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Russlands Letzte Adressen

Gesellschaftliches Erinnern an die Opfer des Stalinismus

von Melanie Hussinger (Autor:in)
©2022 Monographie 132 Seiten
Reihe: Menschen und Strukturen, Band 25

Zusammenfassung

Postkartengroße Edelstahltäfelchen fallen aufmerksamen Passantinnen und Passanten russischer Groß- und Kleinstädte seit 2014 ins Auge. Gewidmet sind die Erinnerungszeichen an den Hausfassaden jenen Menschen, die im Zuge der sowjetischen Repressionen aus ihren Wohnungen verschleppt wurden. Ihre Namen bringt das partizipative Gedenkprojekt Poslednij Adres (dt. Letzte Adresse) mit den Tafeln zurück zu den vormaligen Wohnadressen. Dieses Buch verortet Poslednij Adres als neue und innovative Form des zivilgesellschaftlichen Gedenkens innerhalb der russischen Erinnerungslandschaft und geht dabei von verschiedenen Perspektiven aus der Frage nach, welche Bedeutung dem Projekt für das Erinnern an den staatlichen Terror der Sowjetunion in Russland beigemessen werden kann.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Prolog
  • 1. Einleitung
  • 2. Zeitschichten der Erinnerung
  • 2.1. Stalinismus und Großer Terror
  • 2.2. Entstalinisierung unter Nikita Chruščëv
  • 2.3. Perestrojka und Rehabilitierungen
  • 3. Eine gedächtniskulturelle Annäherung
  • 4. Genese, Protagonist:innen, Realisation
  • 4.1. Die Rolle der NGO Memorial
  • 4.2. Das initiierende Kollektiv
  • 4.3. Voraussetzungen des Gedenkens
  • 4.4. Berichterstattung und mediale Verbreitung
  • 5. Die russische Erinnerungslandschaft
  • 5.1. Orte der Erinnerung und zivilgesellschaftliches Gedenken
  • 5.2. Ein neues Gedenkritual im öffentlichen Raum
  • 5.3. Poslednij Adres im Stadtraum
  • 5.4. Resümee
  • 6. Poslednij Adres, Staat und Gesellschaft
  • 6.1. Konfrontation mit Behörden und Staat
  • 6.2. Reaktionen von Hausbewohner:innen
  • 6.3. Vandalismus
  • 6.4. Erinnern an kontroverse Persönlichkeiten
  • 6.5. Resümee
  • 7. Poslednij Adres und Stolpersteine – Ein transnationaler Ansatz der Erinnerung?
  • 8. Schluss
  • Quellen- und Literaturverzeichnis
  • Reihenübersicht

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1. Prolog

Am 24. März 2022 versammelte sich eine kleine Gruppe, etwa zehn Personen, an der ulica Gal’perina 11b in Perm, der Millionenstadt im Uralvorland. Sie trafen sich, um ein kleines stählernes Gedenktäfelchen an der Fassade eines Hauses anzubringen. Eingraviert steht darauf der Name Fëdor Anisimovič Lanzetov. Ein Name. Ein Leben. Ein Zeichen.

Fëdor Anisimovič Lanzetov wurden als Direktor des Militärwerks Nr. 98 – des heutigen Permskij porochovoj zavod (dt. Permer-Schießpulverfabrik) – im Jahre 1938 konterrevolutionäre Aktivitäten und Sabotage vorgeworfen. Erst ein Jahr zuvor hatte man ihn zum Leiter des Betriebes ernannt. Die fingierten Ermittlungen zogen sich über zwei Jahre hin. Im August 1940 befand ihn ein Beschluss der Sondersitzung des NKVD der Mitgliedschaft in einer „antisowjetischen trotzkistischen Organisation und Sabotage in der Verteidigungsindustrie“ für schuldig. 1941 verstarb er im GULag.1 Die Biographie des 1902 in einer Bauernfamilie geborenen Lanzetovs kann stellvertretend für das Schicksal Vieler in der frühen Sowjetunion gesehen werden. Sie war geprägt von einem kometenhaften Aufstieg in den Reihen der Bolschewiki nach der Oktoberrevolution und dem schlagartigen Fall in den Jahren 1936 bis 1938. Doch nicht nur die Elite des Sowjetstaates, die Nomenklatura, fiel den Stalinistischen Säuberungen zum Opfer. Lanzetovs abrupte Verhaftung, die politische Verfolgung und letztlich auch der Tod wiederholten sich hunderttausendfach. Die Repressionen konnten im Großen Terror der Jahre 1936 bis 1938 alle Sowjetbürger:innen treffen.

Das kleine gravierte Edelstahltäfelchen an der Hausfassade des ehemaligen Büros Fëdor Lanzetovs ist Teil einer russlandweiten – inzwischen sogar internationalen, postsozialistischen – Gedenkbewegung Poslednij Adres, die Letzte Adresse. Poslednij Adres erinnert an die Repressionsopfer des sowjetischen Staates und bringt ihre Namen in die Städte und Dörfer zurück. Initiiert wurde das kleine Gedenkschild in Perm von Elena Vaganova, der Leiterin des Werksmuseums des Permskij prochovoj zavod, dem traditionsreichen Hersteller von Kriegsmunition. Die Geschichte des Betriebs reicht bis in die Zeit der forcierten Industrialisierung Ende der 1920er Jahre zurück. Industrielle Sprengstoffe ←7 | 8→produziert er seit 1934, wobei sich die Fabrik besonders für ihren Dienst im Großen Vaterländischen Kriege ausgezeichnet habe, als sie auch unter Belagerungszustand weiterarbeitete.2

Am 24. Februar 2022, einen Monat vor der Gedenkschildinstallation, begann der russische Staat seinen Angriffskrieg auf die Ukraine. Dieser Krieg, der bereits jetzt, knapp zwei Monate nach der Invasion, tausende unschuldige ukrainische Zivilist:innen- und Soldat:innenleben forderte, schuf innerhalb Russlands ein neues Klima der Angst und Unterdrückung unter jenen, die sich öffentlich gegen den Krieg bekennen. „Wir brauchen Frieden!“ („Нам нужен мир!“), appellierte die zivilgesellschaftliche Initiative Poslednij Adres auf ihrer Website Anfang März. Kurz zuvor waren hier noch deutlichere Worte zu lesen: „Wir sind gegen den Krieg“ („Мы против войны“). Den Krieg innerhalb Russlands öffentlich als solchen zu bezeichnen – offiziell handelt es sich um eine „Spezialoperation“ – wird inzwischen mit Landes- und Staatsverrat abgestraft. Anfang März 2022 verabschiedete die Duma mehrere Gesetze, die jegliche Berichterstattung über das Militär, die nicht dem Wortlaut des Verteidigungsministeriums entspricht, ahnden. Von diesem drastischen Mediengesetz sind insbesondere auch ausländische Medienanstalten betroffen, die ihre Arbeit in Russland zeitweise unterbrachen.3 Viele, vor allem junge Russ:innen, die kurz nach der Invasion in Sankt Petersburg, Irkutsk oder Moskau gegen den Krieg auf den Straßen demonstrierten, wurden verhaftet, verurteilt und inhaftiert. Tausende verließen Russland.

Diese neue Repressionswelle in Zeiten des Krieges verschafft den Erinnerungsinhalten des Kommemorationsprojektes Poslednij Adres eine ungeahnte Aktualität. Paradox scheint, dass während des Krieges gegen die Ukraine an einer russischen Militärfabrik, die Raketen-Sprengladungen herstellt, die ukrainische Städte zerbomben, eine Tafel für einen repressierten ehemaligen Direktor eingeweiht wird. Patriotische Selbstinszenierung und Glorifizierung des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg sowie das Erinnern an die Opfer der sowjetischen Repressionen stehen innerhalb der russischen Erinnerungskultur unvermittelt nebeneinander. Produziert wird die Erinnerung an die Opfer des sowjetischen Staates jedoch vornehmlich von der Zivilgesellschaft. Poslednij ←8 | 9→Adres ist Ausdruck einer solchen Bewegung, die daran erinnert, dass inmitten der Stadt Wohnadressen zu Tatorten wurden. Dass Menschen unschuldig verhaftet, ins GULag verschleppt oder erschossen wurden. Die Initiative verdeutlicht, dass diese Ereignisse Jahrzehnte nachwirken und innerhalb der russischen Gesellschaft auch heute das Bedürfnis besteht, an die Opfer der politischen Repressionen zu erinnern.

Dieses Buch ist eine Studie zum Gedenkprojekt Poslednij Adres. Mein Buch folgt der Überzeugung, dass die Initiative für die russische Erinnerungskultur eine neue und innovative Form des Gedenkens darstellt. Poslednij Adres berührt noch kaum ausgehandelte Fragen der sowjetischen Geschichte, etwa die Zuschreibungen von Täter- und Opfersein4 im Stalinismus. Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass meine Studie einen Untersuchungszeitraum bis 2020 abdeckt. Da der 24. Februar 2022 eine Zäsur für die russische Erinnerungskultur und -politik darstellen wird, historisieren sich womöglich die betrachteten Inhalte. Neuere Entwicklungen, wie die gerichtlich beschlossene Schließung der Dachorganisationen Memorials im Dezember 2021 sowie die weitestgehend abgeschnittene Möglichkeit der neutralen Berichterstattung durch unabhängige Medien, werden aufgegriffen. Relevant ist dies im besonderen Maße für Poslednij Adres, da russischsprachige Internet- und Newsportale sowie unabhängige Medien über das Projekt, seine Verbreitung und die persönlichen Geschichten hinter den Schildern berichteten. Diese Medien stehen spätestens seit 2021 stark unter Druck, als im Zusammenhang mit den Duma-Wahlen restriktive Maßnahmen des Staates eingeleitet wurden. Die Medien sind auf (finanzielle) Unterstützung aus dem Ausland angewiesen und innerhalb Russlands sind sie teilweise nicht mehr oder nur noch via VPN erreichbar.5

Mein Buch soll Aufschlüsse über eine russische Erinnerungskultur geben, die nicht nur, wie so oft angenommen, von oben kontrolliert und dominiert, sondern auch von unten gestaltet und mit Leben gefüllt wird. Wie sich die weiteren Entwicklungen nach dem 24. Februar 2022 auf die russische Gedenkkultur, ←9 | 10→insbesondere auf die (unabhängige) gesellschaftliche Teilhabe und Gestaltung, auswirken werden, lässt sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen.


1 So die biographischen Angaben zu Fedor Lanzetov auf der Seite der Bürgerinitiative Poslednij Adres. Vgl. Perm’, ulica Gal’perina, 11b, in: Poslednij Adres. Verfügbar unter: https://www.poslednyadres.ru/news/news1265.htm (abgerufen am 11.05.2022).

2 Hierzu die Selbstdarstellung des Betriebes auf der Website, die eine historische Verortung im Zeichen des Vaterlandsdienstes präsentiert. Vgl. Permskij porochovoj zavod. Verfügbar unter: http://fkpppz.ru/ (abgerufen am 11.05.2022).

3 Vgl. Julian Hans: „Medienzensur in Russland. Ein Land verblasst“, in: Zeit online, 06. März 2022. Verfügbar unter: https://www.zeit.de/kultur/2022-03/russland-mediengesetz-zensur-pressefreiheit-auslaendische-journalisten (abgerufen am 16.07.2022).

Details

Seiten
132
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631888933
ISBN (ePUB)
9783631888940
ISBN (Hardcover)
9783631888926
DOI
10.3726/b20147
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Oktober)
Schlagworte
sowjetische Repressionen partizipative Gedenkprojekt Poslednij Adres russische Erinnerungslandschaft zivilgesellschaftliches Gedenken staatlicher Terror der Sowjetunion in Russland
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 132 S., 2 s/w Abb.

Biographische Angaben

Melanie Hussinger (Autor:in)

Die Autorin Melanie Hussinger studierte European Studies und Osteuropastudien in Passau, Ivanovo und Regensburg. Seit April 2021 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Geschichte Osteuropas und Ostmitteleuropas an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg.

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