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Unterricht für die «Grenzlanddeutschen»

Das deutschsprachige Schulwesen im Reichsgau Sudetenland 1938–1945

von Stefan Johann Schatz (Autor:in)
©2023 Dissertation 574 Seiten

Zusammenfassung

Nach dem Münchener Abkommen 1938 wurden die mehrheitlich deutsch besiedelten Gebiete der Tschechoslowakei in das Deutsche Reich eingegliedert. Im dort neu gebildeten Reichsgau Sudetenland übernahmen sudetendeutsche Funktionäre die Schulverwaltung und forderten selbstbewusst eigene Handlungsspielräume in der nationalsozialistischen Schulpolitik ein. Ihre Begründung dafür war, dass den Sudetendeutschen eine Führungsrolle in den böhmischen Ländern zustehe, da nur sie als erfahrene «Grenzlanddeutsche» die dortigen nationalen Verhältnisse richtig einschätzen könnten. Dieses Buch analysiert, inwieweit die Schulverwaltung ihren Sonderanspruch bei der Angleichung des Schulaufbaus nach Reichsvorgaben, beim Tschechisch-, Deutsch- und Geschichtsunterricht und im Umgang mit der tschechischen Minderheit umsetzen konnte. Der Band enthält zudem einen zusammenfassenden Aufsatz in tschechischer Sprache.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Danksagung
  • Konsolidierung eines „grenzlanddeutschen“ Schulwesens? Einführung in die Arbeit
  • Thema und Fragestellung
  • Forschungskontexte und Forschungsstand
  • Quellenbasis und Aufbau
  • „Sudetendeutschtum“ und „Grenzlanddeutschtum“. Zur Begrifflichkeit
  • Entstehung und Emergenz des sudetendeutschen „Grenzland“-Konzepts
  • „Grenzlanddeutsche“ und Interessen des Deutschen Reiches
  • Deutsches Schulwesen in der Tschechoslowakei. Zur Vorgeschichte
  • Das deutschsprachige Schulwesen in der Tschechoslowakei
  • Deutsche Lehrerverbände in der Tschechoslowakei
  • Radikalisierung 1938
  • Schulpolitik im nationalsozialistischen Deutschland um 1938
  • Die Anfänge des nationalsozialistischen Schulwesens im „Sudetenland“
  • Reichserziehungsminister Rust im Reichsgau Sudetenland
  • Installation der Schulverwaltung
  • Akteure der Schulverwaltung
  • Beginn der „Gleichschaltung“
  • Ausschluss und Verfolgung Andersdenkender
  • Verfolgung und Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung – Shoa
  • Eine andere Sicht auf Bildung. Der Umbau des Schulwesens
  • Auslese nach oben: die Bürgerschulen
  • Auswahl des besten Schülerdrittels?
  • Einführung der Hauptschule
  • Theo Keil in Berlin
  • Der Ausbau der 5. und 6. Klasse
  • Profiteure der neuen Vorgaben – die Volksschulen
  • Auslese nach oben: die Höheren Schulen
  • Auslese nach unten: die Sonderschulen
  • Allgemeinbildung vor fachlicher Bildung: das Berufsschulwesen
  • Gescheiterte Neubauplanungen – die infrastrukturelle Förderung des Schulwesens
  • Lehrkräfteausbildung und Lehrkräftemangel
  • Lehrkräfteausbildung bis 1938
  • Diskussion um die Akademisierung der Lehrkräfteausbildung
  • Ausbildung der Kindergärtnerinnen
  • Trotz Lehrkräftemangels – Qualitätssicherung der Lehrkräfteausbildung?
  • „Ostaufgabe“ der sudetendeutschen Lehrkräfteausbildung?
  • Zwischenergebnisse
  • Unterricht für „Grenzlanddeutsche“. Bemühungen um eine eigene Schulbildung
  • Grenzlanddeutscher Literaturunterricht
  • Grenzlanddeutsche Geschichte
  • Grenzlanddeutsche Kompetenz. Das Schulfach Tschechisch
  • Im Umfeld der Schulverwaltung
  • Tschechische Sprache und „Volkstumspolitik“
  • Richtungswechsel ab 1939
  • Umfrage im Regierungsbezirk Troppau
  • Heydrichs Widerspruch
  • Tschechisch – das unbeliebte Schulfach
  • Annäherung an die Schulpraxis
  • Lehrbuch
  • Prüfungen
  • Zwischenüberlegungen
  • Sudetendeutsche Gedenktage
  • Sudetendeutscher „Freiheitskampf“ im Rahmen der Kinderlandverschickung
  • Zwischenergebnisse
  • „Eindeutschung“ des Sudetenlandes. Die „Volkstumsarbeit“ der Schulverwaltung
  • Die tschechische Minderheit im Reichsgau Sudetenland
  • „Eindeutschungs“-Kontroversen um tschechische Schüler/-innen
  • Akteure der deutschen Verwaltung
  • Tschechische Kinder an deutschen Schulen?
  • Kontroversen um die Vereinheitlichung der Einschulungspraxis
  • Eindeutschung nach „rassischen“ Kriterien?
  • Kontroverse um die „sudetische Rasse“
  • Zwischenüberlegungen
  • Unterordnung als Unterrichtsziel. Das tschechische Schulwesen im Reichsgau Sudetenland
  • Unter deutscher Schulaufsicht
  • Zwischenüberlegungen
  • Zwischen Ausgrenzung und Beschulung. Die Diskussion über die Beschulung von Zwangsarbeiterkindern im Reichsgau Sudetenland
  • Beschulung „Volksdeutscher“ im Reichsgau Sudetenland
  • Zwischenergebnisse
  • Verwaltung des Mangels. Die Schulverwaltung im Totalen Krieg
  • Fazit. Die ungehörten „Grenzlanddeutschen“
  • Appendix
  • Karrieren nach 1945
  • Statistische Angaben über das Schulwesen
  • Übersicht über die Personen in der Schulverwaltung
  • Die deutsche Schulverwaltung in Böhmen und Mähren-Schlesien (1935/1936)
  • Schulverwaltung und Nationalsozialistischer Lehrerbund (NSLB) im Reichsgau Sudetenland
  • Schulräte im Reichsgau Sudetenland
  • NSLB-Gauwaltung Sudetenland in Reichenberg
  • NSDAP-Kreisbeauftragte für Schul- und Erzieherfragen
  • NSLB-Kreiswalter
  • Karte des Reichsgaus Sudetenland (1938–1945)
  • Quellen und Literatur
  • Archivalien
  • Publikationen bis 1945
  • Unter Angabe einer Autoren- oder Herausgeberschaft
  • Veröffentlichungen/Mitteilungen/Verordnungen ohne Angabe einer Autorenschaft
  • Veröffentlichungen im Amtlichen Schulblatt für den Reichsgau Sudetenland
  • Schulchroniken
  • Lehrbücher/Texte aus Lehrbüchern
  • Publikationen nach 1945
  • Výuka pro „Grenzlanddeutsche“. Německojazyčné školství v Říšské župě Sudety 1938–1945
  • Úvod
  • Historický kontext
  • Vymezení problematiky a prameny
  • Oblast 1: Změny ve struktuře školství
  • Oblast 2: Vyučování na sudetoněmeckých školách
  • Oblast 3: Zacházení s českým obyvatelstvem
  • Omezování českého školství
  • Kontroverze spojené s „poněmčením“ českého žactva
  • Závěrečná fáze 1944/1945
  • Shrnutí
  • Abkürzungen
  • Konkordanz der Ortsnamen
  • Deutsch – Tschechisch
  • Tschechisch – Deutsch
  • Personenregister

Danksagung

Die vorliegende Arbeit ist die leicht überarbeitete Fassung meiner im Herbst 2019 im Fach Erziehungswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin eingereichten Dissertationsschrift. Diese Arbeit hätte nicht entstehen können, wenn mich dabei nicht zahlreiche Menschen und Institutionen unterstützt hätten. An dieser Stelle möchte ich ihnen meinen Dank aussprechen.

Zuerst gebührt dieser den beiden Betreuern dieser Arbeit, Prof. Dr. Marcelo Caruso (Berlin) und Prof. Dr. Volker Zimmermann (München/Düsseldorf). Ihr Vertrauen in meine Forschung, ihre konstruktiven wie kritischen Hinweise und ihre kontinuierliche, ermutigende wie sehr engagierte Unterstützung brachten meine Studie auf die richtige Spur.

Bei Doc. Dr. phil. Mirek Němec (Ústí nad Labem) und Prof. PhDr. Tomáš Kasper, Ph.D. (Liberec und Prag) bedanke ich mich herzlich für die vielen inspirierenden Gespräche und ihre wertvollen Hinweise zur Schulgeschichte der Tschechoslowakei in der Zwischenkriegszeit.

In allen Archiven wurde ich gut beraten und unterstützt. Daher möchte ich deren Mitarbeitenden ebenfalls meinen Dank aussprechen. Dabei besonders herausstellen möchte ich Jana Vanišová (Státní oblastní archiv Litoměřice – Krajská), Mgr. Roman Reil (Státní okresní archiv Trutnov) und Mgr. Zdeněk Kravar, Ph.D. (Zemský archiv Opava), die mir mit großer Eigeninitiative bei der Recherche nach relevanten Archivquellen halfen. Nicht zuletzt ist der Erfolg einer wissenschaftlichen Arbeit von der Forschungsinfrastruktur abhängig: Die Humboldt Graduate School Berlin und die Staatsbibliothek zu Berlin stellten Arbeitsplätze zur Verfügung, und das Team der Staatsbibliothek zu Berlin erfüllte jeden noch so ungewöhnlichen Bücherwunsch.

Eine Doktorarbeit finanziert sich nicht aus Motivation allein. Ich bedanke mich deshalb herzlich bei der Konrad-Adenauer-Stiftung, dass sie mich und meine Forschung mit einem Promotionsstipendium förderte. Neben der finanziellen Unterstützung war für mich besonders die hervorragende ideelle Förderung wertvoll. Die Stiftung war für mich ein Ort großer Inspiration – gerade deshalb, weil ich dort meine Forschungsarbeit in völlig anderen Fachkontexten diskutieren konnte.

Bei Prof. Dr. Dr. h. c. i. R. Detlef Brandes (Berlin) und Dr. K. Erik Franzen (München) bedanke ich mich für die kritische Lektüre des Textes vor der Drucklegung. Mein großer Wunsch war es, dass diese Arbeit in einem bohemistischen Umfeld erscheint: Umso mehr freut es mich, dass die Historische ←11 | 12→Kommission für die Böhmischen Länder mein Buch in ihre Reihe aufgenommen hat. Ihr wie auch dem Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds und der Humboldt-Universität zu Berlin bin ich sehr dafür verbunden, dass sie die Drucklegung dieser Schrift finanziell unterstützen. Dr. Robert Luft (München) und Prof. Dr. Volker Zimmermann begleiteten mich im Schlussspurt und halfen umsichtig, dem Manuskript den letzten Schliff zu geben. Ich freue mich, dass die Historische Kommission und der Peter Lang Verlag es ermöglichten, der Schrift eine tschechischsprachige Zusammenfassung beizufügen, die Mirek Němec dankenswerterweise vom Deutschen ins Tschechische übersetzt hat.

Da sich bei der Textarbeit irgendwann Fehlerblindheit einschleicht, bin ich sehr dankbar, dass Michael Nerenz die Dissertation vor Einreichung bei der Universität Korrektur las und Steffen Schröter (text plus form, Dresden) das eingehende Sprachlektorat dieses Textes vor Drucklegung übernahm.

Meine abschließenden Dankesworte möchte ich meinen Eltern und meiner Frau aussprechen: Ich danke meinen Eltern, die mich auf meinem Bildungsweg immer unterstützten. Mein größter Dank gebührt meiner Frau Stefanie, die jahrelang viele Abende und Wochenenden ohne mich verbringen musste. Meine liebe Steffi, ich danke dir für deine Geduld, dein Verständnis und deine Unterstützung, gerade während der Durststrecken bei der Erstellung dieser Arbeit.

Berlin, im Juli 2022

Konsolidierung eines „grenzlanddeutschen“ Schulwesens? Einführung in die Arbeit

Thema und Fragestellung

Als im Herbst 1938 das Sudetendeutschtum vom Führer in das Großdeutsche Reich heimgeholt wurde, begann auch für das sudetendeutsche Schulwesen ein neuer Abschnitt in seiner langen und ehrenvollen Geschichte. […] Die Aufgaben, vor die sich die neue Schulverwaltung gestellt sah, waren sehr vielseitig, da es galt, eine gute Tradition weiterzuführen und gleichzeitig den Anforderungen der neuen Zeit gerecht zu werden. Es kam daher nicht nur darauf an, äußere Angleichungen der Schulformen durchzuführen, sondern es ging vor allem auch darum, die sudetendeutsche Schule mit nationalsozialistischem Geiste zu erfüllen.1

Mit diesen Worten beschrieb Ludwig Eichholz, Leiter der Schulverwaltung im Reichsgau Sudetenland, im Jahr 1940 sowohl das Selbstverständnis seiner Dienststelle als auch die Herausforderung, vor der die Bildungspolitik in seinem Zuständigkeitsbereich stand. Zwei Jahre zuvor, Anfang Oktober 1938, hatten Einheiten der deutschen Wehrmacht infolge des Münchner Abkommens die mehrheitlich deutschsprachigen Gebiete der Tschechoslowakei besetzt und in das Deutsche Reich eingegliedert. Auf diese Weise endete das überwiegend friedliche Zusammenleben von Deutschen und Tschechen in den böhmischen Ländern.

Allerdings war dieses Mit- und Nebeneinander bereits vorher in zunehmendem Maße eingetrübt gewesen: Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildete sich ein nationaler Gegensatz heraus und entwickelte sich zu einem bestimmenden Element der politischen Verhältnisse in den böhmischen Ländern, obgleich Angehörige beider Nationen in vielen gesellschaftlichen Bereichen weiterhin einvernehmlich zusammenlebten. Zu jener Zeit, als diese Gebiete noch Teil der Habsburgermonarchie waren, geschah dies auch und gerade trotz wachsender Bildungsmöglichkeiten, die eben nicht mit einem gegenseitigen Spracherwerb einhergingen. Das Erlernen der Sprache des anderen blieb vor allem ein Projekt Einzelner – und war im Gegenteil vonseiten nationalbewusster Gruppen aufgrund der von ihnen ←13 | 14→propagierten Sorge vor dem Verlust der eigenen nationalen Existenz nicht erwünscht.2

Ein deutsch-tschechischer Ausgleich zugunsten der sich benachteiligt fühlenden tschechischen Bevölkerungsmehrheit in den böhmischen Ländern scheiterte, und mit der Niederlage Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg war 1918 auch das Ende der habsburgischen Herrschaft besiegelt. Auf dem Territorium der böhmischen Länder (Böhmen, Mähren, Österreichisch Schlesien) und der bisherigen ungarischen Provinz Oberungarn (Slowakei) sowie Karpatenrussland (Karpato-Ukraine) entstand nun ein neues, demokratisch verfasstes Staatswesen – die Tschechoslowakische Republik (Československá republika, ČSR).3

Dieser Staat war ethnisch heterogen: Nach der 1921 durchgeführten Volkszählung lebten in ihm 6,7 Millionen Tschechen und 2 Millionen Slowaken, die zusammengefasst als Tschechoslowaken die Staatsnation stellten, dazu 3,1 Millionen Deutsche, 747 000 Ungarn, 461 000 Russen und Ukrainer, 180 000 Juden und 76 000 Polen.4 Demnach machte die deutsche Bevölkerung 23,4 Prozent der Bewohner der Tschechoslowakei aus.5 Von einer einseitigen Tschechisierungspolitik kann jedoch keine Rede sein: Mehr als 90 Prozent der deutschsprachigen Bevölkerung hatten das Recht, im Behördenverkehr ihre Muttersprache zu verwenden; so war es möglich, dass ein großer Teil von ihnen grundsätzlich ohne Tschechischkenntnisse auskam.6 Zudem hatte nach Meinung des tschechoslowakischen Schulministeriums wie auch vieler Pädagoginnen und Pädagogen das Deutsche den Status einer zweiten Staatssprache inne – jede gebildete ←14 | 15→Bürgerin und jeder gebildete Bürger sollte neben dem Tschechischen oder Slowakischen auch das Deutsche beherrschen.7

Mirek Němec weist darauf hin, dass diese gewünschte Zweisprachigkeit eine Grundlage für die Integration der deutschsprachigen Bevölkerung in den Staat schaffen sollte.8 Deutsch wurde somit inoffiziell die zweite Staatssprache, und auch vonseiten des Bildungsministeriums wurde eine deutsch-tschechische Zweisprachigkeit der tschechoslowakischen Eliten ebenso gewünscht wie gefördert.9 War vom größten Teil der deutschen Bevölkerung der böhmischen Länder der Einbezug ihrer Siedlungsgebiete in die Tschechoslowakei anfangs vehement abgelehnt worden, führten unter anderem deutliche sozialpolitische Verbesserungen (Einführung einer Arbeitslosenunterstützung und des Acht-Stunden-Arbeitstags, Förderung des Wohnungsbaus)10 zu einer wachsenden Akzeptanz gegenüber dem neuen Staat.11 Politisch drückte sich dies im Laufe der 1920er Jahre in der Unterstützung der deutschen Parteien aus, die sich dem sogenannten Aktivismus, der Mitarbeit in der Tschechoslowakei, verschrieben hatten (so waren an Regierungen beteiligt: der Bund der Landwirte unter Franz Spina, die Deutsche Christlich-Soziale Volkspartei unter Robert Mayr-Harting und Erwin Zajicek sowie die Sozialdemokraten unter Ludwig Czech).12

Allerdings führten die Weltwirtschaftskrise und die als erfolgreich wahrgenommene Wirtschaftspolitik NS-Deutschlands nach 1933 dazu, dass die aktivistischen Parteien in den 1930er Jahren zunehmend ins Hintertreffen gerieten13 und die 1933 gegründete, deutschnational orientierte Sudetendeutsche Heimatfront ←15 | 16→(SHF, ab 1935 Sudetendeutsche Partei, SdP) um den Turnlehrer Konrad Henlein zunehmend an Einfluss gewann.14 Sie wurde bald die bei Weitem stärkste deutsche Partei im Prager Parlament.15

Die Deutschen – in Österreich-Ungarn vormals neben den Ungarn eine gesellschaftlich wie politisch privilegierte Gruppe – wurden nun zur Minderheit. Sie verwendeten dabei als Eigenbezeichnung vor 1933 seltener sudetendeutsch, sondern die Begriffe tschechoslowakische Deutsche oder einfach nur Deutsche. Auch die deutschsprachigen Parteien in der Tschechoslowakei bezeichneten sich nach 1918 nicht als sudetendeutsch, sondern als deutsch.16 Erst die Gründung der Sudetendeutschen Heimatfront ließ den identitätsstiftenden Begriff ab 1933 allgemein bekannt und gebräuchlich werden.17

Damit einhergehend strebte die SHF/SdP die Formierung einer „Volksgemeinschaft“ an, die alle Sudetendeutschen umfassen sollte. Den Begriff Volksgemeinschaft,18 der bereits vor dem Ersten Weltkrieg aufgekommen war und der auch von Adolf Hitler propagiert wurde, verwendete sie aber in mehrfacher Hinsicht anders als die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) im Deutschen Reich. Zum einen hob er auf eine „Schicksalsgemeinschaft“ der Sudetendeutschen ab, die im Gegensatz zu ihren reichsdeutschen ←16 | 17→Brüdern und Schwestern gegen ihren Willen im tschechoslowakischen Staat leben mussten.19 Zum anderen war er mit der Vorstellung einer nach Berufsständen gegliederten, solidarischen deutschen Gemeinschaft innerhalb der Tschechoslowakei verbunden.20 Die Konstruktion einer „sudetendeutschen Volksgemeinschaft“ richtete sich also vor allem gegen den tschechischen Gegner in dem seit dem 19. Jahrhundert geführten „Volkstumskampf“ und sollte dabei helfen, „gegen die Benachteiligung im fremdnationalen Staat vor[zu]gehen“.21

Mit diesem Erfahrungshintergrund und Selbstverständnis kamen die sogenannten Sudetendeutschen im Oktober 1938 in das nationalsozialistische Deutsche Reich – dessen um ideologische Gleichschaltung bemühte Führung allerdings keineswegs an Partikularinteressen oder regionalen Sonderrollen interessiert sein konnte. Denn die SdP bzw. die bald entstehende sudetendeutsche NSDAP vertrat nun offensiv die Auffassung, dass den neuen sudetendeutschen Volksgenossen im Deutschen Reich eine besondere Rolle als Grenzlanddeutsche zukommen solle. Diese Spannung zwischen Reichsidentität und der Beanspruchung einer Sonderrolle betraf notwendigerweise in hohem Maße eine Institution, die in der Moderne zunehmend mit der Hervorbringung, Veränderung und Reproduktion von Identität betraut wurde: die Schule.

Damit entwickelte sich unter den Bedingungen der NS-Herrschaft ein Konfliktfeld, mit dem sich die regionale Schulverwaltung als ausführendes Organ der schulpolitischen Vorstellungen des Reiches auseinandersetzen musste. Ebendieses Konfliktfeld soll in der vorliegenden Arbeit in den Blick genommen werden. Zentral ist dabei die Frage nach der Bedeutung des Grenzlandparadigmas für die Arbeitspraxis der Schulverwaltung: Versuchte die Schulverwaltung, durch die Betonung einer speziellen Rolle der Sudetendeutschen als Grenzlanddeutsche tatsächlich auch eigene Ansprüche zu legitimieren? Wollte sie der von Berlin geforderten Erziehung zu Deutschen tatsächlich eine eigene Erziehung zu Sudetendeutschen entgegenstellen? In dieser Hinsicht ist von Interesse, ob und inwieweit die Schulverwaltung versuchte, ihren Anspruch nicht nur gegenüber den eigenen Lehrkräften zu vertreten, sondern auch im Schulunterricht selbst durchzusetzen. Wie standen zudem die auf Vereinheitlichung ausgerichteten NS-Behörden, vor allem das Reichserziehungsministerium in Berlin, dazu? War Letzteres bereit, dieser Gruppe – im Gefolge der vorher in Deutschland ←17 | 18→so breit unterstützten Verklärung der deutschsprachigen Minderheit in der Tschechoslowakei als selbsterklärte tapfere Grenzlanddeutsche – nun tatsächlich eine eigenständige Rolle im Schulwesen des Großdeutschen Reiches zuzugestehen? Diese Fragen möchte die vorliegende Studie auf mehreren Ebenen beantworten.

Dies betrifft zunächst die Auseinandersetzung um den Fortbestand des aus österreichischer Tradition stammenden ausdifferenzierten Schulsystems der Tschechoslowakei, das nun gemäß nationalsozialistischen Ordnungsvorstellungen angepasst werden sollte. Wurde tatsächlich das Schulwesen im Reichsgau Sudetenland nach den Vorgaben aus dem Reich angeglichen, und wenn ja, stand dies im Gegensatz zu sudetendeutschen Vorstellungen? Oder setzte die sudetendeutsche Schulverwaltung diesen Forderungen nach einer sogenannten Verreichlichung ihren grenzlanddeutschen Anspruch auf ein eigenes Schulwesen entgegen?

Doch nicht nur im äußeren Schulaufbau, sondern auch im Unterricht selbst kam es zu Veränderungen. Der liberale tschechoslowakische Lehrbuchmarkt ermöglichte es völkischen Autoren bereits vor 1938, in Lehrbüchern nationalistische Beiträge zu veröffentlichen. Nach 1938 strebte die Schulverwaltung eine umfassende Neuorganisation der Lehrbuchversorgung an. Der völligen Vereinheitlichung der Unterrichtsrichtlinien nach Reichsvorgaben versuchte die Schulverwaltung eigene Unterrichtsinhalte entgegenzusetzen. Gelang es der Schulverwaltung hierbei, ihr Narrativ der grenzlanddeutschen Sudetendeutschen in den Lehrinhalten des hierfür wesentlichen Deutsch- und Geschichtsunterrichts unterzubringen? Mit besonderem Nachdruck versuchte die Schulverwaltung darüber hinaus, die Ersetzung des Tschechischunterrichts durch den Englischunterricht abzuwehren, da der Erstere notwendig sei, um grenzlanddeutsche Aufgaben erfüllen zu können. Wie reagierte Berlin auf diesen Anspruch und konnte der Tschechischunterricht beibehalten werden? Gelang es ferner, eigene, von den Reichsvorgaben abweichende sudetendeutsche Schulfeiern in den Schulen zu veranstalten?

Durch die Errichtung des Reichsgaus 1938 kam auch eine große tschechische Minderheit, laut Volkszählung vom 17. Mai 1939 genau 291 198 Personen,22 unter nationalsozialistische Herrschaft. Diese sah sich bis 1945 zunehmender ←18 | 19→Repression ausgesetzt. Die Schulverwaltung räumte ihr keine besondere schulische Förderung ein, stattdessen intendierte sie unter dem Schlagwort Volkstumsarbeit eine „Eindeutschung“ und versuchte, darin eine eigene, sudetendeutsche Position durchzusetzen. Perspektivisch sollte die Eindeutschung mittels unterschiedlicher Herangehensweisen verwirklicht werden: durch die Vertreibung oder gar Eindeutschung von Tschechen, aber auch durch die Ansiedlung von sogenannten Volksdeutschen. Zudem stand zur Diskussion, ob Zwangsarbeiterkinder aus Osteuropa die Stellung der Tschechen stärken könnten bzw. ob es überhaupt noch eigene Schulen für die tschechische Minderheit geben sollte. Diese recht disparat anmutenden Problemstellungen hängen mit ihrer gemeinsamen Zielsetzung, eine Eindeutschung der böhmischen Länder zu erreichen, eng zusammen. Gelang es der Schulverwaltung, hierbei als eigenständiger Akteur aufzutreten und ihre Interessen durchzusetzen?

Details

Seiten
574
Jahr
2023
ISBN (PDF)
9783631892756
ISBN (ePUB)
9783631892763
ISBN (Hardcover)
9783631873045
DOI
10.3726/b20344
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (März)
Schlagworte
Volksgemeinschaft Schulgeschichte Tschechien Tschechoslowakei Nationalsozialismus Erziehungswissenschaften Zweiter Weltkrieg Bildungsgeschichte Sudetendeutsche Schulverwaltung
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2023. 574 S., 2 s/w Abb., 8 Tab.

Biographische Angaben

Stefan Johann Schatz (Autor:in)

Stefan Johann Schatz studierte für das Lehramt an Hauptschulen in München und Prag und arbeitete im Bildungsbereich in Georgien und Aserbaidschan. Seine Promotion erfolgte an der Humboldt-Universität zu Berlin im Fach Erziehungswissenschaften. Er ist in Berlin in der Begabtenförderung tätig.

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Titel: Unterricht für die «Grenzlanddeutschen»
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