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Stände & landesfürstliche Herrschaft

Die Tiroler Landschaft im Aufgeklärten Absolutismus der Habsburgermonarchie (1754–1790)

von Julian Lahner (Autor:in)
©2023 Dissertation 254 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch ist die erste historische Darstellung des Tiroler Ständewesens in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Es wird darin en détail die institutionelle und personelle Entwicklungsgeschichte der Tiroler Landschaft im Zeitalter des Aufgeklärten Absolutismus der Habsburgermonarchie rekonstruiert. Dadurch wird nachgewiesen, dass die vier Stände – Klerus, Adel, Bürger und Bauern – ihren regionalen Herrschaftsanspruch während der maria-theresianischen und josephinsichen Reformära behaupten konnten. Mit der vorliegenden Monographie wird somit der regionalhistorische Topos von der „Entmachtung" und dem „politischen Stillleben" des Tiroler Ständewesens im späten 18. Jahrhundert widerlegt und gezeigt, dass es den Landesherren nicht gelang, die landständische Selbstverwaltung zu zerstören.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • A. Wandel und Kontinuität
  • I. Das Tiroler Ständewesen unter der Regierung Maria Theresias (ca. 1754–1780)
  • 1. Ursachen und Wirkungen der ersten Rationalisierungsinitiativen von 1754 bis 1772
  • 2. Gouverneur und Landeshauptmann in einem: Johann Gottfried Graf von Heisters erste Amtsjahre von 
1773 bis 1774
  • 3. Die Errichtung des Perpetuellen Aktivitätskollegiums 1774
  • 4. Widerstand im Süden: Die Einführung der Bozner 
Deputation
  • II. Strukturreform wider ständischen Willen: Der Perpetuierliche Kongress (1783/84)
  • 1. Personalstand: Zusammensetzung, Wahl, Kosten und Teilnahmemodus
  • 2. Profiteure: Die Bozner Kaufherren
  • 2.1. Regionalelite und Landschaft: Eine einseitige Beziehung
  • III. Die Neuausrichtung der landesfürstlichen Herrschaft 
(1786–1789)
  • 1. Voraussetzung: Abbruch und Folgen der geheimen (Geschäfts-)Beziehung zwischen Johann Gottfried Graf von Heister und Franz von Gumer
  • 2. Ausgangspunkt: Der neue politische Protagonist Wenzel Kajetan Graf von Sauer
  • 3. Ergebnisse: Sauer und die Landschaft
  • 3.1. Der Ständeverordnete: Johann Nepomuk Christoph Freiherr Unterrichter
  • 3.2. Der Kanzleivorsitzende: Joseph Anton Stadler von Gstirner
  • 3.3. Der zweite Landschaftssekretär: Franz Bartholome Joseph Mayr
  • 3.4. Freund oder Feind? Der Generaleinnehmer Joseph Joachim Tschiderer und der Syndikus Joseph Vinzenz Guntram von Aschauer
  • 3.5. Ein letzter Versuch: Die Erneuerung des Perpetuierlichen Kongresses 1789
  • 3.5.1. Der Vinschger Viertelsvertreter: Johann Sebastian von Friderici
  • 3.5.2. Unterrichters Nachfolger: Der Verordnete Joseph Anton von Hippoliti
  • B. Krise und Reaktion
  • I. Krisenindikatoren
  • 1. Bischöfe, Orden und Geistliche
  • 2. Der letzte österreichische Türkenkrieg
  • 2.1. Getreideknappheit und -teuerung
  • 2.2. Kriegssteuer
  • 2.3. Konskription- und Werbbezirkssystem
  • 3. Revolutionsideen und -nachrichten aus Frankreich und der Österreichischen Niederlande
  • 3.1. Zensur der Tiroler Zeitungsblätter
  • 3.2. Geheime Polizeiarbeit der Oberösterreichischen Polizeidirektion
  • II. Herrschaftsantritt und Landesvisitation: Peter Leopolds Reise durch Tirol
  • C. Kooperation und Legitimation
  • I. Der Offene Tiroler Landtag 1790: Funktionen und 
Vorbereitungen
  • 1. Das innenpolitische Programm von Leopold II.
  • 2. An der Wiener Front: Johann Christoph von Unterrichter
  • 3. Erzherzogin Maria Elisabeth: Dynastische Repräsentantin ohne politische Funktion?
  • 4. Aktion und Reaktion: Graf von Sauer kontra die Regierungsopposition
  • 5. Neue politische Protagonisten: Landmarschallamtsverwalter Franz Graf von Wolkenstein-Trostburg und Landtagskommissär Franz Josef Graf von Enzenberg
  • 6. Landtagsorganisation zwischen Gruppenbildung, Streit und Konsens
  • II. Herstellung und Darstellung von Landesherrschaft: Die Tiroler Erbhuldigung von 1790
  • 1. Zur Funktion und Bedeutung von Erbhuldigungen im Zeitalter des Aufgeklärten Absolutismus in Tirol 
(1740–1792)
  • 2. Ranghierarchien und -streitigkeiten
  • 3. Nebenschauplätze der Herrschaftssicherung
  • 4. Landesherrschaftliche Legitimation pur
  • III. Landtagsnormen und -praxis
  • 1. Gottesdienste: Marken für Anfang und Ende
  • 2. Ordnungen: Abbilder ständischer Hierarchien
  • 2.1. Sitz- und Raumordnung
  • 2.2. Umfrageordnung
  • 3. Verfahren: Herstellung und Darstellung verbindlicher Entscheidungen
  • 3.1. Beschwerdevorträge
  • 3.2. Kommissionsverfahren: Ausscheidungs- und Ausarbeitungskommission
  • 3.3. Wahlverfahren
  • 3.3.1. Auf dem Landtag: Skrutatoren, Stimmzettel und Wahlakt
  • 3.3.2. Fallbeispiel: Erste Landeshauptmannwahl in der Tiroler Landesgeschichte
  • 4. Symbolfigur der ständisch-landesfürstlichen Verhandlungen: Bauerndeputierter Johann Franz Michael Senn
  • Fazit
  • Verzeichnis der Abkürzungen und Siglen
  • Quellen und Literatur
  • Ungedruckte Quellen
  • Gedruckte Quellen und Quelleneditionen
  • Sekundärliteratur
  • Bildnachweis
  • Personenregister
  • Ortsregister

Einleitung

„Denn Herrschaft ist im Alltag primär: Verwaltung“1, konstatierte Max Weber im Soziologieklassiker „Wirtschaft und Gesellschaft“. Obgleich das Webersche Top-Down-Herrschaftskonzept legalen Charakters, wonach der Wille (Befehl) des/der Herrscherenden von dem/den Beherrschten um seiner selbst willen ausgeführt und zur Maxime ihres Handelns (Gehorsam) erklärt wird,2 an der Weigerung des Gehorsams gegenüber einem legalen Befehl scheitert, behält die zitierte Maxime Webers mit Blick auf die staatlichen Strukturen weiterhin an allgemeiner Gültigkeit und bildet eine meiner forschungsleitenden Hypothesen. Denn auch im frühneuzeitlichen Staatsbildungsprozess wurde Herrschaft im Alltag vorwiegend über Bürokratie ausgeübt, wobei Verwaltungsarbeit beständig auf reziproker Kommunikation beruhte.3

In Anlehnung an jüngere kommunikationstheoretische Konzepte4 werden hier die leitenden Untersuchungskategorien „Herrschaft und Verwaltung“ anwendungsbezogen definiert und neu gedacht: Während Herrschaft als „dynamischer und kommunikativer Prozess“5 zu begreifen ist, wird Verwaltung „als genuiner Bestandteil des politischen Prozesses verstanden und Politik nicht mehr nur auf den Gesetzgeber reduziert.“6 So spielte sich Herrschaft nicht allein zwischen Herrschenden und Beherrschten ab, sondern es finden sich „andere Agenten und Referenzebenen, Personen ebenso wie Medien und Strukturen, die von Herrschenden wie von Beherrschten gemeinsam als Verständigungsrahmen akzeptiert und immer wieder neu bestätigt bzw. diskursiv verändert wurden.“7 Grundsätzlich war Herrschaft immer „den Gesetzmäßigkeiten von Kommunikationsstrukturen unterworfen. Kommunikation stellte für Herrschaft eine wichtige Voraussetzung und Funktion dar.“8 Als Kommunikationsagenten etablierten sich „,soziale‘ Systeme wie die Verwaltung […], in denen sich Herrschaftsbeziehungen beispielhaft verdichteten und organisierten.“9 Ob die bürokratischen Kommunikations- und Interaktionsprozesse, sprich die alltägliche Herrschaftspraxis, funktionierten, korrelierte mit der Bereitschaft zur Zusammenarbeit und der Kooperation zwischen Institutionen, Amtsträgern und allen in irgendeiner Weise daran partizipierenden Akteuren. Es besteht also die Notwendigkeit zur Einbeziehung der Bottom-Up-Perspektive; Stefan Brakensiek hat zurecht festgestellt: „Ob einem herrschaftlichen Befehl […] der erwartete Gehorsam folgte, ist nur im Einzelfall zu klären, denn die Umsetzung konnte verweigert, umgangen oder uminterpretiert werden.“10

Anhand des vorgestellten Konzepts von „Herrschaft und Verwaltung“ wird in der vorliegenden Monografie die Tiroler Landschaft als der regionale Herrschafts- bzw. Verwaltungsapparat während der politisch-gesellschaftlichen Umbruchszeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts untersucht. Ende der 1740er-Jahre setzte unter Maria Theresia (1717–1780)11 eine beispiellose Reformära in der Habsburgermonarchie ein, die sich unter der zehnjährigen Alleinherrschaft Josephs II. (1741–1790)12 intensivierte und sich am Ende zu einer existenzbedrohenden Krise für das Haus Österreich entwickelte, die unter der kurzen Regierung Leopolds II. (1747–1792)13 überwunden wurde. Die Implementierung der maria-theresianischen und josephinischen Reformen im lokalen Raum bedingte die Etablierung einer modernen Staatsverwaltung in der Hauptstadt Wien und den Ländern, die bis an die Städte bzw. Grundherrschaften reichen sollte; es wurde erwartet, dass sich daraus eine bürokratische Herrschaftspraxis entwickelt, die die Menschen im Alltag vor Ort erreichen sollte. Das Vordringen der Staatsgewalt in das regionale und lokale Milieu zielte auf die Beseitigung der Abhängigkeit der königlichen bzw. landesfürstlichen Herrschaft von den Institutionen der Stände in den Ländern, die auf Basis eines regional-kommunal vollfunktionierenden Verwaltungsapparats für die Herrscher Steuern einhoben. Eben weil die Landstände das Steuerbewilligungs- und -einhebungsrecht innehatten, lief der Kontakt zwischen Herrschenden einerseits und Ständen andererseits in der Frühneuzeit vornehmlich über Aushandlungsprozesse, geprägt von abwechselnder Kooperation und Konfrontation, ab.14 Beide Seiten verhandelten stets solange, bis ein Konsens erreicht wurde. Die Bürokratie erlaubte es den Ständen politisch zu agieren, mitzureden und Widerstand gegen die königliche bzw. landesfürstliche Herrschaft zu leisten.15 Kurzum, die Stände herrschten im Alltag über die Verwaltung mit.16

Während des Aufgeklärten Absolutismus der Habsburgermonarchie17 in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unternahm der aufgeklärte Staat aus den ebenerwähnten Gründen unzählige Versuche, die Stände infrastrukturell zugunsten der königlichen bzw. landesfürstlichen Herrschaft zurückzudrängen, indem die landschaftlichen Behörden und Ämter reorganisiert bzw. in die Staatsverwaltung eingegliedert werden sollten.18 In der Forschungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts hat sich hinsichtlich dieser Entwicklungsrichtung, begleitet von Einbußen autonomer Behörden und dem Verlust sinnstiftender Identität der Stände, der historische Topos in der „Entmachtung“, dem „Niedergang“, dem „Ausschalten“ und dem „politischen Stillleben“ des Ständewesens im 18. Jahrhundert manifestiert.19 Die Meistererzählung vom Niedergang des landständischen Systems wurde durch die Geschichtswissenschaft der letzten Jahre falsifiziert; demzufolge versuchten die aufgeklärten Monarchen nicht die landständischen Behördenapparate zugunsten zentralistischer Bestrebungen zu beseitigen, wie in vielen historiografischen Darstellungen fälschlicherweise postuliert wurde, sondern die königliche bzw. landesfürstliche Herrschaft wollte die Landschaften im Sinne der Staatsräson in die eigene Behördenstruktur integrieren, um die Herrschaftsverdichtung auf dem Land voranzutreiben.20

Die Tiroler Landschaft war von den maria-theresianischen und josephinischen Reformen ebenso betroffen wie die Landstände in den anderen Erbländern. Die vorliegende Studie behandelt die Entwicklungsgeschichte des Tiroler Ständewesens während der Reformära von 1754 bis 1790. Angesichts der Überlegungen und Maßnahmen der landesfürstlichen Herrschaft zur Einschränkung der Selbstverwaltung der vier Landstände (Geistlichkeit, Herren und Ritter, Städte und Märkte, Gerichte) möchte ich den personellen und institutionellen Entwicklungsverlauf der Tiroler Landschaft in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nachzeichnen, um den historischen Topos vom „politischen Stillleben“ des Tiroler Ständewesens im Aufgeklärten Absolutismus der Habsburgermonarchie endgültig zu dekonstruieren. Meine Grundthesen lauten: Die Stände haben in Partnerschaft mit der Regionalelite über den Erhalt der autonomen Verwaltungsstrukturen der Tiroler Landschaft in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert kontinuierlich Herrschaft ausgeübt und das starke Abhängigkeitsverhältnis des Landesherrn von den Ständen blieb während dieser Zeit bestehen. Die Strukturen der Landschaft waren lediglich nach außen dem Schein der Erneuerung unterworfen, innerlich wandelte sich die landständische Verwaltungspraxis kaum.

Oder nochmals anders mit folgenden Fragen ausgedrückt: Welche Auswirkungen hatten die maria-theresianischen und josephinischen Verwaltungsreformen auf Personal und Behörden der Tiroler Landschaft in Innsbruck und Bozen? Welche Rolle spielten die Stände im politischen Regionalgeschehen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts?

Über die Herausbildung und das Funktionieren des politischen Systems der Landstände der Habsburgermonarchie in der Neuzeit weiß man trotz vereinzelter jüngerer Sammelbände,21 Monografien22 und unveröffentlichter Habilitationsschriften23 insgesamt recht wenig. Nach fast 40 Jahren ist die Feststellung Grete Klingensteins zur prekären Forschungslage der Stände in der Habsburgermonarchie24 mit Sicht auf das Untersuchungszeitalter des Aufgeklärten Absolutismus nach wie vor aktuell: „Die Forschungslage ist in höchstem Maße und in jeder Hinsicht unbefriedigend. Die Stände gelten in der herkömmlichen Geschichtsschreibung nicht als genuines Problem des aufgeklärten Absolutismus.“25 Das gilt auch für die Tiroler Landschaft in der Frühneuzeit im Allgemeinen und im Aufgeklärten Absolutismus im Besonderen; es handelt sich daher weiterhin um ein Forschungsdesiderat.

Auf breiter Ebene haben sich erstmals zwei Landeshistoriker des 19. Jahrhunderts mit dem Tiroler Ständewesen der Frühneuzeit befasst: Der Benediktiner Albert Jäger (1801–1891) legte 1848 eine 56 Seiten starke Abhandlung über Ursprung, Institutionen und spezifische Wirksamkeit der Tiroler Landschaft vor, womit er sich gegen die Forderungen der liberal-demokratischen Kräfte der Revolution von 1848/49 im Kaisertum Österreich nach einer parlamentarischen Verfassung und modernen Volksvertretung richtete.26 Josef Egger (1839–1903) vervollständigte mit der Studie „Die Entwicklung der alttirolischen Landschaft“27 und den letzten beiden Teilen der monumentalen dreibändigen „Geschichte Tirols“28 ein erstes Gesamtbild über die Tiroler Landschaft in der Frühen Neuzeit. Unter Rückgriff auf die reichen Bibliotheks- und Urkundenbestände des Tiroler Landesmuseums Ferdinandeum erarbeitete der Bibliothekskustos Egger die wohl bis dato quellenfundierteste Landesgeschichte und reihte sich damit in den Kreis liberal denkender Historiker der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wie Adam Wolf (1822–1883) oder Franz Xaver von Krones (1835–1902) ein, die konservative Schriftsteller verurteilten; so intrigierte Egger 1893 in den regionalen Zeitungsblättern, rigoros in der Wortwahl, gegen den Konservativen P. Martin Kiem (1829–1903), der die Wiedereinführung der altständischen Verfassung und verlorengegangenen Privilegien (Rechte und Freiheiten) der Stände herbeisehnte.29

Die Monografien Werner Köflers „Land – Landschaft – Landtag. Geschichte der Tiroler Landtage von den Anfängen bis zur Aufhebung der landständischen Verfassung 1808“30 von 1985 und Richard Schobers „Geschichte des Tiroler Landtages im 19. und 20. Jahrhundert“31 von 1984 bildeten im Anschluss an die Arbeiten Jägers und Eggers die ersten neueren und bisher einzigen Gesamtdarstellungen zur Geschichte der Tiroler Landschaft in der Neuzeit. Das Überblickswerk Köflers für die Frühneuzeit weist allerdings ein großes Manko auf: Es konzentriert sich inhaltlich zu stark auf die Entwicklungen und Aufgaben der Landstände im 16. und 17. Jahrhundert, wohingegen das 18. Jahrhundert nur allzu spärlich behandelt wird. Das landesgeschichtliche Werk Helmut Reinalters aus dem Jahre 1974 zur Geschichte Tirols in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts32 löst das Defizit nicht, da es auffallend stark Bezug auf den dritten Band der „Geschichte Tirols“ von Josef Egger nimmt. Der besondere Wert von Reinalters Publikation liegt in der registrierenden Literaturzusammenschau, was ebenso auf die landesgeschichtlichen Ausführungen zum späten 18. Jahrhundert von Georg Mühlberger im Großabschnitt „Absolutismus und Freiheitskämpfe (1665–1814)“33 der letzten mehrbändigen „Geschichte des Landes Tirol“ zutrifft, die mittlerweile ebenso in die Jahre gekommen ist.

Speziell für die Tiroler Stände in der maria-theresianischen, josephinischen und leopoldinischen Zeit liegen eine Reihe älterer und neuerer regionalhistorischer Untersuchungen vor: Berthold (von) Zingerle rekonstruiert in seiner unveröffentlichten Dissertation „Der Gedanke der landständischen Freiheit in den Tiroler Landtagsverhandlungen 1740–1780“34 von 1936 das Kräftemessen der Stände mit der Landesherrschaft um Erhalt der landschaftlichen Freiheiten während der vier maria-theresianischen Regierungsjahrzehnte. Der Interpretation der ständisch-landesfürstlichen Beziehung als „ständigen Kampf der Landschaft um die Behauptung der ständischen Macht und die Erhaltung ihrer Rechte und Freiheiten“35 legt Zingerle einen Herrschaftsbegriff zugrunde, wonach nur die ununterbrochene Wahrnehmung von Rechten und Freiheiten, speziell des Steuerbewilligungsrechtes und der Militäradministration, den Einfluss der Stände auf die kommunale Ebene und die Gerichte sicherte. Am Beispiel der Entwicklungen verschiedener ständischer Organe und Ämter deutet Astrid von Schlachta in mehreren Aufsätzen das ständisch-landesfürstliche Verhältnis in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts neu, indem es ihr gelingt aufzuzeigen, dass unter Maria Theresia vorherrschend Versuche zur Zurückdrängung der ständischen Selbstverwaltung und Eingliederung ständischer Behörden als auch Ämter in den landesfürstlichen Verwaltungsapparat die ständisch-landesfürstlichen Aushandlungsprozesse bestimmten.36 Basierend auf einer Diskursanalyse widmete sich in der jüngeren Vergangenheit gleichfalls Margret Friedrich der ständisch-landesfürstlichen Kommunikation in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und konnte so ein neues politisches Selbstverständnis der Landesfürsten und Stände herausarbeiten.37

Einen weiteren Aspekt der Ständegeschichte in den kurzen leopoldinischen Regierungsjahren 1790 bis 1792 haben im 20. Jahrhundert Adam Wandruszka und Miriam Janice Levy in mehreren Studien aufgearbeitet: Beide untersuchen die konfliktreiche Wechselbeziehung zwischen den italienischen Städten, Märkten und Gerichten in den Welschen Konfinen zu den Tiroler Landständen einerseits und Leopold II. andererseits auf dem Weg in Richtung Landstandschaft.38 Meine Edition „Der Offene Tiroler Landtag von 1790“ und der Aufsatz „Der letzte Offene Tiroler Landtag 1790“39 richten den Blick ebenso auf die Stände in leopoldinischer Zeit. Darin werden detailliert Funktionen und Abläufe der letzten Vollversammlungen der Landstände im 18. Jahrhundert aus der Innenansicht eines städtischen Deputierten beschrieben.

Die Defizite an regionaler Ständeforschung zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts machten gründliche Archivrecherchen unabdingbar: Besonders aufschlussreich war und ist das Landschaftliche Archiv in Innsbruck als wichtigste Anlaufstelle für die Geschichte des Tiroler Ständewesens.40 Der Bestandskorpus „Verhandlungen der Landschaft“, welcher sich in die Reihen „Landtag und Engerer Ausschuss 1443–1785“, „Steuerkompromissakten 1730–1785“, „Innsbrucker Aktivitätsprotokolle 1730–1787“ und „Bozner Aktivitätsprotokolle 1723–1783“ gliedert, beinhaltet in Buchform sämtliche Protokolle der ständischen Behörden und Zusammenkünfte in Innsbruck und Bozen wie auch Korrespondenzen mit über- und untergeordneten landesfürstlichen Institutionen und Amtsträgern.41 Im Jahre 1786 hörte die ständische Registratur mit der Aktenbindung auf. Die Unterlagen der ständischen Behörden und Zusammenkünfte in Innsbruck und Bozen wurden seither im losen Bestand „Landtagsakten“ abgelegt.42 Drei Jahre später, 1789, trat für die Korrespondenzen der Fundus „Jüngere Provinciale“ hinzu. Hintergründe und Kuriositäten im politischen Geschehen der Tiroler Landschaft offenbarte ein Sensationsfund im hauseigenen Archiv der Tiroler Matrikelstiftung: die 5000 Seiten starke Geschichte des Bozner Patriziergeschlechts Giovanelli von Gesterburg und Hörtenberg.43 Sie wurde zwischen 1921 und 1940 von Ferdinand von Giovanelli auf Basis des heute verschollenen Giovanelli Archivs angefertigt und beinhaltet üppige Exzerpte unbekannter Korrespondenzen ranghoher Beamter und Verordneter der Tiroler Landschaft, die eben Teil der Regionalelite waren. Die Bedeutung der Familie liegt darin, dass sie seit dem 16. Jahrhundert das ständische Kredit- und Finanzwesen verantwortete und deshalb über die nachfolgenden Jahrhunderte bedeutende Posten in der Tiroler Landschaft okkupierte.

Über den Konterpart zur landständischen Sichtweise, der landesfürstlichen Herrschaft, informiert das landesfürstliche Archiv – archivintern: „Jüngeres Gubernium“ – im Tiroler Landesarchiv, welches dem Provenienzsystem folgend säuberlich fein sortiert nach verschiedenen Sachgebieten (Publica, Salz etc.) geordnet ist. Persönliche Akten der Oberösterreichischen Gouverneure und Tiroler Landeshauptleute Johann Gottfried Graf von Heister (1718–1800, reg. 1773–1786) und Wenzel Ferdinand Kajetan Graf von Sauer (1742–1799, reg. 1786–1790) betreffend Informationen der öffentlichen Ordnung, Ruhe und Sicherheit hingegen wurden im Sonderbestand „Präsidiale“ abgelegt.44 Relevante Korrespondenzen mit den Wiener Behörden der Jahre 1754 bis 1790 liegen in den Beständen „Ständische Verfassung, Tirol“, „Landtage, Postulate, Exzesse, Tirol“ und „Anstalten gegen Tumulte, Tirol“ in der Abteilung Allgemeines Verwaltungsarchiv im Österreichischen Staatsarchiv, wo auch die zum Teil schwer beschädigten Protokollbücher der Vereinigten Böhmisch-Österreichischen Hofkanzlei vorfindig sind;45 es ist anzumerken, dass durch den Justizpalastbrand von 1927 ca. 75 Prozent der Gesamtbestände zerstört wurden46 und es sich bei den meisten erhaltenen Dokumenten um sogenannte „Brandakten“ handelt. Der Schriftverkehr zwischen den beiden erwähnten Gouverneuren und Landeshauptleuten mit den Tiroler Landesherren hat in den „Kaiser-Franz-Akten“ ebenso wie die Staatsratsprotokolle auf Mikrofilm in der Abteilung Haus-, Hof- und Staatsarchiv im Österreichischen Staatsarchiv die Zeit unbeschadet überlebt.

Ein einzigartiges Sammelsurium für die Neubetrachtung der ständisch-landesfürstlichen Beziehungen in der Frühneuzeit ist die Bibliothek des Tiroler Landesmuseums Ferdinandeum,47 worin sich u. a. der Bestand „Dipauliana“ befindet. Sie enthält den Nachlass des Stifters und Namensgebers Andreas Alois Dipauli (1761–1839), eine unvorstellbar große Sammlung aus seltenen Drucken, Tagebüchern, politischen Korrespondenzen, Konzeptpapieren, Gesetzesstexten und vielem mehr.48

Der Konnex von „Ständen & landesfürstlicher Herrschaft“ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird anhand dreier Etappen nachvollziehbar, die mit dem dreigliedrigen Aufbau dieser Monografie korrespondiert: Im ersten Großabschnitt „Wandel und Kontinuität“ werden Ursachen und Unternehmungen der Landesherrschaft zur Zurückdrängung der landständischen Selbstverwaltung, die 1754 einsetzten und 1789 endeten, und ihre Wirksamkeit im Zusammenspiel mit der regionalen Elite, den Bozner Kaufherren, in den Blick genommen. Speziell die Regierungsjahre des Josephiners Grafen von Sauer 1786 bis 1790 markierten eine (kurze) Zäsur der von Korruption, Patronage und Klientelismus durchdrungenen Landespolitik, die insbesondere Verordnete, Beamte und Institutionen der Tiroler Landschaft (be-)traf. Das zweite Großkapitel „Krise und Reaktion“ behandelt das Scheitern der aufgeklärten Landesherrschaft Sauers im regionalen Kontext, woran die Partnerschaft aus Ständen und Regionalelite wesentlich mitschuldig war. Die Habsburgermonarchie befand sich eben um 1789/90 im Krisenmodus und mit den lang- bzw. kurzfristigen (Re-)Aktionen versuchte die landesfürstliche Herrschaft eine befürchtete Revolution in Tirol zu verhindern. Die Konsolidierung der bedrohten Landesordnung über die Landstände wurde erst mit dem Erbhuldigungslandtag von 1790 erreicht, der im letzten Großkapitel „Kooperation und Legitimation“ erschöpfend thematisiert wird. Neben einer Darstellung der Erwartungen und der Genese der Ständevollversammlung werden die ständisch-landesfürstlichen Kommunikations- und Interaktionsprozesse der ersten Erbhuldigung nach 79 Jahren und des ersten Offenen Landtags (Volllandtag, Generallandtag) nach 70 Jahren mit dem Konzept der „Symbolischen Kommunikation“, das zum besseren Verständnis frühneuzeitlicher „Herrschaft und Verwaltung“ supplementär beiträgt, analysiert.

Das Konzept der „Symbolischen Kommunikation“ beantwortet Fragen zur Entwicklung und Denkweise vormoderner Gesellschaften, da nämlich laut einer These Barbara Stollberg-Rilingers hinter symbolisch-rituellen Handlugen ein hohes „Maß an reflektiertem Kalkül“49 steckt. Der Betrachtungsfokus wird auf die Symbolisierung im engeren Sinne gelegt. „Dann meint man mit Symbolen eine besondere Art von Zeichen, nämlich anschaulich verdichtete, durch Ähnlichkeitsbeziehungen motivierte, nicht völlig arbiträre und abstrakte Zeichen.“50 Konkret sind das: Gemälde, Artefakte oder komplexe symbolische Handlungssequenzen wie bspw. Rituale, Zeremonien, ständische Versammlungen etc. Grundsätzlich kann sich alles zu einem Symbol wandeln.51 Aufgrund dessen schreibe ich unter Rückgriff auf die Hypothesen Stollberg-Rilingers den Symbolen vier Eigenschaften zu:

(1.) Symbole sind mit den Sinnen erfassbar und momenthaft. Ihre visuelle Wahrnehmbarkeit zieht die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich, was ein spärliches und kostbares soziales Gut darstellt. Die Botschaften werden nicht ausdrücklich und argumentativ kommuniziert, sondern appellativisch und implizit. Der suggestiven Wirkkraft von Symbolen kann sich der Rezipient nicht entziehen.52

(2.) Symbole können ihrerseits in nahezu unbegrenztem Ausmaß auf eine völlig neue Art und Weise dargestellt werden; so werden sie zum Inhalt von Gedichten oder Theaterstücken, „so daß ein hochkomplexes Geflecht von Verweisen entsteht, ein prinzipiell unabgeschlossenes Netzwerk von Assoziationen und Bezügen, die auf immer neue Weise fruchtbar gemacht werden können.“53

(3.) Symbole sind aufgrund vielfältiger Bedeutungszuschreibungen missverständlich und unklar. Doch eben weil „ihre Bedeutungen diffus sind, können sie Deutungsunterschiede und den Dissens, der ihnen zugrunde liegt, unsichtbar machen. Das erleichtert kollektives Handeln. Für dauerhafte institutionelle Stabilisierung sind solche symbolische Konsensfiktionen geradezu unerläßlich.“54

(4.) Symbole wirken ordnungsstabilisierend. Sie bieten Identifikationsangebote und geben durch die Möglichkeit zur Inszenierung von Ordnungen soziale Orientierung. „Ephemere und erst recht stabile soziale Gruppen formieren sich um Symbole, weil sie durch Symbole überhaupt erst für einander und nach außen als Gruppen wahrnehmbar sind.“55


1 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 19855, 126.

2 Ebd., 544.

3 Wolfgang Reinhard, Zusammenfassung: Staatsbildung durch „Aushandeln“?. In: Ronald G. Asch/Dagmar Freist (Hg.), Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, Wien–Köln–Weimar 2005, 429–437, hier 430 f.

4 Resümierend: Thomas Winkelbauer, „Verwaltungsgeschichte der Habsburgermonarchie in der Frühen Neuzeit“ in drei Bänden – ein groß angelegtes internationales Kooperationsprojekt. In: Ders./Michael Hochedlinger (Hg.), Herrschaftsverdichtung, Staatsbildung, Bürokratisierung. Verfassungs-, Verwaltungs- und Behördengeschichte der Frühen Neuzeit (VIÖG 57), Wien 2010, 9–20, hier 15–17.

5 Vgl. Markus Meumann/Ralf Pröve, Die Faszination des Staates und die historische Praxis. Zur Beschreibung von Herrschaftsbeziehungen jenseits teleologischer und dualistischer Begriffsbildungen. In: Dies. (Hg.), Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Umrisse eines dynamisch-kommunikativen Prozesses (Herrschaft und soziale Systeme in der Frühen Neuzeit 2), Münster 2004, 11–49.

6 Stefan Haas/Mark Hengerer, Zur Einführung: Kultur und Kommunikation in politisch-administrativen Systemen der Frühen Neuzeit und der Moderne. In: Dies. (Hg.), Im Schatten der Macht. Kommunikationskulturen in Politik und Verwaltung 1600–1950, Frankfurt am Main–New York 2008, 9–22, hier 10.

7 Meumann/Pröve, Herrschaftsbeziehungen, 45.

Details

Seiten
254
Jahr
2023
ISBN (PDF)
9783631893678
ISBN (ePUB)
9783631893685
ISBN (Hardcover)
9783631893661
DOI
10.3726/b20396
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (November)
Schlagworte
Österreichische Geschichte Tiroler Landesgeschichte 18. Jahrhundert Ständegeschichte Verwaltungsgeschichte Herrschaftsgeschichte
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2023. 254 S., 7 farb. Abb.

Biographische Angaben

Julian Lahner (Autor:in)

Julian Lahner ist freiberuflicher Historiker und Gymnasiallehrer für Geschichte und Philosophie in Südtirol (Italien). Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören u.a. die Reichskirchengeschichte und die frühneuzeitliche Verwaltungsgeschichte.

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Titel: Stände & landesfürstliche Herrschaft