Suche nach der „allgemeinen Regel“ ‒ die Begründung des positiven Rechts (KU B 157/A 155‒B 159/A 157)
  • 6 Schlussbemerkung
  • Verzeichnis der Abbildungen
  • Literaturverzeichnis

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Zur Zitierweise

Ich zitiere entsprechend den Konventionen der Fachliteratur Immanuel Kant, Aristoteles und Platon wie folgt:

Immanuel Kant:

a) Die Kritik der reinen Vernunft, die Kritik der praktischen Vernunft einschließlich der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, und die Kritik der Urteilskraft werden nach der Ausgabe von Wilhelm Weischedel zitiert und die Seitenanzahlen der ersten (= A) und der zweiten (= B) Auflage ‒ so es zwei Auflagen gibt ‒ angegeben, z.B. B 670/A 642 = zweite Auflage, Seite 670.

Diesen Angaben werden die folgenden Siglen vorangestellt: GMS / Grundlegung, „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“; KpV, Kritik der praktischen Vernunft; KrV, Kritik der reinen Vernunft; KU, Kritik der Urteilskraft;

b) Die übrigen Schriften Kants werden nach der Akademie-Textausgabe (= AA), herausgegeben von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, zitiert, z.B. AA VI, 231 = Band VI der Akademieausgabe, Seite 231.

Wird im Text auf eine der Schriften ohne direktes oder indirektes Zitat Bezug genommen, kommen die folgenden Siglen zur Anwendung: Anfang, „Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“; Gemeinspruch, „Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“; Idee, „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“;

Aristoteles:

Aristoteles wird mit den sogenannten Bekker-Zahlen zitiert, welche die Seite, die Spalte und die Zeile in der Textausgabe von Bekker angeben, z.B. An. Pr. I 6, 28a17 = Analytica Priora, Buch I, Kapitel 6, Seite 28, Spalte a, Zeile 17. Die Zeilenangaben zu den Texten der beiden Aristotelischen Analytiken beziehen sich auf die deutsche Übersetzung des Originaltextes nach Hans Günter Zekl.

Bei den Aristotelischen Schriften kommen die folgenden Siglen zur Anwendung: An. Pr., Analytica Priora; An. Post., Analytica Posteriora; EN, Nikomachische Ethik (Ethica Nicomachea); Aristoteles, Met., Metaphysik;

Platon:

Platon wird nach der, auch heute noch üblichen, Ausgabe von Henricus Stephanus aus dem Jahr 1578 zitiert, welche die Seiten und Abschnitte des Textes angibt, z.B. Soph. 219c = Sophistes, Seite 219, Abschnitt c.

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Bei den Schriften Platons werden die folgenden Abkürzungen (Siglen) verwendet: Phaedr., Phaidros; Rep., Politeia; Soph., Sophistes; Theaet., Theaitetos;

Zitierweise der restlichen Literatur:

Die übrige Literatur zitiere ich nach der Harvard-Methode: Nachname des Autors, Erscheinungsjahr des Textes, Seitenanzahl, z.B. Kelsen 2017, 21.

Hervorhebungen

Um eine gute Lesbarkeit zu gewährleisten, werden Worte, welche in den Originaltexten gesperrt geschrieben wurden, kursiv gesetzt.

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Einleitung

A Immanuel Kant, Hans Kelsen und die Rechtslehre

Immanuel Kant beendete seine Lehrtätigkeit 1796, ein Jahr vor dem Erscheinen seiner „Rechtslehre“ als „erste[r] Theil der Metaphysik der Sitten“ (AA VI, 205). Er befasste sich jedoch bereits früh mit der Systematik einer Rechts- und Staatsphilosophie, nimmt sie doch ihren Ausgang von der „transzendentale[n] Dialektik“ und der daran geknüpften Thematisierung des „regulativen Gebrauch[s] der Ideen der reinen Vernunft“ in der Kritik der reinen Vernunft (KrV B 350/A 293f.; B 670/A 642). Unverkennbar ist auch der Einfluss der Moralphilosophie mit ihrem zentralen Element, dem „kategorische[n] Imperativ“, dem der „positive Begriff“ der Freiheit, d.h. die Autonomie, zugrunde liegt (s. Abschnitte 1.1.5; 3.1; 4.5) (GMS BA 52; BA 97f.). Folglich lautet das „Allgemeine Princip des Rechts. Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann“ (AA VI, 230).

Hans Kelsen, der „universale Rechtstheoretiker“ und Mitgestalter der österreichischen Bundesverfassung von 1920, wurde 1881 in Prag geboren und zählt neben Herbert Lionel Adolphus Hart (H. L. A. Hart) zu den bedeutendsten Rechtspositivisten des 20. Jahrhunderts (Jestaedt & Lepsius 2006, VIII; vgl. Dreier 2021, 7). Mit seiner Reine[n] Rechtslehre, der wohl „scharfsinnigsten und elaboriertesten“ Theorie des positiven Rechts, beschreitet er neue Wege des Rechtspositivismus, indem er dem „statischen Konzept des Gesetzespositivismus“ ein „dynamisches Prinzip“ in Form eines Rechtserzeugungsprozesses zur Seite stellt und damit das Recht in seiner „Eigengesetzlichkeit“ und „Autonomie“ als ein „sinnvolles Ganzes“ darzustellen sucht (Dreier 2021, 7; Kelsen 2017, 351; 143; Jestaedt & Lepsius 2006, XIIIf.; Kelsen 1923, VI). Es ist daher von geltendem Recht nur dann zu sprechen, wenn die Rechtsnormen in einem „positivrechtlich vorgesehenen Verfahren“ erzeugt werden, womit Kelsen einen „(Geltungs-)Positivismus“ vertritt, der sich dem „Gesetzes-, Subsumtions- und Anwendungspositivismus der Begriffsjurisprudenz“ entschieden entgegenstellt (Jestaedt & Lepsius 2006, XIV). Es verwundert daher nicht, dass Kelsen nicht nur Zustimmung und Anerkennung erntete, sondern sich auch mit massiven Anfeindungen konfrontiert sah, will er doch zusätzlich zu seiner geltungspositivistischen Konzeption die „Reine Rechtslehre“ als Theorie des positiven Rechts entwerfen, die im Sinne einer Rechtswissenschaft „nur eine auf das Recht gerichtete Erkenntnis“ sicherzustellen hat und als „‚reine‘ Lehre vom Recht“ von der Psychologie, ←13 | 14→der Soziologie, der Ethik und von politischen Theorien zu befreien ist (Kelsen 2017, 21; vgl. Kelsen 2008 [1934], 3f.; Dreier 2021, 18f.; Dreier 2019, 110‒113).

Dass sich die Vorwürfe gegen die Reine Rechtslehre als haltlos erweisen, wenn den Ausführungen Kelsens zum Thema „‚Reinheit‘“ gefolgt wird, die in knapper Weise darlegen, wie Kelsen eine „Reine Rechtslehre“ verstanden wissen will, wird wesentlicher Bestandteil dieser Abhandlung sein (Kelsen 2017, 21; vgl. Jestaedt & Lepsius 2006, XI‒XVII).

B Grundlagen für eine prinzipientheoretische Begründung des positiven Rechts

Die zentralen Fragen, welche die vorliegende Untersuchung zu beantworten beabsichtigt, sind: Ist eine prinzipientheoretische Begründung qua Letztbegründung des positiven, gesetzten Rechts im Anschluss an die Philosophie Kants und die Reine Rechtslehre Kelsens möglich? Besteht im Ausgang der Rechtslehre Kelsens und der Kantischen Rechts- und Moralphilosophie eine Unvereinbarkeit zwischen Rechtspositivismus und Rechts- und Moralphilosophie?

Kant und Kelsen eint, dass die „Erkenntnistheorie“ die Grundlage für die Rechtstheorie insofern liefert, als sie „die von der Rechtstheorie festgelegte Methode wissenschaftlicher Rechtserkenntnis“ ‒ in der Diktion Kelsens der „Rechtswissenschaft als Erkenntnis des Rechts“ ‒ determiniert (Eisfeld 2015, 3; Kelsen 2017, 143). Wie bei Kant muss auch bei Kelsen diese Erkenntnisstiftung als „bloße Form- oder Gesetzgebung“ aufgefasst werden, womit sie eines Inhalts entbehrt (Eisfeld 2015, 3). Aus diesem Grund betont Kelsen, dass die Erzeugung des Gegenstandes der Rechtswissenschaft „einen rein erkenntnistheoretischen Charakter [hat]“ und nicht mit der „Erzeugung von Gegenständen durch menschliche Arbeit oder [mit der] Erzeugung des Rechts durch die Rechtsautorität“ gleichzusetzen ist (Kelsen 2017, 143). Analog zu dieser Bestimmung Kelsens wählt Kant für die „Rechtslehre“, die ein „aus der Vernunft hervorgehendes System“ vorstellt, vorerst die Bezeichnung „Metaphysik des Rechts“, um sogleich zu erkennen, dass der „allein schickliche Ausdruck […] metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre“ lauten muss, ist doch der „Begriff des Rechts“ zwar ein „reiner“, aber doch „auf die Praxis […] gestellter Begriff“ (AA VI, 205). Mit diesen Festlegungen vollziehen beide, Kant und Kelsen, eine Trennung des Sollens vom Sein, d.h. der „Verstandeswelt“ von der „Sinnenwelt“, oder in anderen Worten der „Erkenntnis des Rechts“, die „ausschließlich aus dem denkenden Subjekt selbst stammt“, vom „positiven Recht“, das durch eine „Rechtsautorität“ erzeugt wird (GMS BA 107; Kelsen 2017, 143; 21; Eisfeld 2015, 141). Diese Dichotomie ist notwendig, um eine „wissenschaftliche Theoriebildung“ im Sinne einer ←14 | 15→apriorischen Erkenntnisstiftung des Rechts zu gewährleisten, deren „systematische[r] Ausgangspunkt“ außerhalb des empirischen Seins, außerhalb des positiven Rechts, liegen muss (Eisfeld 2015, 140). Sowohl der Kategorische Imperativ, der als „objektive[s] Prinzip“, als „synthetisch-praktischer Satz a priori“ präsentiert wird, als auch die „Grundnorm“, die nicht in einer positiven Rechtsordnung „‚enthalten‘“ ist, erfüllen diese Voraussetzung (GMS BA 52, Fußnote; BA 50f.; Kelsen 2017, 355, Fußnote). Mit der Beschreibung der „Rechtslehre“ als „eine[m] aus der Vernunft hervorgehende[n] System“, wie auch mit der Charakterisierung der „Rechtwissenschaft als Erkenntnis des Rechts“, die nicht nur ihren Gegenstand erzeugt, sondern auch als „sinnvolles Ganzes begreift“, verweisen Kant und Kelsen darauf, dass sie die Rechtslehre als autonome, eigengesetzliche Einheit verstanden wissen wollen (AA VI, 205; Kelsen 2017, 143). Wie Kelsen die „Theorie des positiven Rechts [Hervorhebung, C.A.]“ vom positiven Recht selbst scheidet, so lässt Kant keinen Zweifel aufkommen, dass das „Recht, was zum a priori entworfenen System gehört“, „wohl“ von der „empirische[n] Rechtspraxis“ zu differenzieren ist (Kelsen 2017, 21; AA VI, 205f.).

Einen bedeutsamen Gegensatz zwischen der Rechtslehre Kelsens und jener Kants gibt es doch: Während Kelsen unablässig eine strikte Trennung der Moral vom Recht aufrecht zu erhalten sucht, war eine derart strikte „Trennung von Recht und Moral oder von Recht und Gerechtigkeit […] dem historischen Kant noch ganz fremd“, weil für ihn „nur die reine (praktische) Vernunft als Gesetzgeberin gültigen Rechts in Betracht kommt“ (Eisfeld 2015, 69; vgl. Kelsen 2017, 11; 750). An die Stelle der Trennung von Recht und Moral treten daher bei Kant Abstufungen und Unterscheidungen zwischen der ethischen Selbstgesetzgebung (Sittengesetz), dem Vernunftrecht („allgemeine[s] Rechtsgesetz“) und den positiven Rechtsordnungen (AA VI, 231).

Die, der Reine[n] Rechtslehre Kelsens innewohnenden, methodologischen Schwierigkeiten können vermittels einer prinzipientheoretischen Begründung des, in dieser Lehre konzipierten, positiven Rechts überwunden werden. In diesem Fall ist jedoch in prinzipientheoretischer Absicht zuvorderst nach dem Grund der Kantischen Unterscheidung von ethischer Selbstgesetzgebung, Vernunftrecht und positiver Rechtsordnung, oder – positiv formuliert – nach einer Darlegung des Zusammenhangs von unbedingter Selbstgesetzgebung (Autonomie), universalem Vernunftrecht und den partikularen positiven Rechtsordnungen zu fragen. Als Ausblick auf die Beantwortung der Frage, ob das positive, gesetzte Recht im Anschluss an die Kantische Philosophie und anhand der „‚reine[n]‘ Lehre vom Recht“ Kelsens zu begründen ist, müssen an dieser Stelle die folgenden Anmerkungen genügen (Kelsen 2017, 21): Die Explikation des angesprochenen Zusammenhanges verlangt m.E. ‒ so widersinnig dies auch ←15 | 16→im Lichte des Kantischen Systembaus zunächst klingen mag ‒ die Formulierung eines Prinzips, das seinen Gegenstand regulativ konstituiert. Kelsen deutet mit der Feststellung, dass die Rechtswissenschaft als Erkenntnis des Rechts ‒ „im Sinne der Kantschen Erkenntnistheorie“ ‒ einen konstitutiven Charakter aufweist, indem sie ihren Gegenstand „‚erzeugt‘“ und zudem als „Ganzes begreift“ (Kelsen 2017, 143; vgl. Carrino 2011, 48, Fußnote), sowie mit der Bestimmung der Grundnorm als „transzendental-logische Bedingung“ für die Deutung des „subjektiven Sinn[s]“ eines Rechtsaktes als „objektive[r] Sinn“ an (Kelsen 2017, 360f.; vgl. Carrino 2011, 37), dass er die Grundnorm sowohl als konstitutives, wie auch als regulatives Prinzip konzipiert.

C Zum Aufbau der vorliegenden Untersuchung

Mit dieser Studie wird der Versuch unternommen, das positive Recht im Anschluss an Hans Kelsen und die Philosophie Kants zu begründen. Zu diesem Behuf ist es notwendig, nicht nur die Reine Rechtslehre in kritischer Weise zu beleuchten, sondern auch anhand anderer Schriften des Rechtswissenschaftlers den Wandel seines Denkens zu verdeutlichen. Nur dann wird es gelingen, die durchaus zwiespältigen Stellungnahmen Kelsens zur Kantischen, aber auch zur Neukantianischen Philosophie zu entschlüsseln. Im Sinne der Beurteilung, inwiefern Kelsens Interpretation dem Inhalt der Ausführungen Kants nahekommt, bedürfen auch die Werke Kants einer ausführlichen Erläuterung, wobei das Hauptaugenmerk auf die drei Kritiken und auf die Kantische Rechtsphilosophie zu legen ist.

Auch wenn im Zentrum der vorliegenden Arbeit die Rechtsphilosophie Kants und die Reine Rechtslehre Kelsens stehen, dürfen zeitgenössische Diskurse, welche die methodologischen Schwächen des Programms Kelsens aufgreifen und einer Lösung zuzuführen beabsichtigen, nicht fehlen, wobei vor allem die Rechtswissenschaftler und Rechtsphilosophen Robert Alexy, Agostino Carrino, Norbert Hoerster, Christoph Kletzer, und Stanley L. Paulson zu Wort kommen werden. Dass sich die Reine Rechtslehre Kelsens nicht nur nach der Veröffentlichung der ersten Auflage im Jahr 1934 mit Kritik, die nicht immer „rein wissenschaftlich motiviert“ war, konfrontiert sah, zeigt u.a. der im britischen Stil geführte Diskurs zwischen Kelsen und Hart (Dreier 2021, 36; vgl. Kelsen 2008, 5; Kletzer 2008, 445f.; 460; Jestaedt 2017, LXXXV‒XCI).

Es liegt auf der Hand, dass die Auswahl der Kritiker und Befürworter Kelsens ob der großen Fülle an Sekundärliteratur zur Reine[n] Rechtslehre keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann. Diesem Anspruch gerecht zu werden, strebt die vorliegende Studie auch gar nicht an, verfolgt sie doch nicht das ←16 | 17→Ziel, deskriptiv und im enzyklopädischen Sinn umfassend zu sein, sondern erkenntnistheoretisch an die Konzeption einer reinen Lehre vom Recht heranzutreten. An diesem erkenntnistheoretischen Anspruch, der sich eine philosophische Begründung des positiven Rechts zum Ziel gesetzt hat, und damit Rechtswissenschaft und Philosophie zu verknüpfen sucht, ist auch der wissenschaftliche Wert der präsentierten Arbeit zu bemessen.

Ob dieser Zielsetzung wird dem Teil 1 der Studie eine Skizze der Moral-, Geschichts- und Rechtsphilosophie Kants und der Reine[n] Rechtslehre Kelsens vorangestellt.

Kapitel eins beabsichtigt mithin, die vielfältigen Verschränkungen der Geschichts-, Moral- und Rechtsphilosophie Kants untereinander und mit der reinen Lehre des Rechts nach Kelsen zu verdeutlichen und die Grundlage für detaillierte Erörterungen der einzelnen Leitideen zu bereiten.

Die Kapitel zwei und drei vermitteln prima facie den ‒ der Intention der Untersuchung widerstreitenden ‒ Eindruck, dass die Lehren Kelsens und Kants unverbunden nebeneinanderstehen. Auf ihre zentralen Gemeinsamkeiten wird jedoch im Text durchgängig aufmerksam gemacht, beginnend mit dem Abschnitt 1.1. Eine klare Darstellung der Leitideen Kelsens und Kants erfordert jedoch zusätzlich eine getrennte Beschreibung derselben.

In diesem Sinne rückt Kapitel zwei den Rechtswissenschaftler Hans Kelsen ins Zentrum der Betrachtung und beleuchtet die Eckpunkte seiner Rechtslehre, sowie seine Positionierung zur Kantischen Philosophie. Als Ausblick auf weitere Diskurse kommen kritische Interpreten seiner Rechtswissenschaft ‒ namentlich Robert Alexy, Norbert Hoerster, H. L. A. Hart, und Christoph Kletzer ‒ zu Wort.

Kapitel drei geht vorerst auf die Suche nach den Quellen der Kantischen Rechtslehre und findet diese nicht nur in der Geschichts- und Moralphilosophie, sondern zudem in der dritten Kritik, der Kritik der Urteilkraft, die mit dem Gemeinsinn (sensus communis) den Schlüssel für die Vereinbarkeit von Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit des Sittengesetzes auf der einen Seite und Besonderheit und Kontingenz der positiven Rechtsordnungen auf der anderen Seite liefert. Auf Basis der Kapitel zwei und drei kann der Frage nachgegangen werden, ob die Rechtslehre Kants und Kelsens gegensätzliche oder komplementäre Ansätze liefert.

Teil 2 der Untersuchung stellt sich der eigentlichen Aufgabe der vorliegenden Studie, nämlich das positive Recht philosophisch zu begründen. Ehe im Kapitel fünf der prinzipientheoretischen Begründung des positiven Rechts im Anschluss an die Kantische Philosophie und die Reine Rechtslehre Kelsens auf den Grund gegangen wird, sucht das Kapitel vier ‒ mit Blick auf diese Begründung des positiven Rechts ‒ das zentrale Theorieelement der Reinen Rechtslehre Kelsens, die ←17 | 18→Grundnorm, diskursiv und auf Basis der Erkenntnislehre Kants darzustellen und als systematischer Ausgangspunkt für eine wissenschaftliche Theorie zu positionieren. In analoger Weise gilt auch in Ansehung der Philosophie Kants das Hauptaugenmerk dem Kategorischen Imperativ, der als ursprüngliches regulatives Prinzip die Kriterien für ein Letztbegründungsprinzip erfüllt und mithin für die prinzipientheoretische Begründung des positiven Rechts fruchtbar gemacht werden kann.

Details

Seiten
334
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631880036
ISBN (ePUB)
9783631882955
ISBN (MOBI)
9783631882962
ISBN (Hardcover)
9783631839331
DOI
10.3726/b19905
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Juni)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 334 S., 1 farb. Abb., 2 s/w Abb.

Biographische Angaben

Christine Armbruster (Autor:in)

Christine Armbruster, geb. 1956, studierte Medizin an der Universität Wien, habilitierte 2001 und lehrte als ao. Univ.Prof. im Fach Pulmologie an der Medizinische Universität Wien bis 2012. Die Auseinandersetzung mit Themen der Ethik und des Rechts war bereits für die medizinische Tätigkeit unverzichtbar und wird seit Beginn des Studiums der Philosophie an der Universität Wien bis zum jetzigen Zeitpunkt vertieft.

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