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Erinnerungspolitische Verfälschungen in einem Buch über die Jugendbewegung

Eine frappierende wissenschaftslogische Fallanalyse

von Walther Kindt (Autor:in)
©2022 Monographie 196 Seiten

Zusammenfassung

Wie die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung eines Buchs über die Jugendbewegung belegen, werden in der Geschichtswissenschaft und in der Sozialpädagogik wissenschaftslogische Probleme in der Fachliteratur teilweise zu wenig erkannt oder beachtet. Jedenfalls hat man zahlreiche Argumentationsfehler in diesem Buch nicht benannt und sogar wahrheitswidrige Behauptungen aus ihm übernommen. Behauptet wird in diesem Buch u.a., in der bisherigen Forschung seien bestimmte negative Seiten der Jugendbewegung verschwiegen oder verharmlost worden.
Diese und andere Behauptungen beruhen aber oftmals auf falschen Zitaten, unzutreffenden Sachverhalten, unzulässigen Interpretationen oder inkorrekt angewendeten Schlussregeln. Hinzu kommt, dass in dem untersuchten Buch durch das Verschweigen relevanter Fakten teilweise falsche Folgerungen gezogen werden. Insofern ist das Motto dieses Buchs „Verschwiegene Wahrheiten werden giftig“ ihm selbst vorzuwerfen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Übersicht
  • Vorwort
  • 0. Vorbemerkungen zu Zielen und Methodik
  • 1. Erste irritierende Lektüreerfahrungen
  • 2. Detailanalyse von Ausführungen in Niemeyer (2013)
  • 2.1 Falsche Behauptungen und inkorrekte Begründungen
  • 2.2 Methodische Probleme der Jugendbewegungsforschung
  • 2.3 Eine selektive Darstellung der DJB-Entstehung
  • 2.4 Ein unberechtigter Auslassungsvorwurf
  • 2.5 Laqueur und die Kontinuitätsthese
  • 2.6 Verfälschungen in Sachen Pross
  • 3. Im Visier: Einzelne Personen und Begebenheiten
  • 3.1 Fragwürdige Urteile über Menschen
  • 3.2 Zwischenbilanz und fünf Hypothesen
  • 3.3 Behauptungen über den Freideutschen Kreis
  • 3.4 Die spezielle Behandlung des Falls Abetz
  • 3.5 Weitere Belege für die fünf Hypothesen
  • 4. Kritikpunkte und Defizite in Rezensionen
  • 4.1 Kurzbericht über vier Besprechungen
  • 4.2 Ausführliche Rezension eines Historikers
  • 4.3 Noch zwei nicht erkannte Problembeispiele
  • 5. Nachbetrachtungen
  • 5.1 Fazit
  • 5.2 Was ist eine gute wissenschaftliche Praxis?
  • Quellen
  • Literatur

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Vorwort

Wenn man in vergangene Zeiten seines Lebens zurückblickt, dann wird häufig ein Sachverhalt deutlich. Einerseits gibt es bestimmte lebensentscheidende Randbedingungen, auf deren Geltung man keinerlei Einfluss hatte. Andererseits beginnen neue Lebenswege manchmal mit einem Zufall, der er es nahelegt, für eine gewisse Zeit eine neue Richtung einzuschlagen. Diese an sich banale Erkenntnis war auch für die Entstehung der vorliegenden Monographie einschlägig.1 Seine Eltern kann man sich bekanntlich nicht aussuchen und sie nach den eigenen Vorstellungen zu ändern, gelingt im Allgemeinen ebenso wenig. In diesem Sinne ergab es sich zwangsläufig, dass ich der Sohn des späteren Herausgebers Werner Kindt der vor rund 50 Jahren erschienenen dreibändigen Dokumentation über die Jugendbewegung (nachfolgend kurz: DJB) wurde. Zugleich war ich schon in meiner Jugend mit verschiedenen Aspekten der Lebensführung und Gedankenwelt der historischen Jugendbewegung konfrontiert. Auf einen Zufall ist es dagegen zurückzuführen, dass einer meiner Söhne und ich bei einer Internetrecherche auf einen Wikipedia-Eintrag stießen, der verschiedene u.E. problematische Aussagen über die DJB enthält. Deshalb beschlossen wir, uns über den gegenwärtigen Stand der Jugendbewegungsforschung zu informieren. Nach der Lektüre bestimmter Schriften kam ich dann aufgrund meiner speziellen wissenschaftslogischen und linguistischen Interessen zu der Überzeugung, dass wir uns genauer mit der Frage befassen sollten, wie in aktuellen Publikationen methodisch mit den jeweils vorliegenden Quellen und ihrer Interpretation umgegangen wird und inwieweit die Forderung nach expliziten und korrekten Argumentationen erfüllt ist. Konkreter gesagt schien es mir angebracht zu sein, meine langjährigen Erfahrungen aus der argumentationstheoretischen Untersuchung von wissenschaftlichen Arbeiten und z.B. von politischer Kommunikation temporär auch für das geschichtswissenschaftliche Ziel zu nutzen, die in einigen Veröffentlichungen über die Jugendbewegung sichtbar werdenden logischen und methodischen Mängel im Detail zu identifizieren und in einer Publikation zur Diskussion zu stellen. Die gravierendste negative Konsequenz dieser Entscheidung für eine Untersuchung dieses Themas war, dass meine liebe Ehefrau erneut unter ←9 | 10→meinem Studierzimmerdasein leiden musste. Schon deshalb wäre es mir lieber gewesen, wenn wissenschaftslogisch geschulte Historiker/innen die anstehende Aufgabe übernommen hätten, sich mit dem Sachverhalt auseinanderzusetzen, dass es – präziser formuliert – in einigen Arbeiten über die Jugendbewegung bei der Beurteilung von Äußerungen, Einstellungen und Handlungen jugendbewegter Akteure sowie bei der Bewertung von bisherigen historiographischen Untersuchungen aus methodischen oder ideologischen Gründen zu einer unsachgemäßen oder sogar verfälschenden Erinnerung an die ‚historische Wahrheitʻ kommt.

Motivierend war im Vorfeld und bei der Begleitung der vorliegenden Untersuchung auch, dass mich verschiedene Gesprächspartner/innen aufgrund eigener Lektüreerfahrungen in der Absicht bestärkten, Analysen zur Identifizierung derartiger Probleme durchzuführen. An dieser Stelle möchte ich zunächst verschiedenen Experten/innen der Jugendbewegungsforschung pauschal für ihre direkte oder indirekte Unterstützung danken. Namentlich zu erwähnen sind hier Jürgen Reulecke und Ulrich Herrmann. Ihnen verdanke ich viele anregende Gespräche, wichtige Hintergrundinformationen und einen besonderen Zuspruch; speziell hat sich U. Herrmann viel Zeit für die Lektüre einer ersten Version und für Verbesserungsvorschläge genommen. Mehrfach war ich zudem angewiesen auf die freundliche Unterstützung von Susanne Rappe-Weber und ihren Mitarbeiterinnen im Archiv der deutschen Jugendbewegung. Meinem geschichtswissenschaftlich ausgebildeten Sohn danke ich insbesondere für zahlreiche Hinweise zum historischen und politischen Hintergrund und für seine kontinuierliche Mitwirkung an den erforderlichen Recherchen. Schließlich waren auch verschiedene Anregungen eines Gutachters sehr hilfreich. Aus dem schon genannten Grund gilt aber mein hauptsächlicher und besonders herzlicher Dank meiner Frau Karin.

Steinhagen, Juni 2022 Walther Kindt

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0. Vorbemerkungen zu Zielen und Methodik

Mittlerweile kann man auf 75 Jahre Jugendbewegungsforschung mit vergleichsweise vielen Veröffentlichungen zurückblicken. Ihre Fortschritte sind allerdings immer wieder durch bestimmte wissenschaftslogische Probleme sowie durch sach- und personenbezogene Kontroversen beeinträchtigt worden. Schon das Buch „German Youth: bond or free“ von Howard S. Becker (1946) war methodisch umstritten und sorgte für einen langjährigen Streit über das Verhältnis von Jugendbewegung und Hitlerjugend. Aber auch die 2021 erschienene Dissertation „Von linksradikal bis deutschnational“ von Antje Harms hat neben viel Lob zu Recht Kritik in verschiedener sachlicher und methodischer Hinsicht erfahren. Beispielsweise zweifelt Markus Raasch (2021) die zentrale These von Harms an, der Zäsurcharakter des 1. Weltkriegs sei in der Forschung bisher überbetont worden. Außerdem bemängelt er u.a. die unzureichende Begriffsklärung für zentrale Termini wie „Bürgertum“, „völkisch“ und „Nationalismus“. Dieser Mangel macht auch bestimmte Aussagen von Harms z.B. über die generelle Affinität der Jugendbewegung zu völkischem und nationalistischem Denken problematisch (so z.B. auf S. 21 und 49), für die sie sich unkritisch und ohne konkrete Verweise auf das Buch von Christian Niemeyer (2013) bezieht. In gewissem Sinne widerspricht sie damit sogar ihren eigenen Untersuchungsergebnissen über die unterschiedlichen politischen Strömungen in der Jugendbewegung.

Einer der Gründe für die Schwierigkeiten von Untersuchungen über die Jugendbewegung liegt in der unzureichenden logischen Durchdringung der komplexen Rückschlüsse von den jeweiligen empirischen Daten auf logisch zuverlässig abgeleitete Aussagen. Ohnehin war die deutsche Jugendbewegung zu keiner Zeit eine einheitliche Erscheinung. Insofern sind etliche der in der Literatur gefolgerten Verallgemeinerungen fragwürdig. Solche Rückschlussprobleme lassen sich im Prinzip nur durch eine verstärkte wissenschaftslogische Kontrolle vermeiden und das möglichst schon beim Veröffentlichen von Forschungsergebnissen. Grundsätzlich sollte aber jede Forschungsrichtung einer Disziplin zusätzlich das Ziel verfolgen, gelegentlich rückwirkend zu überprüfen, ob die bisher vorliegenden Arbeiten allen wünschenswerten argumentativen und methodischen Standards genügen und ob evtl. auch eine Berücksichtigung von diesbezüglich neuen Erkenntnissen zweckmäßig wäre. Dass eine solche Überprüfung vielfach unterbleibt, ist offensichtlich u.a. darauf zurückzuführen, dass es im Studium vieler Universitätsfächer keine einschlägigen wissenschaftslogischen Lehrveranstaltungen mit einer expliziten Argumentationsschulung gibt. Deshalb wäre es m.E. angebracht, wenn ähnlich so wie früher an ←11 | 12→manchen Universitäten zu Studiumsbeginn ein wissenschaftslogisches Propädeutikum angeboten würde, das dann allerdings den heutigen Erkenntnissen über Theorienbildung und -dynamik entsprechen müsste. In Ermanglung einer entsprechenden Schulung wird gutes wissenschaftliches Handeln weitgehend nach dem Prinzip des Lernens am positiven Modell (Vorbild) erworben. Ein gravierender Nachteil dieses Lernverfahrens besteht aber darin, dass die wissenschaftslogische Kompetenz bei Forscher/innen dann nicht notwendigerweise mit einer bewussten und expliziten Kenntnis der relevanten argumentativen und methodologischen Regeln einhergeht. Das erschwert sowohl eine logische Kontrolle eigener wissenschaftlicher Arbeiten als auch eine Identifizierung von Mängeln in den Veröffentlichungen anderer Autoren/innen. Dieses Problem soll in der vorliegenden Untersuchung an besonders gravierenden und oft nicht ohne weiteres erkennbaren Beispielen von fragwürdigem wissenschaftlichem Verhalten exemplarisch demonstriert werden. Um dieses Ziel zu erreichen, werden im Folgenden hauptsächlich einige Teile eines Buchs über die Jugendbewegung sukzessiv und im Detail wissenschaftslogisch analysiert. Dieses Buch wurde deshalb für die Analyse ausgewählt, weil dort besonders viele und oft auch mehrfach vorkommende Mängel vorzufinden sind. Letzteres ist wichtig, wenn man belegen möchte, dass es sich bei den betreffenden Mängeln nicht ausschließlich um ‚Ausrutscherʻ handelt, sondern wahrscheinlich um prinzipielle Fehler der Vorgehensweise. Als Nächstes stellt sich die Frage nach der Untersuchungsmethodik, also die Frage, welche Arten von Mängeln man mit welchen Methoden identifizieren kann.

0.1 Für wissenschaftliches Handeln gelten verschiedene Normen, die durch das Ziel der Wahrheitsfindung begründet sind. Eine allgemeine Norm, über deren Verletzung auch in den Medien aufgrund der heutigen Möglichkeiten eines computerbasierten Textvergleichs häufig berichtet wird, ist das Plagiatsverbot. In großer Zahl belegte Übernahmen von Aussagen anderer Autoren/innen ohne Herkunftsangabe zählen als eindeutiges Beispiel für ein Fehlverhalten. Aber warum sollen in wissenschaftlichen Texten solche Übernahmen eigentlich kenntlich gemacht werden? Weil Lesende anderenfalls evtl. die falsche Schlussfolgerung ziehen, dass die in den betreffenden Aussagen formulierten Erkenntnisse von dem/der Textautor/in stammen. Eine andere zentrale und im Prinzip unumstrittene Forderung verlangt, dass wissenschaftliche Arbeiten einem Begründungszwang unterliegen und dass zum Nachweis von Behauptungen immer logisch korrekt, d.h. entsprechend den jeweils verwendeten Schlussregeln argumentiert wird. Auch dieses Gebot dient einer Vermeidung falscher Folgerungen und damit soll zugleich eine Verbreitung wahrheitswidriger Behauptungen verhindert werden. Allerdings können Lesende vielfach nicht ohne weiteres entscheiden, ob dieses Gebot eingehalten wird, weil die Argumentation in ←12 | 13→wissenschaftlichen Texten mehr oder weniger oft und je nach Disziplin relativ implizit formuliert ist und weil sich dann nicht immer leicht durchschauen lässt, ob die Argumentation regelkonform ist. Insbesondere in diesem Fall bleiben inkorrekte Schlussfolgerungen von Autoren/innen evtl. verborgen. Hieraus ergibt sich einerseits eine grundsätzliche Explizitheitsforderung für Argumentationen, die aber zugleich die Bedingung erfüllen müssen, dass die in ihnen formulierten Aussagen eindeutig interpretierbar und die dort benutzten Begriffe hinreichend geklärt sind. Andererseits wird eine geeignete Methodik benötigt, um erkennen zu können, um die Anwendung welcher Schlussregeln es jeweils geht und ob sie regelgerecht angewendet wurden. Für solche Erkenntnisse benötigt man oft ein einschlägiges linguistisches Wissen über die spezifische sprachliche Realisierung der betreffenden Schlussregeln und dieser Aspekt ist in der bisherigen Erforschung von wissenschaftlichen und alltäglichen Argumentationen erstaunlicherweise bisher kaum berücksichtigt worden (s.u.).

Details

Seiten
196
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631887912
ISBN (ePUB)
9783631887929
ISBN (MOBI)
9783631887936
ISBN (Hardcover)
9783631887905
DOI
10.3726/b20423
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Dezember)
Schlagworte
Jugendbewegungsschau Sozialpädagogik Geschichte
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 180 S.

Biographische Angaben

Walther Kindt (Autor:in)

Prof. Dr. Walther Kindt war 35 Jahre als Logiker und Linguist an der Universität Bielefeld tätig. Seine aktuellen Forschungsgebiete sind: Grundlagenforschung, Semantik und linguistische Rhetorik.

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Titel: Erinnerungspolitische Verfälschungen in einem Buch über die Jugendbewegung
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