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Raum

Interdisziplinäre Aspekte zum Verständnis von Raum und Räumen

von Ulrich Beuttler (Band-Herausgeber:in) Markus Mühling (Band-Herausgeber:in) Martin Rothgangel (Band-Herausgeber:in)
©2022 Sammelband 172 Seiten

Zusammenfassung

Sowohl im Alltag als auch in den Wissenschaften leben wir in Räumen und diese bestimmen unser Werden: seien es Räume, die wir täglich begehen, oder sei es der Raum ganz grundlegend, als physikalischer, psychologischer oder philosophischer Raum. Alles Geschehen und Werden ist somit in den Raum oder in Räume eingebettet.
Auch im christlichen Glauben sind wir in einen Raum gestellt: den des dreieinigen Gottes. Die Fragen, was all diese Räume sind und wie sie sich zueinander verhalten, sind grundlegend und kaum zu unterschätzen. Sie bestimmen unsere Wahrnehmung und unser Handeln. Schon Karl Heim als Pionier des Dialogs zwischen Theologie und den Naturwissenschaften hatte die Bestimmung der Räume zu seiner Grundaufgabe gemacht. Heute stellt sich die Frage neu und sucht nach neuen Antworten.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Vorwort
  • Was hat Gott mit dem Raum zu tun? (Ulrich Beuttler)
  • Raumzeitmollusken und Quantenschaum (Gunter M. Schütz)
  • Der Raum als Feld, Bezugsystem und Gestaltkreis aus Wahrnehmung und Handeln (Wolfgang Mack)
  • Der Raum als allgemeines Bewusstseinsfeld (Anton Friedrich Koch)
  • Weite Handlungsräume (Michaela Geiger)
  • Die Bildung des Raumes durch Wege (Markus Mühling)
  • Die erschreckenden Grenzen des Raumes (Konstanze Kemnitzer)
  • Der Kirchenraum als Raum (Hartmut Rupp)
  • Autoren

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Vorwort

All unser Leben, unser Wahrnehmen, unser Fühlen, Handeln und Verhalten vollzieht sich im Raum. Wir sind räumliche Lebewesen. Entsprechend ist davon auszugehen, dass der Raum – was immer er ist – tatsächlich auch unser Leben mitbestimmt, wie auch Raumreflexionen unser Leben mitbestimmen. Daher ist die Frage nach dem Stand gegenwärtiger physikalischer, psychologischer und philosophischer Raumreflexionen eine notwendige Bedingung zum Verständnis unserer gegenwärtigen Lebenswelt.

Nach christlicher Überzeugung vollzieht sich unser Leben aber nicht nur im Raum und ist räumlich geprägt, sondern auch in der Gegenwart des dreieinigen Gottes. Entsprechend sind die Fragen, wie theologisch über den Raum zu denken ist, ob und wie die Einsichten gegenwärtig wissenschaftlicher Raumreflexionen theologisch zu rezipieren sind, und ob man auch von einer Räumlichkeit Gottes wird sprechen müssen, zentrale theologische Fragen.

Diese doppelte – lebensweltliche und theologische – Frage wird in den Beiträgen dieses Bandes, zurückgehend auf die Jahrestagung der KHG 2021, die gleichzeitig das 1. Interdisziplinäre Forum der Kirchlichen Hochschule Wuppertal war, interdisziplinär reflektiert. Nach einer Erörterung der Problematik des Verhältnisses von Raum und Gegenwart Gottes (Beuttler) wird in gegenwärtige physikalische Raumverständnisse eingeführt (Schütz), die Psychologie der Wahrnehmung des Raumes umfassend beschrieben (Mack), der Raum grundlegend als Korrelat von Leiblichkeit als allgemeines Bewusstseinsfeld bestimmt (Koch), am deuteronomischen Raumverständnis ein Beispiel des Protests gegen das altorientalische Raumdenken gegeben (Geiger), ein theologisch umfassendes Raumverständnis entworfen, das phänomenale Betrachtungen und technische Raumabstraktionen integriert (Mühling), die Herausforderungen für die Theologie angesichts der Überlebensprobleme der Menschheit raumtheoretisch erfasst und praktisch-theologisch eingeordnet (Kemnitzer) und schließlich werden die Reflexionen und Ergebnisse am Beispiel des Kirchenraumes als Raum exemplifiziert (Rupp).

Gedankt sei Brandon Watson, Johanna Knotte und D. Bich Nhi Dang bei der Unterstützung der Drucklegung.

6.5.2022 M. Mühling

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Ulrich Beuttler

Was hat Gott mit dem Raum zu tun?

Gottbezogenheit des Raumes und Raumbezogenheit Gottes, Überlegungen im Anschluss an Karl Heims Raumlehre

Starting from the conception of the presence of God as spatially construed without merging with space, a conceptual formulation will be outlined. This conception of God’s presence has been understood as such within the biblical, religious, and natural philosophy traditions up until the early modern period yet has since been disputed in neo-Protestantism. The theological concept of space to be developed will allow one to think positively about God’s relation to space, which neither spatializes God nor divinizes space. Karl Heim’s framework will be outlined briefly prior to developing my own systematically structured thesis based in the so-called lived space as the religious location of the presence of God. This concept of God can be considered theologically innovative, revealing a way for the further development of religious experiences of space and spatial experiences of God.

1. Gottes Allgegenwart im Raum

Es ist eine Grundüberzeugung des glaubenden Menschen, dass Gott da ist, hier und jetzt, hier und dort, im Raum und den Räumen dieser Welt. Gott ist da, heißt für den Glaubenden: Gott ist hier, am Ort und im Raum meiner Welt, Gott ist anwesend, Gott ist hier wirklich da. Der christliche Glaube lebt aus der Gegenwart Gottes und erfährt die Gegenwart Gottes als räumliche Gegenwart, als Gegenwart am Ort, im Raum. Die Erfahrung des Glaubens ist zwar nicht die, dass Gott immer und überall in derselben dichten Weise gegenwärtig erlebt wird – zum Glauben gehört auch die Erfahrung der Abwesenheit Gottes, der Ferne Gottes, der Unsichtbarkeit und Verborgenheit Gottes. Aber zum Glauben gehört elementar die Überzeugung, dass es keinen Ort und keinen Raum dieser Welt gibt, wo Gott nicht gegenwärtig sein könnte. „Flöge ich ans äußerste Meer, so würde auch dort deine Hand mich halten“, betet der 139. Psalm, und so ist es seit biblischen Tagen, dass mit dem Glauben an Gott die Überzeugung der Gegenwart Gottes verbunden ist und diese Gegenwart eine räumliche Dimension hat.

Die Gegenwart als eine räumliche Gegenwart ist mit Gott überhaupt so wesentlich verbunden, dass als eine der grundlegenden Eigenschaften Gottes in ←9 | 10→der ganzen christlichen Tradition die Allgegenwart Gottes gilt. Die Allgegenwart ist für das Christentum nicht eine Eigenschaft, die zur Wirklichkeit Gottes auch noch hinzukommt, sondern die mit dem Wesen Gottes gegeben ist. Gott ist allgegenwärtig, heißt negativ, er ist nirgends nicht und heißt positiv, „dass er dort und hier und überall“ gegenwärtig ist, und zwar er selbst, „dass er also immer irgendwo und nicht nirgends“1 ist (Karl Barth). Diese allgemeine Gegenwart oder Allgegenwart Gottes hat die christliche Lehre mit biblischer Begründung (Ps 139,7; Jer 23,23; Apg 17,27) als unermessliche, als wesentliche und wirksame Gegenwart Gottes charakterisiert. Die Allgegenwart Gottes, so hat man es in einen lateinischen Merkspruch zusammengefasst, ist dreifach, nach Essenz (Wesen), nach Präsenz (Gegenwart) und nach Potenz (Wirksamkeit): „Enter praesenter Deus hic et ubique potenter“ (Gott ist in wesentlicher, anwesender und wirksamer Weise hier und überall gegenwärtig).

Die Schwierigkeit war von Anfang an, Gottes Gegenwart räumlich zu denken, aber doch so, dass Gott gerade nicht selbst räumlich oder gar ausgedehnt vorgestellt wird. So hat der Kirchenvater Augustin in Abwehr einer materiellen Gottesvorstellung, Gott sei eine Art ausgedehnte, körperhafte Masse, festgestellt, dass Gott zwar quasi körperhaft am Ort sei, jedoch nicht so, dass er hier mehr und dort weniger sei, oder ein kleinerer Raumteil ihn weniger umfasse als ein größerer, sondern so, dass Gottes Gegenwart überall ganz, jedoch nirgends exklusiv lokalisiert oder fixiert ist.2 Die überall ganze Gegenwart sei unendlich zu denken, sie ist unbeschränkt und ein Zusammenfall von Gegensätzen. Gott ist überall unendlich und ganz gegenwärtig, jedoch nirgends räumlich begrenzt oder eingesperrt. Diese Überlegung wurde zu einem mystischen Paradox ausgebaut, nach dem Gottes „Immanenz“ und Gottes „Transzendenz“ gleichermaßen unendlich sind, dass Gott ebenso weltgegenwärtig wie weltjenseitig ist, beides ganz, ebenso „in allem“ wie „über allem“. Gott ist wie eine unendliche Kugel, deren Zentrum überall und deren Umfang nirgends ist.3 So formulieren es viele neuplatonische Theologen des Mittelalters wie Meister Eckart oder Nikolaus von Kues. Gott, sagt auch Martin Luther, muss an allen Orten wesentlich und gegenwärtig sein, im geringsten Baumblatt wie in jedem Körnlein. Auch wenn es unbegreiflich ist: „Nichts ist so klein, Gott ist noch kleiner, nichts ist so groß, Gott ist noch größer.“4

2. Raumlose Gegenwart Gottes?

Die Gegenwart Gottes, die räumlich ist, aber im Raum nicht aufgeht, konnte solange aufrechterhalten werden, solange Gott und Raum nicht in Konkurrenz ←10 | 11→zueinander traten. Das aber war im Laufe der Neuzeit der Fall. Die unermessliche Gegenwart Gottes wurde so sehr räumlich und der Raum so sehr göttlich, dass beide in ein Entweder-oder gerieten. Dies geschah so:

Die eine Entwicklung war die Unendlichwerdung des Weltraumes. Solange die Welt ein endlicher Kosmos war, war Gott immer „größer“, überstieg und durchdrang die Welt zugleich. Sobald jedoch der Kosmos unendlich wurde, was zuerst von Giordano Bruno um 1600 gedacht, von Kopernikus, Galilei und Kepler weltbildlich beansprucht und im 17.–19. Jh. dann auch astronomisch bewiesen wurde, übernahm der Weltraum auch Eigenschaften Gottes. Der Raum wurde unendlich. Damit wird ein zentrales Gottesprädikat auf die Welt übertragen. Die Welt übernimmt die Eigenschaft der Unendlichkeit, die vorher Gott allein zukam. In der unendlichen Welt hat Gott sozusagen keinen Ort mehr, damit kommt Gott in eine Art „Wohnungsnot“, wie D.F. Strauß Ende des 19. Jh. spottete, und „auf die Welt fällt nun der Glanz der Unendlichkeit, der dem Altertum fremd und im Mittelalter Gott vorbehalten war“ (C.F.v. Weizsäcker)5.

Die zweite Seite der Entwicklung war die, dass dem Raum philosophisch und physikalisch ein eigenes „Seinsgewicht“ zuwächst, er erhält eine eigene, von der Materie unabhängige Realität. Der Raum, sagen die italienischen und die englischen Naturphilosophen des 17.–18. Jh., ist ein Aufnehmer oder Behälter der Körper, in dem Körper lokalisiert sind. Damit erhält der Raum ein selbständiges Sein. Der Raum bekommt eigenständige Realität, unabhängig von der Materie. Er bleibt unveränderlich beständig derselbe, egal wie Körper sich in ihm bewegen. Er bleibt auch dann, wenn man Körper aus ihm entfernt. Der Raum ist überall gleich homogen und mit sich identisch unbeweglich. Und er ist sogar notwendig unendlich, da er alles enthält, mehr noch auch trägt und erhält. Damit übernimmt der Raum wesentliche Funktionen, die bis dahin ausschließlich Gott selbst zugeschrieben worden waren. Im Raum „leben, weben und sind wir“6 (T. Campanella). Das ist ersichtlich ein Zitat von Apg 17, wo der allgegenwärtige Gott als der bezeichnet wird, in dem wir leben, weben und sind. Dem Raum werden also wesentliche Funktionen der Allgegenwart Gottes zugeschrieben, zu enthalten und zu erhalten.

Mit dieser Auffassung eines „absoluten“ Raumes war demnach die Gefahr der Vergöttlichung des Raumes ebenso verbunden wie die der Verräumlichung Gottes. Denn wenn alles, was ist, räumlich ist, und der Raum der Inbegriff von Sein überhaupt ist, so die Kritik von Immanuel Kant, dann müsste man auch Gottes Gegenwart räumlich vorstellen und Gott, wie von einem Raum umgeben, in die Welt einschließen. Um dem zu entgehen, plädiert Kant dafür, erstens den Raum nicht als Realität an sich, unabhängig von den Körpern zu denken, sondern als ←11 | 12→„Form der Anschauung“, und zweitens die Gegenwart Gottes raumlos zu verstehen. So hat es F. Schleiermacher übernommen und damit für die Theologie bis heute schulbildend gewirkt. Schleiermacher bestimmt den Raumbezug Gottes strikt unräumlich. Gottes Allgegenwart bedingt den Raum und die räumlichen Dinge, ist selbst aber unräumlich. Im § 53 seiner „Glaubenslehre“ definiert Schleiermacher: Die Allgegenwart ist „vollkommen raumlos, mithin auch nicht größer oder kleiner an verschiedenen Orten.“7

Aber an dieser Standardauffassung der neuprotestantischen Gotteslehre meldet sich nun ein theologisches Problem: Der Weltbezug Gottes ist hier nur noch strikt raumlos gedacht, d.h. geistig im Gegensatz zur Körperlichkeit und Ausdehnung. Gott hat damit keinen Raumbezug mehr, er hat nur noch geistig-moralischen Weltbezug. Das aber ist religiös fatal und theologisch problematisch. Ich möchte an dieser Stelle wenigstens zwei relevante Gründe nennen, warum es mir theologisch geboten scheint, einen Raumbezug Gottes anzunehmen. Dies ist erstens religiös notwendig, weil der glaubende und betende Christ Gott auch außer sich, d.h. im Raum, zu erfahren glaubt und auch lokal auf sich und seinen raumzeitlichen Ort bezogen weiß. Er ist zweitens trinitäts- und schöpfungstheologisch notwendig, weil der Gott, der in Jesus Christus Mensch wurde und durch den Hl. Geist in der Welt wirkt, ein Eingehen Gottes in Raum und Zeit behauptet und einen, wie auch immer gearteten Raumbezug Gottes vorsieht. Schöpfung und Erhaltung sind, wenn sie christologisch-pneumatologisch, durch Sohn und Heiligen Geist, vermittelt sind, nicht ohne Raumbezug Gottes zu denken.

Allerdings ist für solche Lokalisation der geometrische Raum ungeeignet. Denn der ist ortsexklusiv und eine Lokalisation Gottes wäre dann doch nur raumhaft-ausgedehnt zu denken. Aber entscheidend für uns ist, dass nur der euklidische, geometrische Raumbegriff einen Raumbezug Gottes ausschließt. Ein Raumbezug Gottes ist damit nicht überhaupt ausgeschlossen, aber er hängt am Raumbegriff. Um einen Raumbezug Gottes positiv formulieren zu können, braucht es einen anderen Raumbegriff. Kurz gesagt: Wir brauchen einen nicht homogenen, nicht geometrischen Raum, sondern einen gegliederten Raum, der Anwesenheit und Nähe ebenso wie Ferne und Weite zu denken ermöglicht, der weder Gott verräumlicht, noch den Raum vergöttlicht.

3. Einer der ersten, der in der ev. Theologie einen solchen, nicht geometrischen Raumbegriff aus theologischem Interesse entwickelt hat, war Karl Heim.8

Von seinen frühen Schriften an versucht er die neuen Entwicklungen des Denkens in Philosophie und Naturwissenschaften aufzunehmen. Da sind Entwicklungen ←12 | 13→dabei, die uns heute nicht mehr viel sagen, wie der Empiriokritizismus und manche andere. Was Heim beabsichtigt, ist jedoch, den alten Newtonschen Raumbegriff eines mathematischen Behältermodells, das zugleich über die Welt gelegt wird, zu überwinden.

Details

Seiten
172
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631887783
ISBN (ePUB)
9783631887790
ISBN (Hardcover)
9783631887776
DOI
10.3726/b20086
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (November)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 172 S., 5 s/w Abb.

Biographische Angaben

Ulrich Beuttler (Band-Herausgeber:in) Markus Mühling (Band-Herausgeber:in) Martin Rothgangel (Band-Herausgeber:in)

Markus Mühling ist Professor für Systematische Theologie an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal. Ulrich Beuttler ist außerplanmäßiger Professor für Systematische Theologie in Erlangen und Pfarrer in Backnang. Martin Rothgangel ist Professor für Religionspädagogik in Wien.

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Titel: Raum
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