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Anthropologie der Bescheidenheit

Wie digitale Technologien unser Verhältnis zur Natur verändern

by Inge Baxmann (Author)
©2022 Monographs 170 Pages
Series: Romania Viva, Volume 45

Summary

In der westlichen Kultur waren Gesellschaft, Kultur und Geschichte stets dem Menschen vorbehalten. Heute erschüttern die Entdeckungen der Bio- und Nanotechnologien das anthropozentrische Weltbild. Sie enthüllen nicht nur die hochentwickelten Lebensformen anderer Arten, sondern auch unsere enge Verwandtschaft mit ihnen.
Anstatt des Spezies-Narzissmus, der unsere Kultur dominiert, wollen wir die Perspektive wechseln und eine Anthropologie der Bescheidenheit vorschlagen, die Strategien und Inspirationen für ein neues Verhältnis zur Natur erschließt. Wir stehen noch ganz am Anfang einer Reise in ein unbekanntes Territorium: die Neuerfindung des Menschen im Verhältnis zu anderen Spezies. Sie eröffnet eine neue Sicht auf das faszinierende Universum voll von intelligentem Leben, das unseren Planeten bevölkert.

Table Of Contents

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung. Anthropologie der Bescheidenheit: ein neues Verhältnis zur Natur
  • Kapitel I. Den Menschen aus nichtmenschlichen Kulturen neu erfinden
  • I.1. Am Ende einer Heldengeschichte
  • I.2. Unerwartete Verwandtschaften
  • I.3. Die Rolle der Ästhetik in der Evolution der Arten
  • I.4. Eine Anthropologie der Bescheidenheit beginnt mit den Pflanzen
  • I.4.1. Exkursion in die Welt der Pflanzen
  • I.4.1.1. Wie Pflanzen kommunizieren und interagieren: „neuronale“ Netzwerke
  • I.4.1.2. Die Pflanze als Subjekt
  • Kapitel II. Resilienz am Rande eines Abgrunds: die Plastizität der Natur
  • II.1. Die Kreativität der Natur
  • II.2. Das Abenteuer des Lebens und das Design der Natur
  • II.3. Menschliche Neuroplastizität oder Leben im labilen Gleichgewicht
  • II.3.1. Die Rhythmen des Gehirns
  • II.4. Mimikry und Synchronisation: ein artenübergreifendes Wissen
  • Kapitel III. Imagination von anderen Arten oder ein unverhofftes Wiedersehen mit der entfremdeten Verwandtschaft
  • III.1. Metamorphosen in eine andere Spezies: auf der Suche nach einer verlorenen Beziehung
  • III.2. Das Imaginäre der Pflanzen
  • III.2.1. Der Baum als Vorfahre des Menschen
  • III.3. Die Bedeutung der Sinne für die Imagination anderer Spezies
  • III.3.1. Die Industrialisierung des Ohrs und der Verlust der Stimmen der Natur
  • III.3.2. Ohrenphilosophie und die Beziehung zur Natur: Friedrich Nietzsche
  • III.4. Die Chancen der Technologie
  • III.4.1. Sich in die Lage einer Pflanze versetzen oder wie technische Geräte eine verlorene Beziehung wiederherstellen
  • III.4.2. Der Film entdeckt den Tanz der Pflanzen
  • III.4.3. Eine neu konfigurierte Sensibilität und ihr Kulturideal: der labile Mensch
  • III.4.4. Von der Beobachtung zur Teilnahme oder die Vorstellungswelt von anderen Arten im digitalen Zeitalter
  • III.4.4.1. Das Flüstern der Bäume
  • III.4.4.2. Eine erweiterte Subjektivität: sich in einen Kaiman oder eine Spinne verwandeln
  • Kapitel IV. Neudenken der Technologie: Lebenstechniken jenseits der Gattungsgrenzen
  • IV.1. Die Natur überlisten? Wissenskulturen und die Rolle der Technologie
  • IV.1.1. Prometheus in neuer Gestalt: der Mensch als Schöpfer neuer Spezies
  • IV.1.2. Probleme der Rettungsökologie: eine Natur nach dem Geschmack des Menschen?
  • IV.2. Zurück zum Ursprung: menschliche Technologie als Mimesis der Natur
  • IV.2.1. Das technische Wissen der Natur
  • IV.2.2. Vom technischen Know-How anderer Spezies lernen
  • IV.2.2.1. Biomimesis: Inspirationen aus der technischen Welt nichtmenschlicher Wesen
  • IV.2.2.2. Ein moderner Vorläufer: die Biomimesis des Industriezeitalters
  • IV.2.3. Biomimesis zwischen Anthropozentrismus und Respekt vor der Natur
  • IV.3. Wirtschaftliche und soziale Biomimesis
  • IV.3.1. Ein altes Wissen über artenübergreifende Kooperation und Gemeinschaftsmodelle in der Natur
  • IV.3.2. Die Natur als Modell für eine neue Wirtschaft
  • IV.3.2.1. Ein anderes Zeitregime für postindustrielle Gesellschaften
  • Epilog
  • Bibliographie
  • Reihenübersicht

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Einleitung.
Anthropologie der Bescheidenheit: ein neues Verhältnis zur Natur

Die westliche Anthropologie betrachtete den Menschen lange Zeit als Höhepunkt der Evolution, nicht zuletzt, weil er fähig ist, sich die Ressourcen der Erde, die Pflanzen und Tiere für seine Zwecke dienstbar zu machen und in seinem Sinne zu perfektionieren.

Dieses Menschenbild hat indes in dem Maße an Überzeugungskraft verloren, wie sich die Menschheit als Hauptquelle einer Naturzerstörung erweist, die die Ökosysteme dieses Planeten in immer rasanterem Tempo verwüstet. Artensterben, Kontinente von Plastikmüll in den Ozeanen oder Regenwälder, die in Flammen aufgehen, werfen die Frage auf: wie konnte es eine intelligente Spezies so weit kommen lassen? Die Antwort findet sich in unserer Beziehung zur Natur, die dem Menschen den Status eines allen anderen Gattungen überlegenen Wesens verleiht. Die Trennung des Menschen von der natürlichen Welt war die Voraussetzung für die Entstehung der klassischen Anthropologie.

Das räuberische Verhalten unserer Gattung gegenüber ihren planetaren Mitbewohnern ging einher mit einem Mangel an Neugierde ihnen gegenüber, die unsere Wissenskulturen lange Zeit charakterisierten. Das ändert sich heute, und es sind die neuen Technologien, die diesen Wandel motivieren. Mithilfe digitaler Medien und dank der Errungenschaften der Nanotechnologie können wir uns mit dem reichen und faszinierenden Leben der Pflanzen und Tiere vertraut machen. Einzigartige Bilder und Klänge lassen uns eine Welt entdecken, die für unsere Sinne bislang nicht wahrnehmbar war.

Sie zeigen die erstaunliche Schöpfungskraft der Natur, die uns bezaubert, aber auch eine Kreativität, die der Mensch mit all seinen Technologien nicht kontrollieren kann. Evolution ist ein komplexer, nie abgeschlossener Prozess des Wachstums und der Anpassung, und das gilt für alle Kreaturen. Unsere Vernichtungstechniken gegenüber „Schädlingen“, also dem Menschen unwillkommene Spezies, unterschätzen diese evolutionäre Komplexität. Sie entfalteten häufig erst die Resistenz ihrer Adressaten, so ←9 | 10→gibt es mittlerweile Käfer, die sich ausschließlich von Korn ernähren oder Mosquitos, die nur in der Londoner Metro existieren.

Die Bio- und Nanotechnologien enthüllen nicht nur die hochentwickelten Lebensweisen anderer Arten, sondern auch unsere Verwandtschaftsgrade mit ihnen. Diese neuen Wahrnehmungen stellen die Grundlagen der westlichen Anthropologie in Frage, mitsamt ihren Bestimmungen des Sozialen und der Kultur. Sie fordern den Menschen auf, sich neu zu erfinden und seinen Platz auf diesem Planeten zu überdenken. Aber welche Art von Anthropologie wäre dafür geeignet? Anstelle des Spezies-Narzissmus, der die westlichen Denktraditionen dominiert, wollen wir die Perspektive wechseln und eine „Anthropologie der Bescheidenheit“ vorschlagen. Dieser Ansatz könnte helfen, unsere Beziehungen zu anderen Wesen neu zu gestalten.

In einer Zeit der Selfies und Selbstvermarktung mag es anachronistisch und absurd erscheinen, die Bescheidenheit auszugraben, eine weitgehend vergessene Angewohnheit alter Zivilisationen. In westlichen modernen Gesellschaften ist sie meist in den Bereich der Religion verwiesen oder man verbindet Bescheidenheit mit mangelndem Selbstbewusstsein oder gar Selbstverachtung.1

Um die vielfältigen Stimmen der Natur zu hören und neue Wege zu finden, die Welt zu bewohnen, brauchen wir zunächst eine Neugierde gegenüber nichtmenschlichen Lebensformen. Diese Haltung ist der erste Schritt zu einer Anthropologie der Bescheidenheit. Wenn Bescheidenheit eine Bereitschaft ist, den eigenen Wert nicht zu übertreiben, bedeutet das nicht, dass man sich seines Wertes nicht bewusst ist. Es wäre also eine andere Perspektive denkbar, wo demütig oder bescheiden zu sein eine solide Portion an Selbstsicherheit und Selbstbewusstsein erfordert. Ein bescheidener Mensch fühlt sich Anderen nicht unterlegen, sondern er hat lediglich aufgehört, sich für etwas Besseres zu halten.2

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Ökologie beinhaltet die Gemeinschaft und Kooperation menschlicher und nichtmenschlicher Kräfte. Anstatt der erste Spielverderber zu sein, der für falsche Noten verantwortlich ist, weil er sich für den Dirigenten hält, sollte der Mensch lernen, seinen Part zu spielen, indem er anderen zuhört und sich mit ihnen synchronisiert. Wir haben die Auswirkungen unserer Technologien auf das Ökosystem so lange vernachlässigt, dass diese Haltung fast schon zur Gewohnheit geworden ist.

Es ist an der Zeit, über dieses Netzwerk, das unser Leben aufrechterhält, nachzudenken. Dementsprechend fragt sich eine Anthropologie der Bescheidenheit, wie der Mensch Teil des Ökosystems ist und wie er zu der großen, artenübergreifenden Gesellschaft beitragen könnte, deren Teil er schon immer war. Bescheidenheit ebnet den Weg für eine Offenheit, die die Grundlage für eine neue Wissenskultur wäre. Ihr Ausgangspunkt ist die gemeinsame Situation der Bewohner des Planeten – Menschen und andere: die Zerbrechlichkeit und Abhängigkeit dieses Ökosystems, der Erde. Eine Anthropologie der Bescheidenheit versucht, unsere Vorstellungen von Subjekt und Gemeinschaft, unsere Idee und Praxis des Wissens neu zu erfinden, und findet ihre Inspirationen in den unterschiedlichsten Bereichen und Epochen. Sie hinterfragt unsere Vorstellungen von Wissen, indem sie die Fähigkeiten anderer Arten hervorhebt, ebenfalls Wissen zu schaffen. In diesem Prozess verschwinden die künstlichen Trennungen, die sie stützen, wie zum Beispiel die zwischen Natur und Technik. Das verändert unser gesamtes Weltbild.

Der erste Schritt zu einer neuen Beziehung zur Natur bestünde folglich darin, die Nabelschau aufzugeben und anzuerkennen, dass die „Anderen“ – insbesondere Pflanzen oder Tiere – über einzigartige Talente und Kenntnisse verfügen. Eine solche grundlegende Revolution in unserer Beziehung zur Natur erfordert in der Tat Bescheidenheit und Demut; aber durch die Tücken der Etymologie scheint diese Rückkehr legitim, denn Demut (lateinisch „Humilitas“) findet ihre Wurzeln in „Humus“ (Erde). Dies führt uns ohne Umwege zu dem, was uns grundlegend mit ←11 | 12→den anderen Bewohnern des Planeten verbindet: die Abhängigkeit von der Erde wie die Unsicherheit und Zerbrechlichkeit allen Lebens. Weit entfernt, eine deprimierende Weltsicht zu sein, ermöglicht die Anthropologie der Bescheidenheit Einsichten in die faszinierende Schönheit und Vielfalt unserer Welt und ein Gefühl der Verbundenheit mit jenen Wesen, die uns zugleich nah und doch weitgehend unbekannt sind.

Nutzen wir also die Chance, ungewohnte Erfahrungen zu machen und neue Wege zu beschreiten, denn es gibt kein Zurück: die Egozentrik unserer Spezies hat uns an den Rand der Katastrophe gebracht. Eine Anthropologie der Bescheidenheit wäre ein Beitrag zur Lösung ökologischer Probleme, indem sie eine gemeinsame Zukunft aller Spezies anvisiert. Um dies zu erreichen, werden wir das klassische Verfahren umkehren, das darin besteht, andere Arten nach unseren Maßstäben zu messen. Dieser Anthropozentrismus prägt weitgehend unsere Denkweise wie unsere Gewohnheiten und hat sich tief in unsere Wahrnehmung, unser Fühlen und unser Handeln eingeschrieben. Um uns davon zu befreien, fragen wir uns doch einmal, wie die Welt aussähe, wenn wir sie aus der Perspektive einer anderen Spezies erleben könnten, wenn wir ein Löwe, eine Biene oder eine Blume wären. Was uns heute absurd erscheint, war in animistischen Gesellschaften über Jahrtausende durchaus üblich und gilt für einige indigene Gemeinschaften immer noch.

Eine Anthropologie der Bescheidenheit findet ihre Inspirationen an den unterschiedlichsten Orten und in den verschiedensten Epochen. Diese umfassen sowohl die Beiträge aus der Welt der Wissenschaft wie der Mythen und der Kunst, ihre Quellen liegen ebenso in den indigenen Kulturen wie in den vorindustriellen Gesellschaften, aber auch in der Moderne lassen sich produktive Ideen dafür ausmachen.

Details

Pages
170
Year
2022
ISBN (PDF)
9783631886694
ISBN (ePUB)
9783631886700
ISBN (MOBI)
9783631886717
ISBN (Hardcover)
9783631886564
DOI
10.3726/b20064
Language
German
Publication date
2022 (August)
Published
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 170 S., 11 farb. Abb., 1 s/w Abb.

Biographical notes

Inge Baxmann (Author)

Inge Baxmann ist Kulturwissenschaftlerin und Romanistin. In ihren Arbeiten verbindet sie eine kulturhistorische, medienwissenschaftliche und kulturvergleichende Perspektive auf die europäische Moderne.

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