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Studien zum Bahā’ītum - Ethische Aspekte der Schrift

Band 1 - Grundlagen

by Udo Schaefer (Author)
©2022 Monographs 428 Pages

Summary

Udo Schaefers Studien zum Baha’ıtum - Ethische Aspekte der Schrift ist ein Versuch, die Baha’ıtum - Ethik systematisch darzustellen, ihre zugrundeliegenden Strukturen zu analysieren und ihre innere Architektur aufzuspüren. Der erste der beiden Bände, Grundlagen, enthält eine kurze Darstellung des Baha’ıtums, einen systematischen Überblick über seine Lehren, über den Ursprung und die Herkunft moralischer Werte. Die metaphysische Natur des Menschen und seine Verantwortlichkeit wird ebenso untersucht wie der Verstand und das Gewissen sowie die Freiheit und ihre Grenzen.

Table Of Contents

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort zur deutschen Ausgabe
  • Einleitung
  • Kapitel 1 Das Bahā’ītum – Ein Historischer Überblick
  • Kapitel 2 Die Lehren: Ein Systematischer Überblick
  • 1. Gott
  • 2. Schöpfung
  • 3. Offenbarung
  • 4. Die Boten, die „Manifestationen Gottes“
  • 5. Das Bahā’ītum und seine Beziehung zu den anderen Religionen
  • 6. Der Mensch
  • 7. Der Gottesbund
  • 8. Das Wort Gottes
  • 9. Die Wahrheitserkenntnis
  • 10. Das Böse, das Leid und die Theodizee
  • 11. Tod, Unsterblichkeit, Auferstehung und das Jenseits
  • 12. Riten, Gebete, Fasten, Meditation
  • 13. Bahā’u’llāh
  • 14. Die politische Dimension
  • 15. Die Einheit der Menschheit
  • 16. Eine globale Ordnung
  • 17. Der „Größte Friede“
  • Kapitel 3 Prolegomena Zur Bahā’ī-Ethik: Die Erneuerung der Moral
  • 1. Der Geist der Moderne und die Krise der Moral
  • 2. Woher eine neue Ethik?
  • 3. Das Ethos des interreligiösen Dialogs
  • 4. Eine neue Alternative
  • Kapitel 4 Exordium
  • 1. Die Schlüsselrolle der moralischen Orientierung in Bahā’u’llāhs Offenbarung
  • 2. Kategorien von Normen
  • a) Unterscheidungskriterien
  • b) Unterschiede in der Einführung, Entwicklung und im Wesen ethischer Normen
  • b1. Die Einführung von Normen
  • b2. Die Weiterentwicklung von Normen
  • b3. Der Zwangscharakter des Rechts
  • Kapitel 5 Ursprung, Herleitung und Theologische Begründung Moralischer Werte
  • 1. Der Ursprung moralischer Werte in Christentum und Islam
  • 2. Ethischer Voluntarismus im Bahā’ītum
  • 3. Zum Naturrecht
  • 4. Eine neue Dimension ethischen Denkens
  • 5. Das Gesetz Gottes: eine Manifestation Seiner Gnade und Barmherzigkeit
  • 6. Die Unfehlbarkeit der Manifestationen
  • 7. Die Authentizität des offenbarten Wortes
  • 8. Das Gesetz Gottes – eine Provokation?
  • 9. Die Quelle ethischer Erkenntnis
  • Kapitel 6 Die Metaphysische Natur des Menschen
  • 1. Die Natur des Menschen in Philosophie und Humanwissenschaften
  • 2. Bahā’u’llāhs Menschenbild und der Prozess der Vergeistigung
  • 3. Das „Selbst“ und das „Fleisch“
  • 4. Verzicht und Loslösung
  • 5. Die Schwäche des Menschen und göttlicher Beistand
  • 6. Bahā’u’llāhs Urteil über Askese
  • 7. Exkurs: Bahā’u’llāhs Urteil über den Hedonismus
  • Kapitel 7 Die Verantwortlichkeit des Menschen
  • 1. Die metaphysische Bedeutung menschlichen Handelns
  • 2. Guter Wille und reine Motive
  • a. Der gute Wille
  • b. Die Erkenntnis Gottes
  • c. Die Liebe zu Gott
  • d. Die Gottesfurcht (taqwā, khashiyyah)
  • e. Der Glaube an Gott und die Moral
  • f. Hierarchie der Motive
  • g. Gottesfurcht und Gehorsam gegenüber den „höheren Mächten“
  • 3. Freier Wille versus Determinismus
  • 4. Sünde, Reue und Vergebung
  • Kapitel 8 Bahā’ī-Epistemologie: Vernunft und Gewissen
  • 1. Vernunft
  • a) Zum Anspruch moralischer Autonomie
  • b) Die Grenzen der Vernunft
  • c) Die Vernunft in der Schrift Bahā’u’llāhs
  • d) Ein absoluter Maßstab für die Vernunft
  • e) Theonomie und Autonomie
  • 2. Das Gewissen
  • a) Das Gewissen im Christentum
  • b) Das Gewissen im Islam
  • c) Das „Gewissen“ in der Bahā’ī-Schrift
  • d) Das reine Herz und moralisches Urteil
  • e) Die beiden Bereiche der Erkenntnis
  • f) Das Gewissen – eine autonome, „kreative“ Instanz?
  • g) Gewissensfreiheit und die unabhängige Suche nach Wahrheit
  • h) Die Gewissensbildung – moralische Erziehung
  • i) Besondere Themen
  • Kapitel 9 Die Freiheit und Ihre Grenzen
  • 1. Der westliche Freiheitsbegriff
  • 2. Freiheit innerhalb der Grenzen des rechten Maßes
  • 3. Politische Freiheit
  • 4. Göttliches Gesetz und „wahre Freiheit“
  • Kapitel 10 Ausblick
  • 1. Grundlegende Strukturen
  • 2. Moralisches Handeln
  • 3. „Gesinnungsethik“ oder „Verantwortungsethik“?
  • 4. Merkmale der Bahā’ī-Ethik im Vergleich
  • a) Die Moralphilosophie Immanuel Kants und die Bahā’ī-Lehre
  • b) Islamische Ethik und die Bahā’ī-Lehren
  • Appendix
  • I. Was ist die „unabhängige Suche nach Wahrheit“?
  • II. Die Gewissensfreiheit und ihre Grenzen
  • III. Gewissensfreiheit versus staatliches Gesetz und Mehrheitsentscheidung
  • IV. Die Freiheit historischer Forschung
  • Bibliographie
  • Sachen
  • Namen

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Vorwort zur deutschen Ausgabe

Das vorliegende Werk ist im Jahr 2007 in englischer Sprache unter dem Titel „Bahā’ī Ethics in Light of Scripture. An Introduction. Volume 1. Doctrinal Fundamentals“ bei George Ronald Publisher Ltd, Oxford/England, erschienen. Nachdem der Verfasser, mein inzwischen verstorbener Mann, die deutsche Fassung des Werkes aus Altersgründen nicht mehr in Angriff nehmen konnte, habe ich dieses Werk nun übersetzt. Mein Anliegen war dabei, es dem Blickfeld des deutschsprachigen Diskurses zu öffnen. Unterstützt wurde ich hierbei von meiner Tochter Yasmin Mellinghoff und meinem Schwiegersohn Dr. Georg Mellinghoff, denen ich hierfür zu tiefem Dank verpflichtet bin.

Während im ersten Band die Grundlagen der Bahā‘ī-Ethik – wie zum Beispiel das Menschen- und Gottesbild –, die Herkunft ethischer Normen, die Rolle der Vernunft und das Freiheitsverständnis – dargestellt werden, geht es im zweiten Band um die einzelnen ethischen Normen, d. h. die Tugenden. Um Gemeinsamkeiten und Unterschiede deutlich zu machen, unterzog der Autor die jeweiligen Fragestellungen einem Vergleich mit den christlichen und islamischen Aussagen hierzu, aber auch mit wichtigen Strömungen der Philosophie.

Das Werk stellt den ersten Versuch einer systematischen Darstellung ethischer Fragestellungen aus Sicht des Bahā‘ītums dar. Nachdem der Autor in verschiedenen Publikationen und Vorträgen bereits seit Langem immer wieder Einzelaspekte der Ethik ausgeführt hatte, werden diese in dem vorliegenden Werk zusammengeführt und ergänzt.

Die seit der Erstveröffentlichung des Werkes erschienene, einschlägige Bahā’ī-Literatur ist insgesamt überschaubaren Umfangs.1

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1 Buck, Christopher, 50 Bahā’ī Principles of Unity: A Paradigm of Social Salvation, in: Bahā’ī Studies Review 18 (2012): 3–44 (published June 23, 2015)

Diessner, Rhett, Understanding the Beauty Appreciation Trait. Empirical Research on Seeking the Beauty in all Things, 2020

Kluge, Ian, Review of Udo Schaefer’s „Bahā’ī Ethics, in: Light of Scripture“ in Journal of Bahā’ī Studies, vol. 25, no. 1-2 (2015)

Kluge, Ian, „The Bahā’ī Writings“: A Meta-ethical Excursion https://bahai-library.com/kluge_ethics_philosophical_survey” in: Lights of Irfan http://bahai-library.com/lights_irfan_15, 15 (2014)

Kluge, Ian, „Ethics Based on Science Alone?“ in: Studies in Bahā’ī Philosophy, Volume 4, 2015

Kluge, Ian, „Good Without God?“ presented at Association of Bahā’ī Studies in Irvine, California, August 15 – 18, 2013

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Einleitung

Es besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen dem, wie der Mensch ist und wie er sein sollte oder sein könnte, wenn er nur sein wahres Sein und seine wahre Bestimmung erkennen würde. Die Ethik ist die Disziplin, durch die der Mensch erkennen kann, wie er vom ersten zum zweiten Zustand gelangen kann.

Der Begriff „Ethik“ leitet sich ab vom griechischen ta ethika, das, was zum éthos gehört, zur Sitte, zum Charakter. Man spricht auch von „Moralphilosophie“ nach der lateinischen Wurzel mos, moris, was Sitte oder Verhalten bedeutet. Befasst man sich mit einer Ethik, die auf einer offenbarten Religion basiert, kann man sie als „Moraltheologie“ bezeichnen, ein Begriff, der im Katholizismus gebraucht wird.

Ethik ist praktische Philosophie, die akademische Disziplin, die sich mit der Moral befasst. Zur Ethik gehören Bereiche wie Verhaltensvorschriften, moralisches Urteil, Charakter und Verhalten (insoweit diese Gebiete auf allgemeinen Prinzipien beruhen, also auf der rationalen Erklärung der meta-ethischen Grundlage der Moral) und letztlich die Diskussion ethischer Prinzipien und Werte selbst und die Begründung ihrer letzten Gültigkeit.

Religiöse Ethik1 hat ihre Grundlage in den heiligen Texten der Religion, das heißt in der Offenbarung, des verbindlichen Bezugsrahmens für die moralische Orientierung. Im Gegensatz hierzu steht die philosophische Ethik mit ihrer logischen und methodischen Unabhängigkeit von jeglicher Offenbarung. Die Ethik ist keine positive, sondern eine normative Disziplin, ein weites und komplexes Feld, wie die folgenden Themengruppen zeigen werden.

Die erste Gruppe bezieht sich auf die a-priori-Strukturen des moralischen Subjekts (d. h. des Menschen), auf anthropologische Annahmen und metaphysische Ziele. Sie befasst sich mit dem Menschenbild: der Freiheit, der moralischen Verantwortlichkeit und der Würde des Menschen. Dieses Ziel ist in der Frage enthalten: Was ist der Mensch? Was ist der Sinn des Lebens? Worin besteht das Beste im menschlichen Verhalten, und welche Sanktionen gibt es?

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Die zweite Gruppe bezieht sich auf den Ursprung, auf die Ableitung und Begründung moralischer Werte und konzentriert sich auf Fragen wie: Was ist der letzte Maßstab für richtig oder falsch? Worin begründet sich die grundsätzliche Qualität ethischer Forderungen, die unbedingte Natur des Sollens? Gibt es universal anerkannte Werte, unbedingte Normen, moralische Prinzipien von Gut und Böse, von Richtig und Falsch? Wenn das so ist, woher kommen sie, wie werden sie erkannt, und warum sollten sie für mich bindend sein?

Ein wesentlicher Teil der Ethik ist den konkreten Normen gewidmet, den Werten und Pflichten. Die Ethik versucht, Antwort auf die Fragen zu finden: Was soll ich tun? Wie sollte der Mensch leben, um glücklich zu werden? Was ist Tugend? Was motiviert zu gutem Verhalten?

Offenbarungsethik, die die Forderungen der Ethik als Ausdruck des göttlichen Willens ansieht, wirft einige zusätzliche Fragen auf, wie die Beziehung zwischen Vernunft und Offenbarung, die Konzepte von Freiheit und Gesetz, von Freiheit und Gehorsam, die Tugenden und ihre Beziehung zu den konkreten göttlichen Geboten. Zu dem Katalog der Tugenden und Laster und zu Aristoteles‘ Konzept des „Irrtums“ muss das Konzept der „Sünde“ hinzugefügt werden.

Die Religion braucht „die Macht des Denkens“.2 Das vorliegende Werk stellt einen Versuch dar, die zugrunde liegenden Strukturen und die innere Architektur des Bahā’ī-Moralsystems im Sinne der oben aufgeführten Themen zu erkennen und zu analysieren. Es ist ein erster Schritt, eine Bahā’ī-Moraltheologie zu entwickeln, deren Ziel es ist, systematisch über Moral (d. h. das Gute und Böse im Menschen und in seinen Handlungen) im Kontext der Offenbarung nachzudenken. Da die Bahā’ī-Ethik theonom ist3, ist diese Reflexion ein integraler Bestandteil von „Theologie“4. Gott hat einst den „Propheten“5 die Tafeln der Moral offenbart, damit die Aufrichtigen „dem Bunde Gottes die Treue halten, Gottes Pfand durch ihr Leben einlösen und im Reiche des Geistes den Edelstein6 göttlicher Tugend erlangen“.7

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Der vorliegende Text sollte nicht als ein Versuch missverstanden werden, die vielseitigen moralischen Forderungen der Bahā’ī-Schrift in das Prokrustesbett eines theologischen Systems zu pressen. Der Autor ist sich dessen bewusst, dass Ethik nicht den natürlichen Forderungen der Vernunft8 nach einer geordneten, systematischen Darstellung und dem verständlichen Wunsch des Lesers genügen kann, das ganze Bild zu sehen und zu verstehen, was in seiner offenbarten Form scheinbar einer Ordnung entbehrt. Aristoteles, „das ewig unerreichte Beispiel beschreibender Ethik“,9 schrieb, dass „jede Theorie der Sittlichkeit nur allgemeine Umrisse liefern und nichts mit unbedingter Bestimmtheit vortragen darf“10.

Das trifft erst recht zu, wenn man sich mit den ethischen Prinzipien befasst, die in den offenbarten Texten vorhanden und nicht leicht zu erkennen sind. Tatsächlich sind alle Versuche einer Klassifizierung oder Kategorisierung der verwirrenden Vielfalt normativer Äußerungen in der Bahā’ī-Schrift letztlich zum Scheitern verurteilt. Rationale Ideen vollziehen sich in einem systematischen Prozess, während suprarationale Fragen nicht more geometrico klassifiziert werden können11, d. h. in strikt logischer Erkenntnis. Jeder Versuch, alle ihre Elemente in ein geordnetes, geschlossenes System einzupassen, das nichts auslässt, ←15 | 16→wird bald seine Grenzen erreichen. „Die echte Wahrheit schließt sich niemals zum System“12. Der unerlässliche Prozess der Systematisierung einer Offenbarung birgt immer die Gefahr des Reduktionismus. Wie kann der vergängliche Verstand jemals die ewige Natur offenbarter Wahrheit begreifen?13 Deus semper maior.14 Wir können nur eine deskriptive und analytische Annäherung vornehmen und versuchen, die grundlegenden Funktionen dieser theonomen Ethik schärfer darzustellen.

„Viele Wege führen nach Rom“, sagt das Sprichwort. So muss man zugeben, dass jeder Versuch, sich dem ethischen System, das der Offenbarung Bahā’u’llāhs zugrunde liegt, zu nähern, in dem Maße verschieden sein wird, wie die Menschen sich in ihrer Denkweise unterscheiden. Ein weites Spektrum verschiedener Annäherungen wird allmählich die Grundzüge und Strukturen der Bahā’ī-Ethik entschleiern. Einige Schritte wurden auf diesem Gebiet bereits unternommen. Ihsan Halabi hat einen kurzen sehr substanzreichen Essay über Bahā’ī-Ethik veröffentlicht.15 Völlig anders in seiner Annäherung ist William S. Hatchers Buch über eine „authentische Sittlichkeit“.16 Eine erste Dissertation über Bahā’ī-Ethik wurde kürzlich von einer Religionsgelehrten, Fiona Missaghian-Moghaddam17, veröffentlicht.

Ethik und Recht sind normative akademische Disziplinen, die – wie die Philosophie des Naturrechts zeigt –, eng miteinander verbunden sind. Sie basieren auf den gleichen philosophischen Voraussetzungen. Als Jurist habe ich mich, wenn ich die Bahā’ī-Lehre studiert habe, immer besonders für ethische Fragen interessiert. Viele meiner Publikationen befassen sich mit Normen und Werten, ←16 | 17→mit Themen der Individual- und Sozialethik.18 Der Kollaps der traditionellen Moral, der Zerfall der Wertesystem und die Notwendigkeit einer globalen Ethik waren das Thema eines in einem Journal veröffentlichten Artikels.19 Der Entwurf der grundlegenden Strukturen der Bahā’ī-Ethik erschien in meinem Artikel „The New Morality“.20 Einen anderen Beitrag zu demselben Thema trug ich auf einem internationalen Interreligiösen Kongress vor, der von der theologischen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg 2000 veranstaltet wurde.21 Mein Essay Ethische Aspekte des Rauchens 22 galt der Bahā’ī-Ethik und befasste sich mit dem Rauchen. Bahā’u’llāhs Konzept der Freiheit war Thema eines anderen Essays.23 Eine Studie über die Beziehung zwischen Gerechtigkeit und Liebe wurde von der Association d‘Études Bahā’īes francophones veröffentlicht.24

In der Frühzeit der Geschichte dieser neuen Religion kann das Ergebnis einer solchen Studie – ein Beitrag zum Beginn eines theologischen Diskurses – nur vorläufig sein, insbesondere da die heiligen Texte, in diesem Fall die Schrift Bahā’u’llāhs und des Bāb, den westlichen Lesern zum größten Teil noch nicht zugänglich sind. Der Kanon der authentischen Texte ist noch nicht vollständig, viele Texte harren noch der Übersetzung. Darüber hinaus ist akademische Forschung auf dem Feld der Bahā’ī-Theologie kaum möglich ohne Zugang zu den Originalschriften, d. h. ohne Kenntnis des Arabischen und des Persischen, der Sprachen, in denen diese Texte offenbart wurden. In normativen Wissenszweigen muss die Forschung auf korrekte und exakte Begriffe gestützt sein, sonst werden Abweichungen und Schlussfolgerungen falsch sein, in die Irre führen, und alle Ergebnisse werden auf Sand gebaut sein. Eine präzise Terminologie kann nur erreicht werden, wenn die Analyse auf dem Originaltext beruht. Übersetzungen, selbst solche von höchster Qualität, können nicht immer die genaue ←17 | 18→Bedeutung und das volle Spektrum der Konnotationen erfassen.25 Der Orientalist Izutsu weist auf die große Gefahr hin, „unbewußt zu fehlerhaften Theorien über die Natur der Moral [zu gelangen], indem die übersetzten Konzepte manipuliert werden und nicht versucht wird, die originalen Konzepte wissenschaftlich und rigoros zu analysieren“26.

Daher leidet der Autor an dem gravierenden Handicap – besonders bei diesem gegenwärtigen Werk –, dass er weder Arabisch noch Persisch spricht bzw. liest, wenn er auch im Laufe der Zeit mit dem grundlegenden Vokabular der arabischen Begriffe bekannt geworden ist, deren Kenntnis unentbehrlich war. Daher bin ich Dr. Ihsan Halabi zu Dank für die zahlreichen Einsichten in die philosophischen und theologischen Folgerungen vieler arabischer Begriffe verpflichtet, auch Dr. Soroush Shahidinejad für die Klärung einiger Grundbegriffe, und vor allem Dr. Armin Eschraghi, der mir jederzeit half, arabische und persische Begriffe zu klären. Gelegentlich versorgte er mich auch mit der wörtlichen Übersetzung einer Formulierung aus dem Originaltext, und ich konnte mit ihm auch die daraus resultierenden Probleme diskutieren. Ohne seine freundliche Unterstützung, nur auf die englischen Übersetzungen vertrauend, hätte ich wesentliche Zusammenhänge nicht erkannt.

Angesichts der Komplexität, der Schwierigkeit und des Umfangs des zu untersuchenden Themas wäre es verwunderlich, wenn der kritische Leser nicht gelegentlich einem Fehler oder Widerspruch in meinen Ausführungen begegnen würde. Nicht alle meine Ansichten und Schlussfolgerungen werden allgemeine Zustimmung finden. Ich halte das aber nicht für schlimm. Im Laufe der Zeit wird alles diskutiert und die Wahrheit wird zutage treten. ‘Abdu’l-Bahās Aussage, „der zündende Funke der Wahrheit erscheint erst nach dem Zusammenprall verschiedener Meinungen“27 gilt nicht nur für die Beratung von Gremien, sondern auch für den akademischen Diskurs, wo korrekte Gedanken bestätigt ←18 | 19→und falsche aufgedeckt werden. Die Wahrheit tritt durch einen niemals endenden Prozess demütiger Diskussion und Gedankenaustauschs zutage.

Auch hoffe ich, dass der erste Versuch, eine Einführung in die Bahā’ī-Ethik vorzulegen, von akademischen Spezialisten mit Nachsicht behandelt werden wird. Ich bin Jurist, und meine Kenntnisse auf dem Feld der Philosophie und Theologie sind autodidaktisch erworben. Daher bin ich mir dessen bewusst, dass mein Wissen fragmentarisch ist.

Das vorliegende Werk entstand aus einer Reihe von Artikeln, die ursprünglich für eine Enzyklopädie geschrieben wurden, die noch nicht erschienen ist. Diese Artikel wurden völlig überarbeitet, der größere Teil davon umgeschrieben, größere Teile beibehalten und zusammengefasst. Obwohl einer dieser Artikel sich nicht direkt mit dem Inhalt dieses Buches befasst, das eine systematische Übersicht über die Bahā’ī-Lehre gibt, ist dieser als Kapitel 2 hinzugefügt worden, sodass der unvorbereitete Leser mit dem breiteren theologischen Kontext bekannt gemacht wird, in die die Bahā’ī-Ethik eingebettet ist. Aus demselben Grund wurde am Anfang des Buches eine kurze historische Übersicht verfasst. Eine revidierte Version meines Artikels „Ethics for a Global Society“28, die die derzeitige Krise der Moral beschreibt, findet sich hier in Kapitel 3.

Wenn man sich um Klarheit bemüht, sollte man Redundanzen vermeiden. Ich habe mich darum bemüht. Wenn man sich allerdings mit einem so komplexen Thema wie die Ethik befasst, ist es unvermeidlich, dass Gedanken, die man früher ausgeführt hat, noch einmal erscheinen und bereits gebrachte Zitate in einem anderen Kontext wiederholt werden. Bei einer so großen Zahl von Zitaten ist dies notwendig, da man vom Leser nicht erwarten kann, dass er sich immer an sie erinnert. In jeder systematischen Übersicht über die Lehren Bahā’u’llāhs muss man über viele Themen sprechen, die in einem späteren Kapitel behandelt werden, z. B. die Unsterblichkeit der Seele, die kurz in Kapitel 2 besprochen, in einem späteren, nämlich in Kapitel 7, zur Untermauerung der Ethik jedoch umfangreicher ausgeführt wird.

Darüber hinaus mag sich der Leser über den Grund für die Vielzahl von Zitaten aus dem Bahā’ī-Schrifttum wundern. Abgesehen von der Tatsache, dass nicht alle Leser Zugang zu diesen Texten haben, ist es meine Absicht, die ethischen Bahā’ī-Prinzipien „im Licht der Schrift“ und nicht nur meine eigenen Gedanken darüber zu verbreiten29, vor allem da das Buch auch als Leitfaden zur Vertiefung ←19 | 20→der Bahā’ī in ihren Glauben gedacht ist, um sich mit dem geistigen Erbe der Menschheit auf diesem Gebiet vertraut zu machen, besonders mit der Fülle und Tiefe der Morallehren Bahā’u’llāhs.

Was die vielen Verweise auf philosophische und theologische Werke und Zitate daraus angeht, so ist es nicht meine Absicht, die Ansichten der Philosophen oder Lehrpositionen der Kirchen zu kritisieren, sondern vielmehr die Ergebnisse meiner Recherche dadurch zu erhellen, dass ich auf die Analogien, Unterschiede und Widersprüche in der philosophischen und theologischen Literatur hinweise. Ich hoffe, dass hierdurch die Positionen der Bahā’ī-Ethik leichter verstanden werden. Die moralischen Theorien der bedeutendsten Moralphilosophen, Aristoteles und Immanuel Kant, die auf der Vernunft gründen, und die offenbarte Ethik, die hier besprochen wird, sind fundamental verschieden in ihren meta-ethischen Voraussetzungen. Trotzdem sind eine Reihe verblüffender Analogien leicht zu erkennen. Daher wurden so viele Zitate aus ihren Werken aufgenommen.

Ich habe auch häufig aus Thomas von Aquins Summa theologiae zitiert, da er aus seiner christlichen Perspektive das Wesen und die innere Struktur der Tugenden wie auch ihre Beziehung und ihre Position in der Moralordnung in unvergleichlicher Weise analysierte. Seine Resultate sind für jeden, der versucht, die Prinzipien der Tugend von einem Bahā’ī-Standpunkt aus zu analysieren, erhellend. Darüber hinaus habe ich gelegentlich aus der päpstlichen Enzyklika Veritatis Splendor zitiert, die mir trotz fundamentaler theologischer Unterschiede bewusst machte, wie viele Wahrheiten Christen und Bahā’ī gemeinsam sind, wie viel geistiges Erbe der Menschheit in Vergessenheit geraten ist und wie viele Perlen der Wahrheit und Weisheit auf ihre Wiederentdeckung warten. Wie es in der „Deklaration des Parlamentes der Weltreligionen“ heißt, ist die Einheit der Religionen nirgends sichtbarer als in den „uralte[n] Richtlinien für menschliches Verhalten, die in den Lehren der Religionen der Welt gefunden werden“, in dem „minimalen Grundkonsens bezüglich verbindlicher Werte, unverrückbarer Maßstäbe und moralischer Grundhaltungen“.30 Man kann diese transzendentale Einheit nicht besser demonstrieren, als häufig aus den Schriften der Weltreligionen zu zitieren.

Es gibt verschiedene Gründe, warum ich häufig lateinische Sätze und Zitate angeführt habe, bei denen sich einige Leser, die des Lateinischen nicht mächtig ←20 | 21→sind, unbehaglich fühlen mögen. Erstens vermitteln sie Authentizität. Zweitens ist der Gebrauch des Lateinischen ein integraler Bestandteil der Tradition und Literatur auf dem Gebiet von Ethik, Recht und Theologie, besonders für Gelehrte, an die dieses Buch sich auch wendet. Wer diese Literatur kennt und mit den lateinischen Quellen vertraut ist, soll dieser grundlegenden Textinformationen nicht beraubt sein. Der Leser wird feststellen, dass die lateinischen Zitate übersetzt wurden. Und zuletzt hat meine eigene wissenschaftliche Tradition sowohl in der Theologie als auch im Recht mir eine bleibende Liebe für die lateinische Sprache nicht nur um ihrer selbst willen verschafft, sondern auch wegen der fundamentalen Rolle, die sie für die Bereicherung des Vokabulars vieler moderner europäischer Sprachen spielt. …

Ich hatte das Glück und die Möglichkeit, bei der Erstellung dieser Einführung schwierige Punkte mit Nancy Ackermann, Ulrich Gollmer, Dr. Armin Eschraghi, Gerald C. Keil und Dr. Emanuel Towfigh diskutieren zu können. Diese Beratungen zeitigten viele Einsichten, für die ich sehr dankbar bin.

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1 In der zeitgenössischen Philosophie diskutiert als „Göttliche Gebotsmoral“. Ich beziehe mich auf Helm, Divine Commands and Morality; Quinn, Divine Commands and Moral Requirements, und auf die Anthologie von Idziak, Divine Command Morality: Historical and Contemporary Readings. Die bedeutendsten mittelalterlichen Denker der Offenbarungsethik waren im Judentum Moses Maimonides, im Christentum Thomas von Aquin und im Islam al-Ghazālī und Ibn Rushd [Averroes].

2 Bahā’u’llāh, Botschaften 6:41; Kitāb-i-Īqān 267; ‘Abdu’l-Bahā, Ansprachen 2:6; 17:11

3 Siehe unten, Kap. 5, Fn. 28

4 Das Studium der „Rede von Gott“, das Studium der Göttlichkeit, eine der Bedeutungen des islamischen „kalām“ (siehe Shorter Encyclopaedia of Islam, S. 210ff). Zum Begriff der „Bahā’ī-Theologie“ siehe meine Ausführungen in Heilsgeschichte und Paradigmenwechsel, S. IX; McLean, Revisioning the Sacred. Zu den etablierten Begriffen aus früheren Perioden der Religionsgeschichte siehe Schaefer, Towfigh und Gollmer, Desinformation als Methode, Appendix.

5 Bahā’u’llāh, Die Verborgenen Worte, Einleitung

6 Das arabische jawhar hat auch die Bedeutung von „inneres Wesen, Quintessenz“.

7 Bahā’u’llāh, Die Verborgenen Worte, Einleitung

8 Kant meint, da wir „es vielleicht dereinst bis zur Einsicht der Einheit des ganzen reinen Vernunftvermögens bringen, und alles aus einem Prinzip ableiten können; welches das unvermeidliche Bedürfnis der menschlichen Vernunft ist, die nur in einer vollständig systematischen Einheit ihrer Erkenntnisse völlige Zufriedenheit findet“ (Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Drittes Hauptstück, „Kritische Beleuchtung der Analytik der reinen praktischen Vernunft“), S. 104ff.

9 Bollnow, Wesen und Wandel der Tugenden, S. 27

10 Nikomachische Ethik II, 2 (1104 a (1-5)). Die ganze Passage lautet: „… daß jede Theorie der Sittlichkeit nur allgemeine Umrisse liefern und nichts mit unbedingter Bestimmtheit vortragen darf. Darum haben wir ja auch gleich eingangs bemerkt, daß die Anforderungen an eine Erörterung sich je nach dem Stoff richten müssen. Was aber dem Bereich des sittlichen Handelns und des im Leben Nützlichen angehört, hat nichts an sich, was ein für alle Mal feststände, so wenig als das Gesunde. Und wenn das schon für die allgemeinen Regeln gilt, so lässt das Einzelne und Konkrete noch weniger genaue und absolut gültige Vorschriften zu, da es unter keine Kunst und keine Lehrüberlieferung fällt. Hier muss vielmehr der Handelnde selbst wissen, was dem gegebenen Fall entspricht, wie dies auch in der Heilkunst und in der Steuermannskunst geschieht“ (siehe auch ibid. 1094 (11-27)).

11 Die philosophische, didaktische Methode beginnt mit Definitionen, Vorschlägen und Axiomen, wie sie René Descartes in seiner Principia philosophiae (1644) und Benedikt von Spinoza in Ethica more geometrico (1677) entwickelt haben.

12 Bollnow, Wesen und Wandel der Tugenden, S. 201

13 In Sieben Täler offenbarte Bahā’u’llāh: „Denn einige stützen sich allein auf die Vernunft und leugnen, was von ihr nicht erfasst wird, obwohl außer der Göttlichen, Höchsten Vernunft nie die schwache Vernunft die eben geschilderten Dinge zu begreifen imstande ist: Wie kann die schwache Vernunft den Qur’ān begreifen oder die Spinne einen Phönix im Netz erjagen?“ („Tal des Staunens“, S. 51; siehe auch Bahā’ullāh, Ährenlese 89:3)

14 Augustinus, Auslegung der Psalmen LXII, 16 [„Gott ist immer größer“], was mit dem islamischen Allāhu akbar identisch ist.

15 Halabi, „Ethische Aspekte des Aqdas“, in: Aspekte des Kitāb-i-Aqdas. Schriftenreihe der Gesellschaft für Bahā’ī-Studien, Bd. 2, Hofheim: Bahā’ī-Verlag, 1995, S. 275– 302

16 Hatcher, Love, Power and Justice

17 „Die Verbindlichkeitsbegründung der Bahā’ī-Ethik: Ihr theologischer Hintergrund im Schrifttum Bahā’u’llāhs unter besonderer Berücksichtigung des Kitāb-i-Aqdas“ (Diss.), Frankfurt/M., Peter Lang Verlag, 2001

18 Siehe Schaefer, The Light Shinesth in Darkness, S. 32, 42ff., 81ff., 171ff., 209ff., 222ff.

19 Schaefer, „Ethics for a Global Society“, in: Bahā’ī Studies Review, Bd. 4, Nr. 1 (1994), S. 47ff.

20 Schaefer, „The New Morality: An Outline“, in: Bahā’ī Studies Review, Bd. 5 (1995), S. 360ff.

21 Schaefer, „Verantwortliches Leben aus dem Glauben. Sittlichkeit, Menschenbild und Erziehung im Schrifttum Bahā’u’llāhs“, in: Lähnemann, Spiritualität und ethische Erziehung. Erbe und Herausforderung der Religionen. Referate und Ergebnisse des Nürnberger Forums 2000, Hamburg 2001

22 Das emotional belastete Thema Rauchen wurde als Versuch gewählt, um gewisse Aspekte der Bahā’ī-Ethik darzulegen.

23 Schaefer, Die Freiheit und ihre Schranken

24 Schaefer, Justice ou miséricorde?

25 Zum Beispiel: Der Rechtsbegriff zinā’ umfasst jeden vor- und außerehelichen Geschlechtsverkehr. Die Übersetzung mit „Ehebruch“ ist reduktionistisch, da dieser Begriff nur einen bestimmten Fall von zinā’ bedeutet (siehe Bahā’u’llāh, Kitāb-i-Aqdas, Erl. 77 und 36). In einer Übersicht der Gesetze und Gebote (wie in Inhaltsübersicht und systematische Darstellung der Gesetze und Gebote des Kitāb-i-Aqdas D (1) (y) (xv)) oder in einer nichtakademischen Wiedergabe mag diese Unterscheidung vernachlässigbar sein. Als Ausgangspunkt für eine Analyse der Bahā’ī-Sexualmoral kann dies jedoch irreführend sein.

26 Izutsu, Ethico-Religious Concepts in the Quran, S. 5

27 ‘Abdu’l-Bahā, Briefe und Botschaften 44

28 Schaefer, „Ethics for a Global Society“, in: Bahā´ī Studies Review, Bd. 4, Nr. 1 (1994), S. 47ff.

29 Shoghi Effendis Rat folgend, den Glauben „anderen in seiner reinen Form“ (Principles of Bahā’ī Administration, S. 11) zu lehren, indem man „aus den Schriften Bahā’u’llāhs zitiert, um einen Punkt darzulegen“ (Brief an einen Gläubigen vom 18. Juli 1952, in ibid. S. 25)

30 Zitiert in Küng/Kuschel, Erklärung zum Weltethos, S. 16, 20

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Kapitel 1 Das Bahā’ītum – Ein Historischer Überblick

Nach seiner eigenen Interpretation ist das Bahā’ītum Gottes Botschaft an die Menschheit. Die Bahā’ī1 glauben, dass genau zu der Zeit, als die Philosophen2 Gott für tot erklärten, „der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs“3 durch seine Boten Bāb und Bahā’u’llāh aufs Neue zur Menschheit sprach. Erstanden aus den messianischen Erwartungen des Islam4, ist das Bahā’ītum keine islamische Sekte5, sondern eine unabhängige prophetische Religion mit einer neuen Zentralgestalt und einem neuen heiligen Buch. Sie ist die jüngste Offenbarungsreligion und wird von den Gelehrten der Vergleichenden Religionswissenschaft6 zunehmend als Weltreligion klassifiziert. Während der 150 Jahre ihres Bestehens hat sie sich über fast sämtliche Länder der Welt ausgebreitet und ist geographisch gesehen die am weitesten verbreitete Religion nach dem Christentum.7

Die Wiege dieses Glaubens ist der Iran im 19. Jahrhundert. Im Jahr 1844 nach christlicher Zeitrechnung (das Jahr 1260 der Hedschra) verkündete in der Stadt ←23 | 24→Schiras ein 25-jähriger Kaufmann namens Muammad ‘Alī, ein Nachkomme des Propheten Muammad, die lang erwartete eschatologische Gestalt des Mahdi8 zu sein, dessen Erscheinen das Kommen der verheißenen „Stunde“, der „Jüngste Tag“ sei. ‘Alī Muammad, der den geistigen Titel „der Bāb“9 (das „Tor“) annahm, gewann rasch eine begeisterte Gefolgschaft. Die öffentliche Verkündung seiner Botschaft hatte jedoch auch die gnadenlose Opposition der orthodoxen Schia-Geistlichen zur Folge und durch ihr Betreiben die der staatlichen Behörden. Der Anspruch des Bāb, der verheißene Mahdi10 zu sein, und die Offenbarung eines neuen Buches mit einem neuen göttlichen Gesetz, das das des Qurʾān ablöst, war mit einer zentralen Lehre der islamischen Orthodoxie unvereinbar, nämlich der Endgültigkeit der Offenbarung des Propheten Muammad, und wurde als Bedrohung der Grundlagen des Islam angesehen.

Der Bāb wurde an abgelegenen Orten eingekerkert. Seine Anhänger, die Bābī, betrachtete man als Apostaten (murtaddūn). Sie erlebten zunehmend Angriffe durch den Mob und Verfolgung durch den Staat. Im ganzen Land häuften sich Gewalttaten und blutige Massaker, die die Mullahs angezettelt hatten. Mehrere tausend Anhänger des Bāb wurden Opfer dieser Greueltaten. Nachdem der Bāb durch zwei Fatwas mit der Begründung der Apostasie zum Tode verurteilt worden war, wurde er am 9. Juli 1850 auf dem Kasernenhof von Täbris hingerichtet.

Obgleich er sich als unabhängigen Boten Gottes in einer Linie mit Moses, Jesus und Muammad sah, betrachtete er seine religiöse Mission doch als eine rein vorübergehende. Seine Mission war nur die eines Heroldes für das Kommen eines anderen Propheten, des Man Yuhiruhu’llāh („Ihn, den Gott manifest machen wird“), des verheißenen Retters der Welt, ←24 | 25→auf den alle Religionen warten.11 Die Bahā’ī identifizieren diese Figur mit Bahā’u’llāh.12 Geboren 1817 als Sohn eines Ministers, war er 1844 ein Anhänger des Bāb geworden. Unter der Handvoll Bābī-Führer, die den Massakern von 1848-1853 entkamen, war er eine herausragende Figur. Nach dem Anschlag auf das Leben des Schah durch zwei junge Bābī im Sommer 1853 wurde Bahā’u’llāh festgenommen und in einem unterirdischen Gefängnis in Teheran eingekerkert, dem Sīyāh-Chāl („das schwarze Loch“). Unter den unmenschlichen Bedingungen in diesem Kerker erhielt Bahā’u’llāh seinen mystischen Ruf zum Propheten.13 Obwohl es keinerlei Beweise gab, dass er an dem Mordversuch beteiligt war, wurde er zu lebenslanger Haft verurteilt. Nach vier Monaten wurde die Strafe jedoch dank der Intervention des russischen Botschafters in eine Verbannung umgewandelt. Er lehnte das russische Asylangebot ab, und wählte für sich und seine Familie Baghdād als Exil, wo er die entmutigte Gruppe von Bābī-Anhängern um sich scharte.

Sehr schnell wurde er das geistige Zentrum und die führende Persönlichkeit der neuen Religion. Die iranische Regierung, die das Wiederaufleben der Bābī-Bewegung fürchtete, verfolgte die wachsende Prominenz Bahā’u’llāhs mit Missvergnügen. Als Ergebnis des iranischen Drucks auf die osmanische Regierung, Bahā’u’llāh von den Grenzen in das Innere des Reiches zu verbringen, wurde Bahā’u’llāh 1863 von Sulān ‘Abdu’l-‘Azīz weiter nach Istanbul verbannt und von dort einige Monate später nach Edirne. Am Vorabend seiner Abreise nach Istanbul offenbarte er sich einigen wenigen seiner Gefährten als der Verheißene aller Religionen, den der Bāb angekündigt hatte. Wiederum auf Betreiben des persischen Gesandten wurde Bahā’u’llāh 1868 schließlich weiterverbannt – dieses ←25 | 26→Mal zu einem noch weit entfernteren Ort, der türkischen Strafkolonie ‘Akkā im Heiligen Land, damals eine Provinz von Syrien.

Details

Pages
428
Year
2022
ISBN (PDF)
9783631879344
ISBN (ePUB)
9783631879351
ISBN (MOBI)
9783631879368
ISBN (Hardcover)
9783631874196
DOI
10.3726/b19806
Language
German
Publication date
2022 (July)
Published
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 428 S.

Biographical notes

Udo Schaefer (Author)

Udo Schaefer, geb. 1926 in Heidelberg, studierte an der Ruperto Carola Musikwissenschaften, Latein und Rechtswissenschaften. 1957 promovierte er im Kirchenrecht. Er war im Staatsdienst des Landes Baden-Württemberg tätig, zuletzt als Oberstaatsanwalt in Heidelberg. Verstorben 2019.

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Title: Studien zum Bahā’ītum - Ethische Aspekte der Schrift