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Tagungsband der «Asiatischen Germanistentagung 2016 in Seoul» – Band 2

Germanistik in Zeiten des großen Wandels – Tradition, Identität, Orientierung

von Seong-Kyun Oh (Band-Herausgeber:in)
©2022 Konferenzband 376 Seiten

Zusammenfassung

Dieser Band dokumentiert Beiträge der Asiatischen Germanistentagung in Seoul (2016). Sie behandeln die grundlegendsten und drängendsten Fragen der Kultur- und Geisteswissenschaften aus germanistischer Perspektive: Der rasante technologische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Wandel erzeugt neue Erscheinungsformen des Weltlichen. Damit einher gehen veränderte Befindlichkeiten des Gegenwartsmenschen, auf die auch die Germanistik reagiert. Die einzelnen Beiträge des Bandes umspannen das gesamte Spektrum der Germanistik und reflektieren grundlegende humanwissenschaftliche Begriffe von Zeit, Raum und Mensch und versuchen diese neu zu erfassen. Ebenso thematisiert werden sich wandelnde Formen und Praktiken des Ästhetischen, der Kognition und der Kommunikation. Viele Themen aktueller Diskurse werden dabei aufgegriffen: Verhältnis von Tier, Mensch und Maschine, Globalisierung und Flüchtlingsmigration, soziale Spaltung, Gender, Digitalisierung, Neue Medien, sprachlicher Wandel u.v.a.m. Die Beitragenden vereint dabei das Ringen um gültige Antworten auf die wohl brennendste Frage dieser Zeit: Wie gelingt der Paradigmenwechsel vom neoliberalistischen Paradigma einer destruktiven individualistischen Konkurrenz zum gemeinschaftsorientierten Paradigma kreativer Kollaborativität?

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhaltsübersicht
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • Sektionsthemen und Referate
  • Alte und neue Form von Literatur, Kunst und Ästhetik
  • Analyse des literarischen Textes durch Kohäsionsmittel – am Beispiel von Effis Benennung in Theodor Fontanes Roman Effi Briest (Liying Liang (Shanghai))
  • Funktionen und Rollen der Lyrik in einem erzählten Text – am Beispiel des Romans Anton Reiser (Yonsuk Chae (Kyungpook))
  • Die leitmotivische Funktion des Geräusch-Motivs in Thomas Manns Der Zauberberg (Sakie Sakamoto (Nagasaki))
  • Theaterdisziplin und Aufklärung mit Idylle: Das Schäfer Fest oder die Herbstfreude von Caroline Neuber (Ekiko Kobayashi (Hiroshima))
  • Translation und kreatives Schreiben bei W. G. Sebald (Mi-Hyun Ahn (Mokpo))
  • Medienwandel
  • Chinabilder und Bilder von Chinesen in deutschen Spielfilmen – Eine Analyse anhand von drei Spielfilmen (Haixia Zhou (Beijing))
  • Das „innere Japan“. Die Einverleibung und Inszenierung fremder Kultur im Roman und Film der Gegenwart (Tanja Rudtke (Seoul))
  • „Der müde Tod“ – Film von Fritz Lang und Thea von Harbou (Frank Grünert (Seoul))
  • Technikkultur und Risiko (Kyunghee Kim (Seoul))
  • Visuelle Wende in der politischen Kommunikation (Detelina Metz (Sofia))
  • ,Vernetzung‘ im Lesen. Zu einer Formalität und Medialität der Fragmente bei Friedrich Schlegel (Takuto Nito (Fukuoka))
  • Urformen der Aura: Karl Bloßfeldts Pflanzenphotographien und Walter Benjamins Medienästhetik (Young-Ryong Kim (Seoul))
  • Freie Themen
  • Comic kann auch seriös. Journalistische Comic-Erzählung am Beispiel von Guy Delisles Pjöngjang (Hyun Sook Shin (Seoul))
  • Das Alte Ägypten und seine geheimnisvolle, mystische Kultur in der gegenwärtigen deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur zwischen Tradition und Kontinuität (Reem El-Ghandour (Kairo))
  • Grimms Sterntaler im Licht der daoistischen Philosophie (Liping Wang (Beijing))
  • Interkulturelle Bildung als Innovationspotential? Perspektiven der Interkulturellen Germanistik (Gesine Lenore Schiewer (Bayreuth))
  • Demokratisierung des Lesens und die linksgerichteten Buchgemeinschaften (Ken-ich Takeoka (Kagoshima))
  • Ein multiperspektivischer Blick auf den Traum der Herzeloyde in Wolframs von Eschenbach Parzival (Benjamin van Well (Beijing))
  • Sondersektion: Wissenschaftlicher Nachwuchs
  • Hybridisierung der deutschen Literaturgeschichtsschreibung und der japanischen Nationalliteratur. Zur Wissenschaftsgeschichtsforschung der Geschichte der japanischen Litteratur von Karl Florenz (Daisuke Baba (Tokyo))
  • Wozu noch literarischer Kanon: Ein kritischer Überblick mit einem Beispiel zu Kafkas Rezeption in Korea (Jin Hwan Kim (Seoul))
  • Bewegte Räume: Zum Verhältnis zwischen realen und fiktionalen Räumen (Marlen Stöhr (Groningen))
  • Der Wandel der Theorie der Komik und die Werke Karl Valentins (Takanobu Settsu (Yamagata))
  • Literatur im Umbruch. Heinrich von Kleists Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten im Spannungsfeld zwischen Wissen und Nicht-Wissen (Seon-Yeong Shin (Seoul))
  • Phantastische Kinder- und Jugendliteratur im deutschsprachigen Raum und das Motiv des Bösen – am Beispiel von James Krüss’ Timm Thaler und Nele (Bona Park (Seoul))
  • Beheimatet und heimatlos? Zum Thema Heimat in Uwe Johnsons Jahrestage (Yuko Nishio (Chiba))
  • Leibliche Anthropologie bei Robert Musil und im asiatischen Film (Elisa Meyer (Wien)   333Anhang Tagungsablauf 349 Organisationskomitee  351 Teilnehmerliste  355 )
  • Anhang
  • Tagungsablauf
  • Organisationskomitee
  • Teilnehmerliste
  • Reihenübersicht

Einleitung

Gegenwärtig findet angesichts der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise weltweit ein großes Umdenken statt, das sich nicht zuletzt auch im Motto des Weltwirtschaftsforums in Davos im Januar 2012 niedergeschlagen hat. Dieser ‘große Wandel’, der längst auch die Wissenschaft erfasst hat, äußert sich in dem Bestreben, das durch den Neoliberalismus zugespitzte Paradigma individualistischer Konkurrenz durch das Paradigma gemeinschaftsorientierter kreativer Kollaborativität zu ersetzen. Damit – wie auch angesichts anderer grundlegender Veränderungen im neuen Jahrtausend – wächst den Geisteswissenschaften eine zentrale Rolle zu, die sie vor neue Herausforderungen stellt.

Doch anders als angesichts des angekündigten Paradigmenwechsels und der zahlreichen Herausforderungen zu erwarten stünde, erlebt gerade die Germanistik eine beständige Schwächung ihrer Existenzgrundlage – und dies trotz der gewachsenen internationalen Bedeutung Deutschlands.

Wir, die Germanisten weltweit, sind also aufgefordert, Antworten zu finden auf die drängende Frage danach, wie wir dieser paradoxen Situation begegnen können und sollen. Die Asiatische Germanistentagung 2016 in Seoul widmet sich mit ihrem Leitthema genau dieser Frage. Es wird darauf ankommen, die Grundthemen der Humanwissenschaften gemäß den Forderungen der Zeit zu rekontextualisieren und der Germanistik eine neue Orientierung zu geben. Die Aufgabe der Tagung besteht somit darin, die Grundthemen der Geisteswissenschaften auf der Basis eines neuen, dem ‘großen Wandel’ Rechnung tragenden Denkens zu entfalten und ihnen damit eine vitale Aktualität zu verleihen.

Im Rahmen dieser Perspektivierung schlagen wir folgende Einzelthemen vor, die an konkreten Beispielen zu beleuchten wären. Der ‘große Wandel’ lässt Raum für viele unterschiedliche und komplexe Fragestellungen. Zum einen sollten die traditionellen Koordinaten menschlicher Welterfassung, nämlich Zeit, Raum und Mensch neu beleuchtet werden. Zeit und Raum sind sowohl eine Bedingung der menschlichen Existenz als auch ein Produkt des kulturellen Handelns und bestimmen so unsere Wahrnehmungsstruktur wie auch unsere Verhaltensweisen. Leitende Fragestellungen dabei könnten sein: Können wir die Konzepte von natürlicher Zeit und Kulturzeit in den verschiedenen Wissensdisziplinen weiter wie bisher untersuchen? Können wir im digitalen Zeitalter noch von einer allgemein-anthropologischen Konstante der Erfahrung, des Erlebens und des Bewusstwerdens von Zeit sprechen? Müssen wir uns heute das Zeitgerüst anders als in Zeiten linearen Denkens vorstellen? Können die raumbezogenen Ansätze in der Literaturwissenschaft, nämlich die semiotische Annäherung an die räumlichen Ansätze der Sprache und der Textstruktur, die Studien zur Geopolitik der Literatur, zur Literaturgeographie ←13 | 14→oder zur Geopoetik usw. die Tendenzen der neuen Raumforschung aufnehmen? Und welche semantische Erweiterung erlebt das Raumkonzept seit der Globalisierung oder angesichts der weltweiten Flüchtlingsbewegungen? Indem wir diese Fragen zu beantworten versuchen, werfen wir zugleich Fragen nach dem Menschen, seinem Körper, Verhalten und Empfinden auf, die nach wie vor die kardinalen Themen der Geisteswissenschaften darstellen. Das Interesse an der Beziehung von Mensch und Tier dehnt sich auf Vorstellungen des Posthumanen aus, die Mensch, Tier und Maschine zusammensehen und eine interdisziplinäre Zusammenarbeit erfordern. Ein großes Thema bleibt ebenfalls der Komplex von Körper und Seele, und zwar sowohl philosophisch und ethisch als auch kognitionswissenschaftlich sowie unter genderspezifischen Gesichtspunkten betrachtet.

Andererseits spiegelt unsere Themenliste aber auch den aktuellen Stand verschiedener anderer Diskurse wider, die den oben genannten Themenkomplexen in keiner Weise nachstehen sollen. Sie umfasst solche Themen wie den Wandel der Kunst und Wissensformen, den Medial Turn, den Sprachwandel und den Wandel in der Didaktik. Die Entwicklung digitaler Technologien brachte einen großen medialen Wandel mit sich, und die neuen Medien verändern die Formen der Kunst und auch der ästhetischen Wahrnehmung. In Bezug auf die neue Technik hat der Kulturbetrieb auch die Rolle des Künstlers und Wissenschaftlers deutlich verändert. Angesichts dieser Lage werden Fragen aufgeworfen wie die, inwiefern Binärcode und Algorithmen die alte Kunst ersetzen, wie in dieser neuen Kunst Kreativität entsteht und was sie bedeutet. Ferner, ob Kunst bzw. Literatur noch weiter die kritische Funktion innenhaben können, die lange als ihre Aufgabe erachtet wurde. Angesichts des Medial Turn ist es weiterhin nötig, uns in Bezug auf die neue mediale Umgebung mit neuen, aktuellen Tendenzen zu beschäftigen. Denn der mediale Wandel stellt uns ständig neue Themen bereit, wie die Verknüpfung von Medientheorie und Literatur, kulturelle Phänomene wie Webcomics und Social Media, die Verwischung der Grenze zwischen Fiktion und Realität, Demokratisierung der Kultur, Narrative bzw. Storytelling in Digitalmedien.

Einen weiteren Schwerpunkt bilden linguistische Phänomene in Bezug auf den Sprachwandel und die damit verbundene Didaktik des DaF-Unterrichts im digitalen Zeitalter. Aller Sprachgebrauch unterliegt einer permanenten Veränderung. Gerade der interaktionale, informelle Sprachgebrauch ist dabei ein wichtiger Auslöser für Sprachwandel. Bei der Vermittlung des Deutschen als Fremdsprache wird allerdings zumeist eine Grammatik gewählt, die sich an der Norm der konzeptionell schriftlichen, eher formellen Sprache orientiert. In den letzten Jahren ist im Bereich der Didaktik des Deutsch-als-Fremdsprache-Unterrichts eine Diskussion um das Anliegen entstanden, den Fokus weg von der Konzentration auf die formale, grammatische Korrektheit schriftlicher und mündlicher Äußerungen hin auf die soziale und interaktionale Dimension ←14 | 15→von Sprache und Kommunikation zu verschieben. Dabei spiegelt die Fremdsprachendidaktik letztendlich die Refokussierung wider, die bereits zuvor in der Linguistik vollzogen wurde, als man seit den 60er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts verstärkt die pragmatischen, handlungsbezogenen und interaktionalen Komponenten authentischen Sprechens und Schreibens in den Blick nahm. Wie spiegelt sich der Gesellschaftswandel im Sprachwandel wider? Wie lässt sich authentische schriftliche und mündliche Alltagssprache im DaF-Unterricht thematisieren?

Angesichts dieser grob umrissenen Lage soll die Konferenz dazu beitragen, Erfahrungen und bisherige Ergebnisse aus den vielfältigen Themenbereichen auszutauschen und neue Konzepte für die künftige Lehre und Forschung zu entwickeln.

Oh, Seong-Kyun

Vorsitzender der Asiatischen Germanistentagung 2016 Seoul ←15 | 16→

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Analyse des literarischen Textes durch Kohäsionsmittel – am Beispiel von Effis Benennung in Theodor Fontanes Roman Effi Briest

Liying Liang (Shanghai)

1. Einleitung

In den letzten zehn Jahren wird in China der deutsche Roman Effi Briest vor allem aus sozialer, psychischer und literaturtheoretischer Perspektive analysiert: zum Beispiel aus textexterner Sozialpolitik (LIU Min, 1995: GU Yu, 2003), aus psychischer Perspektive (MA Zhonghong, 2007; WANG Yefei, 2010) usw. Obwohl darin auch linguistische Probleme untersucht wurden, gibt es momentan noch kaum wissenschaftliche Arbeiten aus linguistischer Perspektive. In der „Analyse des literarischen Textes mit linguistischen Mitteln spielt sich in gewissem Maße eine Weise der modernen Linguistik“.1

Diese Arbeit versucht, mithilfe der textlinguistischen Kohäsionstheorie die Benennungen in Effi Briest zu interpretieren – mit dem Schwerpunkt der Textkohäsion bzw. -kohärenz. Die Textkohärenz wird durch die literarische Sprache selbst hergestellt und eine wichtige Methode liegt in der Kohäsion der Sprache, weil Kohäsion eine wichtige Voraussetzung von Kohärenz darstellt. Deshalb ist die Untersuchung der Kohäsionsmittel enge verbunden mit der Textkohärenz.

In der Arbeit wird die Benennung der Protagonistin Effi als Untersuchungsobjekt angesehen, die Kohäsionsmitteln im literarischen Kontext statisch analysiert und die inneren Bedeutungen der Benennungswörter untersucht, damit ihre sprechenden Funktionen und deren Zusammenhänge mit dem Schicksal der Protagonisten bzw. des literarischen Textes dargestellt werden können.

2. Thematik des Romans Effi Briest

Der Roman Effi Briest ist ein Roman, der vom deutschen Schriftsteller Theodor Fontane (1819–1898) geschrieben wurde und als sein Alters- und bedeutendstes Werk gilt. Der Roman wurde von Oktober 1894 bis März 1895 zuerst ←19 | 20→in der Deutschen Rundschau als Serie publiziert und im Oktober 1895 als Buch veröffentlicht, das 1905 bereits die 16. Auflage2 erlebte.

Der ganze Roman gliedert sich in 36 Kapitel und die deutsche Version zählt 290 Seiten.3 In Bezug auf die Erzählperspektive ist der Roman nicht aus der Ich- oder Personal-Perspektive, sondern von einem Erzähler aus der Perspektive einer dritten Person erzählt. Es ist eine Erzähler-Erzählung mit einer „auktorialen/allwissenden Perspektive“.4 In der Tat ist solche Erzähler-Erzählung eine klassische Erzählweise, die aus der Außenperspektive einen Überblick über Zeit und Raum des Romans gibt.

Der Roman entwickelt sich zumeist chronologisch. In manchen Teilen wird die Handlung jedoch prospektiv oder retrospektiv erzählt. Die erzählte Zeit beträgt 12 Jahre. Manche Teile werden genau beschrieben, wie z. B. Effis Verlobung, Hochzeit und Leben in Kessin. Dieses deckt eineinhalb Jahre und beträgt circa zwei Drittel des Romans. Daneben umfasst das sechsjährige Eheleben in Berlin ungefähr 50 Seiten und die letzte Zeit in Effis Leben vom Duell über die Scheidung bis zum Ende ihres Lebens rund 30 Seiten.

In 36 Kapiteln wird das Leben Effis vom kindlichen Mädchen bis zum frühen Tod erzählt. Die 36 Kapitel des Romans beinhalten die drei wichtigen Zeitperioden in Effis Leben, nämlich die erste vor der Heirat (Kapitel 1 bis 5), die zweite nach der Heirat (Kapitel 6 bis 31) und die dritte Zeitperiode nach der Scheidung (Kapitel 32 bis 36).

3. Statische Analyse der Kohäsionsmittel

Im Rahmen der drei Zeitperioden werden die Kohäsionsmittel von Effis Benennungen innerhalb der Kapitel und zwischen den Kapiteln analysiert, mit dem Schwerpunkt auf Rekurrenz, Paraphrase und Pro-Formen. Rekurrenz bezieht sich auf die materielle Wiederholung im Text durch ein anderes Element, einschließlich wörtlicher Wiederholung; sie ist eine häufige Kunstform in der Literatur.5 Paraphrasen bezeichnen die inhaltliche Wiederholung durch ←20 | 21→Änderung der Ausdrucksmittel, z. B. Synonym.6, und Pro-Formen beziehen sich auf Personalpronomen, Possessivpronomen, Demonstrativpronomen usw.

Diese drei Kohäsionsmittel werden in jedem Kapitel konkret analysiert und mit jeweils einer Abkürzung versehen: R steht für Rekurrenz, Rp für Paraphrase7 und P für Pro-Formen. Die Statistik betrachtet die Änderung von Effis Benennungen in jedem Kapitel bzw. im gesamten Roman.

Im Allgemeinen werden die Pro-Formen in diesem Roman am meisten benutzt. Durchschnittlich kommen sie in jedem Kapitel 28-mal, Rekurrenz und Paraphrase dagegen jeweils 19-mal und 11-mal vor. Durch Rekurrenz wird Effi referenziert und ihre Wichtigkeit betont. Pro-Formen können die Inhalte verdeutlichen und eine Textkohäsion bilden. Obwohl Paraphrasen relativ wenig vorkommen, ist diese Ausdrucksweise am reichsten bzw. literarischsten und verdient eine weitere semantische Untersuchung.

Es ist bemerkenswert, dass in Kapiteln 24 und 32 eine große Menge dieser drei Kohäsionsmittel existieren, nämlich R, Rp und P, die jeweils 45-, 18-, 98-mal und 39-, 35-, 75-mal auftreten. Im Kapitel 28 gibt es am wenigsten, nur jeweils 1-, 0-, 0-mal. Im Kapitel 20 kommen R und P sehr häufig vor, jeweils 32- und 57-mal. Andere Kapitel mit vielen Kohäsionsmitteln sind die Kapitel 9, 13, 20 und 23. Andere Kapitel mit wenigen Kohäsionsmitteln sind Kapitel 26, 27, 29 und 33. Im Zusammenhang mit dem Kontext ist im Folgenden die Verteilung der Kohäsionsmittel zu interpretieren:

Der Grund für die offensichtliche Zunahme von Kohäsionsmitteln im Kapitel 9 liegt darin, dass Effi im neuen Haus in Kessin einen Albtraum erleidet, im Kapitel 13, dass Effi zum ersten Mal den Namen Crampas hört, was ihre Begeisterung auslöst, im Kapitel 20, dass sich Effi und Crampas im dunklen Wald küssen, was einerseits ihre emotionale Begeisterung und andererseits ihre Ehekrise anzeigt. In dem Kapitel 23 kann Effi endlich Kessin verlassen und in Berlin eine neue Wohnung suchen. Die große Anzahl von Kohäsionsmitteln demonstriert die mögliche neue Zukunft.

Die Abnahme der Kohäsionsmittel in den Kapiteln 26 bis 29 ist bedingt durch die alleinige Erzählperspektive von Innstetten, da Effi nicht anwesend ist.

Am wenigsten Kohäsionsmittel sind im Kapitel 28 anzutreffen. Darin liefern sich Innstetten und Crampas ein Duell, während Effi abwesend ist. Im Kapitel 33 sieht Effi ihre Tochter wieder, was aber nur zu ihrer Verzweiflung führt. Die offenbare Abnahme der Kohäsionsmittel zeigt den kritischen Tiefpunkt in Ehe und Leben Effi Briests. Stirbt Effi im letzten Kapitel, gelangen Anzahl und Verhältnis der Kohäsionsmittel an einen neutralen bzw. ausgeglichenen Punkt, nicht zu viel, nicht zu wenig, ein Lebenskreis ist geschlossen.←21 | 22→

4. Analyse der Zusammenhänge zwischen Benennungswörter und Schicksal

Im vorigen Abschnitt sind die drei Hauptkohäsionsmittel vor allem statisch analysiert worden. Im Folgenden werden die bedeutendsten Benennungswörter im Kontext analysiert, damit die Zusammenhänge zwischen den Benennungen und dem personalen Schicksal kohäsiv dargestellt werden können.

Um die Zuverlässigkeit der Wortbedeutungen zu garantieren, werden vor allem die zwei deutschen Großwörterbüchern benutzt, nämlich WAHRIG Deutsches Wörterbuch8 und Duden Wörterbuch9. Um eine vollständige Interpretation zu erreichen, werden in der Untersuchung das traditionelle Wörterbuch und das elektronische Wörterbuch absichtlich kombiniert.

4.1 Kind der Jugend

Im ersten Kapitel deutet die Paraphrase die „Kleine“ (8) auf die Jugend von Effi. Es wird darauf hingewiesen, dass Effi mit 17 Jahren zu jung für die Heirat ist. Das bildet mit „junge Braut“ (35) und „halbes Kind“ (38) im 5. Kapitel eine Kohäsion. Ähnliche kohäsive Benennungen treten im 17. Kapitel auf. Nennt sich Effi „ich Kindskopf“ (134), zeigt sie, dass sie sich als naives Kind sieht. Damit steht sie in Widerspruch zu ihrem nüchternen Ehemann. Wegen dieses großen Unterschieds erweist sich ihre Ehe von Anfang an als eine kritische.

4.2 Phantasie der Prinzessin

Effi ist eine süße Prinzessin. Im ersten Kapitel wird sie als „Aschenpuddel“ (17) und „Prinzessin“ (17) bezeichnet. Die zwei Wörter stammen aus Grimm-Märchen. Aschenpuddel oder Aschenputtel ist eine Märchenfigur und bezieht sich auf ein Mädchen, das für niedrige Küchen- und Haushalt zuständig ist.10 Hier wird mittels Märchenelemente gezeigt, dass Effis Leben einem Märchen gleicht, märchenhaft, aber nicht realistisch ist. Wenn Märchen zur Wirklichkeit werden, führt das Schicksal sie häufig an ein trauriges Ende. Das Benennungswort Prinzessin bedeutet neben dem aristokratischen Titel noch ←22 | 23→eine übermäßig empfindliche Person. Das weist offensichtlich auf eine innere Eigenschaft von Effi, die eine übermäßig empfindliche Person ist, was eine unvermeidliche Wirkung auf ihre Ehe haben wird.

Dabei ist Effi auch eine „phantastische kleine Person“ (30). Ihre unklaren Gedanken stehen außerhalb der Wirklichkeit, was mit Aschenpuddel im ersten Kapitel einen kohäsiven Zusammenhang bildet. Obwohl die Phantasie wunderschön ist, wird sie am Ende zerstört. Das deutet die Zerbrechlichkeit von Effis märchenhafter Ehe an, die der Wirklichkeit nicht standhält.

4.3 Unsicherheit des Schwebens

Im ersten Kapitel wird Effi noch „Tochter der Luft“ (8) genannt. Luft hat neben der bekannten Bedeutung auch die von freiem und unerwartetem Raum und Spielplatz, von Treiben und Freiheit. Effi wird so genannt, weil sie sich nach Freiheit, Schaukel und Abenteuer sehnt. Deshalb ähnelt ihr Schicksal auch der Luft – schwebend und ruhelos. Die zu rasche Verlobung mit Innstetten gleicht einem überraschenden Spiel voller unerwarteter Elemente.

Diese Benennungen sind in einer Bedeutungskohäsion verbunden mit „Schiffsjunge“ (15) und „Midshipman“ (15) im 2. Kapitel bzw. „Naturkind“ (37) im 5. Kapitel. Gleichgültig ob die schwebende Luft oder der schwebende Midshipman, beide Elemente bedeuten Unsicherheit und Gefahr. Sie demonstrieren einerseits Effis abenteuerliche Eigenschaften und signalisieren andererseits auch die Unsicherheit ihres Schicksals. Das Eheleben wird erlebt wie ein Schiffsjunge schweren Seegang auf einem Schiff. Das Streben nach Schweben als gewichtloses Glück deutet an, dass Effi der sozialen Norm entfliehen will, es aber am Ende nicht schafft.

Details

Seiten
376
Erscheinungsjahr
2022
ISBN (PDF)
9783034326339
ISBN (ePUB)
9783034326346
ISBN (MOBI)
9783034326353
ISBN (Paperback)
9783034326407
DOI
10.3726/b19283
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (August)
Schlagworte
Zeit-Wandel Räumlicher Wandel Wandel des Menschenbildes Wandel der Wissensformen neue Wissenschaft
Erschienen
Bern, Berlin, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 376 S., 10 s/w Abb., 4 Tab.

Biographische Angaben

Seong-Kyun Oh (Band-Herausgeber:in)

Seong-Kyun Oh promovierte an der Ruhr-Universität Bochum. Er ist Professor für Germanistik und Cultural Studies an der Chung-Ang-Universität (CAU) und leitete das DAAD-Zentrum für Deutschland- und Europastudien in Seoul (ZeDES).

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Titel: Tagungsband der «Asiatischen Germanistentagung 2016 in Seoul» – Band 2