Lade Inhalt...

Die Schlacht von Gettysburg

1.-3. Juli 1863

von Stephan Ernst Maurer (Autor:in)
©2023 Monographie 294 Seiten

Zusammenfassung

Die Schlacht von Gettysburg war die größte und blutigste Schlacht des Amerikanischen Bürgerkrieges und wurde zu einem nationalen Mythos der Vereinigten Staaten. Dieses Buch wirft einen Blick hinter den Mythos: Welche Rolle spielte die Schlacht im Gesamtzusammenhang des Krieges? Wie kam es überhaupt zum Einmarsch der Konföderierten in Pennsylvania, und war dieser strategisch sinnvoll? Wie genau verlief die Schlacht? Und warum war Gettysburg keine „Entscheidungsschlacht“?

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhalt
  • Einleitung
  • Prolog: Mississippi, Tennessee oder Pennsylvania?
  • Kapitel 1: „So lange General Lee den Befehl hatte, konnte mir nichts Sorgen bereiten“
  • Kapitel 2: „Können Sie es nicht zerbrechen?“
  • Kapitel 3: „Selbstverständlich spricht jedermann mit großer Siegeszuversicht“
  • Kapitel 4: „Es sind wieder diese verdammten Schwarzhüte!“
  • Kapitel 5: „falls machbar“
  • Kapitel 6: „Eine Schlacht wurde dadurch in gewissem Maß unvermeidbar“
  • Kapitel 7: „Die besten drei Stunden Kampf, die Truppen je auf einem Schlachtfeld ablieferten.“
  • Kapitel 8: Konföderiertes Dämmerlicht
  • Kapitel 9: „Um Himmels Willen, kommen Sie schnell!“
  • Kapitel 10: „Das ganze Land ist unser Heimatboden!“
  • Epilog: Die Entscheidung, die keine war
  • Anhang 1: Die Schlachtgliederung der beiden Armeen
  • Anhang 2: Strategische Optionen der Konföderierten im Frühjahr 1863
  • Literaturverzeichnis
  • Index
  • Reihenübersicht

←8 | 9→

Einleitung

Der Amerikanische Bürgerkrieg (oder Sezessionskrieg) war der blutigste Konflikt in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Nach neuen Schätzungen starben zwischen 1861 und 1865 rund 750.000 Männer auf dem Schlachtfeld oder im Lazarett.1 Der Krieg hatte tiefgreifende Konsequenzen, allen voran die Abschaffung der Sklaverei mit dem 13. Verfassungszusatz 1865.

Mit der Sklaverei ist der Sezessionskrieg eng verknüpft und kann nicht ohne sie gesehen werden. Zwar war sie nicht der unmittelbare Anlass für den Krieg, sie war aber seine tiefere Ursache: Ohne die Sklaverei hätte es den Krieg nicht gegeben. Dass sie aber trotzdem nicht der unmittelbare Auslöser des Krieges war, machte Lincoln in einem vielzitierten Brief an den Journalisten Horace Greely 1862 deutlich: „Mein Hauptziel in diesem Konflikt ist es, die Union zu retten, und nicht die Sklaverei zu retten oder sie zu zerstören. Wenn ich die Union retten könnte, ohne irgendeinen Sklaven zu retten, dann würde ich es tun, und wenn ich sie retten könnte, indem ich alle Sklaven befreie, dann würde ich es tun.“2 Unmittelbarer Anlass für den Krieg war vielmehr die Wahl Lincolns und die darauf folgende Sezession der Südstaaten, die sich von den Vereinigten Staaten lossagen wollten. Wiederum war es Lincoln, der dies am prägnantesten zusammenfasste: „Eine Seite wollte lieber in den Krieg ziehen, als die Nation überleben zu lassen, und die andere wollte eher den Krieg hinnehmen, als sie vergehen zu lassen. Und der Krieg kam.“3

Dass der Krieg zu Beginn nicht um die Frage der Sklaverei geführt wurde, sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Sklaverei eben die tiefere Ursache für den Konflikt war. Sie war es, die überhaupt zu einer Spaltung zwischen Nord- und Südstaaten, zwischen freien und Sklavenstaaten geführt hatte. Sie hatte zu unterschiedlicher wirtschaftlicher Entwicklung, zu unterschiedlichen Gesellschaftssystem und auch zu unterschiedlichen politischen Einstellungen geführt. Die Südstaatler betonten nach dem Krieg gerne, dass es ihnen um die „states’ rights“, die „Rechte der Einzelstaaten“, gegangen sei. Unterschiedliche Auffassungen über die Kompetenzen der Zentralgewalt gegenüber den ←9 | 10→Einzelstaaten hätten zur Sezession geführt. Der Krieg sei also ein Krieg über unterschiedliche politische Philosophien gewesen, mit den zentralistischen Nordstaaten gegen die freiheitlichen Südstaaten.

Tatsächlich waren aber auch die „Rechte der Einzelstaaten“ untrennbar mit der Sklavenfrage verknüpft. John Randolph of Roanoke, ein Kongressabgeordneter aus Virginia, hatte dies lange vor dem Krieg auf den Punkt gebracht. Er sprach sich 1824 gegen ein Gesetz aus, das dem Kongress das Recht geben sollte, Straßen und Kanäle zu errichten. Ein Kongress, der solche Macht habe, so Randolph, könne auch jeden Sklaven in den Vereinigten Staaten befreien.4 Auch die Sezessionserklärung South Carolinas, machte klar, dass der Schutz der Sklaverei ein zentrales Motiv für die Sezession war: „Eine geographische Linie ist durch die Union gezeichnet worden, und alle Staaten nördlich davon haben gemeinsam einen Mann in das hohe Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt, dessen Meinungen und Ziele der Sklaverei feindlich gesinnt sind.“5 Und als die Konföderierten Staaten im Februar 1861 Emissäre nach Virginia schickten, wo ein Konvent die Sezession debattierte, erklärte der Gesandte Henry Benning aus Georgia: „Was war der Grund, der Georgia zur Sezession bewegte? Dieser Grund kann in einem Satz zusammengefasst werden: Es war eine Überzeugung, eine tiefe Überzeugung seitens Georgias, dass eine Trennung vom Norden der einzige Weg war, um die Abschaffung der Sklaverei zu verhindern.“6 Zwar stimmt es, dass südstaatliche Politiker sich vor dem Krieg gegen zentralistische Tendenzen wehrten und eine enge Auslegung der Verfassung bevorzugten. Diese Betonung der „Rechte der Einzelstaaten“ war allerdings oft ein reines Mittel zum Zweck, um die Sklaverei zu schützen. Dass der Schutz der Sklaverei den Südstaatlern wichtiger war als die „Rechte der Einzelstaaten“ zeigt sich auch darin, dass südstaatliche Politiker vor dem Krieg gerne bereit waren, der Zentralgewalt in Washington mehr Rechte zu gewähren, wenn es darum ging, die Rechte der Sklavenhalter zu wahren.7

Dies bedeutet nicht, dass jeder Unionssoldat ein Abolitionist war, und genauso wenig profitierte jeder Konföderierte vom System der Sklaverei. Die Klasse der Sklavenhalter bildete allerdings die gesellschaftliche und ökonomische Elite des ←10 | 11→Südens, sie war politisch tonangebend, und sie führte die Südstaaten in den Krieg, um ihre „besondere Institution“ zu schützen.8 Der Fall von Texas verdeutlicht die politische Dominanz der Sklavenhalter: Obwohl 1860 nur rund 29 % aller texanischen Familien Sklaven besaßen, stammten fast 80 % der Abgeordneten des texanischen Parlaments aus einer Sklavenhalterfamilie.9

„Der Sieger schreibt die Geschichtsbücher,“ glaubt der Volksmund zu wissen. Falls dem wirklich so ist, dann ist der Sezessionskrieg eine eindeutige Ausnahme. Die Südstaatler gaben 1865 ihre Waffen ab und tauschten sie gegen Papier und Tinte. In unzähligen Memoiren und Beiträgen entstand bereits in den unmittelbaren Nachkriegsjahren der sogenannte „Lost Cause“-Mythos, der viele Jahre tonangebend blieb. Der nach einem Buch benannte „Lost Cause“ war für die Südstaatler in den Worten des Historikers Gary W. Gallagher „eine öffentliche Erinnerung an die Konföderation, die ihre Aufopferung während des Krieges und ihre niederschmetternde Niederlage in das bestmögliche Licht rückte.“10 In dieser Auslegung hatte der Krieg nichts mit der Sklaverei zu tun, und wenn doch, dann nur, weil die Abolitionisten es provoziert hatten. Überhaupt, so behaupteten viele Vertreter des Lost Cause, wäre die Sklaverei im Süden ohnehin abgeschafft worden, und so schlecht hätten es die Sklaven auch nicht gehabt – man denke an die Darstellung der treuen Sklaven in „Vom Winde verweht“. Auch militärgeschichtlich war der Lost Cause prägend. Wie die Dolchstoßlegende nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland, so war auch der Lost Cause ein Weg um die eigene Niederlage zu rationalisieren. Der Lost Cause legte den Fokus stark auf die Armeen des Südens und seine militärischen Helden. Erfolgreiche Generäle wie Robert Edward Lee oder Thomas „Stonewall“ Jackson wurden geradezu zu Heiligen verklärt. Der Grundton des Lost Cause war, dass die Armeen des Südens aus unermüdlichen und tapferen „Johnny Rebs“ bestanden, die trotz einer chronischen Unterversorgung Bemerkenswertes leisteten. Ihre Anführer waren überlebensgroße Legenden von militärischem Genie und absoluter persönlicher Integrität, und dass diese Kombination nicht zum schlussendlichen Sieg führte, lag einzig und allein an der materiellen Überlegenheit des Nordens. Trotz dieser personellen und industriellen Übermacht des Gegners, so die Verfechter des Lost Cause, sei der Sieg aber doch in greifbarer Nähe gewesen. In den letzten Jahrzehnten haben Historiker wie James McPherson, Alan Nolan, Eric Foner und viele andere den Lost Cause als das entlarvt, ←11 | 12→was er ist: Ein Mythos und eine Karikatur der tatsächlichen Begebenheiten.11 Im kulturellen Gedächtnis lebt diese Karikatur aber leider aufgrund von Büchern und Filmen wie „Geburt einer Nation“ und „Vom Winde verweht“ noch immer fort, und bisweilen kommt es zu „Revivals“, wie 2003 mit dem Film „Gods and Generals“, den der Historiker Steven Woodworth „eine veritable Jubelfeier von Sklaverei und Landesverrat auf Zelluloid“ nannte.12

So kommt es, dass sich noch immer viele Mythen über den Bürgerkrieg halten, und viele dieser Mythen drehen sich um die Schlacht von Gettysburg. Vom 1.-3. Juli 1863 kämpfte General Meades nordstaatliche Potomac-Armee in diesem kleinen Ort im Nordstaat Pennsylvania gegen General Lees Nord-Virginia-Armee. Die Nordstaatler wehrten die Angriffe der Konföderierten ab und zwangen sie zum Rückzug in den Süden. Gettysburg war die blutigste, die am weiten nördlichste große Schlacht des Krieges und der erste eindeutige Sieg der Nordstaaten über General Lees Armee. Sie gilt deswegen gemeinhin als die entscheidende Schlacht, als Wendepunkt des Bürgerkrieges und als „Hochwassermarke“ der Konföderation. Dieser Mythos wurde auch von Hollywood befeuert, zum Beispiel mit dem Film „Gettysburg“ aus dem Jahr 1993. Gettysburg als Entscheidungsschlacht entspricht allerdings nicht mehr dem Stand der militärgeschichtlichen Forschung. Betrachtet man die Schlacht im Gesamtzusammenhang des Krieges, so war sie zwar blutig, aber keinesfalls entscheidend. Die beiden beteiligten Armeen begannen und beendeten den Gettysburg-Feldzug fast in derselben Position. Weder gelang es den Südstaaten, auf dem Gebiet der Nordstaaten einen Sieg mit Signalwirkung zu erringen, noch konnten die Nordstaatler die Armee der Südstaaten auf ihrem Rückzug von Gettysburg vernichten. Nach der Schlacht dauerte der Krieg noch fast zwei Jahre, in denen sich Lincoln einer Wiederwahl stellen musste, deren Ergebnis auch nach dem Sieg von Gettysburg keineswegs vorherbestimmt war. Die Bedeutung und der Reiz von Gettysburg liegen deswegen vor allem darin, was hätte geschehen können, als darin, was wirklich geschah.

Ein anderes Missverständnis um die Schlacht von Gettysburg, das eng mit dem Lost-Cause-Mythos verknüpft ist, ist die Fokussierung auf vermeintlich entscheidende Fehler der konföderierten Generäle. Die konföderierten Führer stritten sich noch Jahrzehnte nach dem Bürgerkrieg darüber, wer wann welchen Fehler machte und den Süden dadurch den Sieg bei Gettysburg kostete. Zum ←12 | 13→einen wurde dabei oft mit harten und bisweilen unfairen Bandagen gekämpft, und es wurden Sündenböcke gesucht und gefunden. Zum anderen wurde dabei die Perspektive der Nordstaaten oft ausgeblendet. Diese war aber ebenso wichtig: Gettysburg wurde nicht nur von den Konföderierten verloren, sondern auch von den Unionisten gewonnen.

Das Ziel dieses Buches ist es deswegen, den Blick auf die Schlacht hinter dem Mythos zu werfen. Welche Rolle spielte die Schlacht im Gesamtzusammenhang des Krieges? Wie kam es überhaupt zum Einmarsch der Konföderierten in Pennsylvania, und war dieser strategisch sinnvoll? Wie genau verlief die Schlacht? Und warum war Gettysburg eben keine Entscheidungsschlacht? Der Fokus liegt hierbei auf der militärischen Ebene, auf strategischen Erwägungen und den taktischen Bewegungen von Verbänden und Großverbänden. Daneben werde ich aber auch die einfachen „Johnny Rebs“ und „Billy Yanks“ zu Wort kommen lassen und auch ihre Eindrücke schildern.

←13 |
 14→

1 Hacker, A Census-Based Count of the Civil War Dead, S. 307–348

2 Brief Lincolns an Horace Greeley, 22. August 1862. In: Roy P. Basler (Hrsg). The Collected Works of Abraham Lincoln, Band 5, S. 388

3 Zweite Amtseinführungsrede, 4. März 1865. In: Roy P. Basler (Hrsg). The Collected Works of Abraham Lincoln, Band 8, S. 332

4 Annals of the Congress of the United States, Eighteenth Congress, First Session, S. 1308

5 Declaration of the Immediate Causes Which Induce and Justify the Secession of South Carolina from the Federal Union, Dezember 1860.

6 Rede von Henry L. Benning. In: John Fulton Anderson, Henry L. Benning und John S. Preston: Addresses delivered before the Virginia State Convention, S. 21

7 McPherson This Mighty Scourge, S. 7–9

8 Nolan, The Anatomy of the Myth, S. 29

9 Bellani et al, Long Shadow of Slavery, S., 264 f.

10 Gallagher, Introduction, S. 1

11 Für einen Überblick und kritische Betrachtung des Lost Cause siehe Nolan, The Anatomy of the Myth, S. 11–34

12 https://teachinghistory.org/nhec-blog/25077, abgerufen am 1. September 2022

←14 | 15→

Prolog: Mississippi, Tennessee oder Pennsylvania?

Der Nachmittagszug der Richmond, Fredericksburg & Potomac-Eisenbahnlinie am 14. Mai 1863 hatte einen prominenten Passagier. General Robert Edward Lee, der Oberbefehlshaber der konföderierten „Armee von Nord-Virginia“, war auf dem Weg in die Hauptstadt Richmond. Präsident Jefferson Davis hatte den Feldherren zu sich gerufen, um am folgenden Tag an einer Strategiebesprechung im Kriegsministerium teilzunehmen.13 Der 56jährige Lee war eine imposante Erscheinung. Ein Beobachter beschrieb ihn als großgewachsen, breitschultrig und von soldatischem, würdevollem Aussehen. Lee galt als außerordentlich höflich und zuvorkommend und kleidete sich standesgemäß, aber nicht aufdringlich.14 Sowohl im Aussehen als auch im Betragen war er geradezu der Idealtyp des südstaatlichen Gentlemans. Prominenz hatte er aber nicht aufgrund seines Aussehens oder seiner Manieren erreicht, sondern aufgrund seiner militärischen Fähigkeiten.

Der Sezessionskrieg zwischen Nord- und Südstaaten ging gerade in seinen dritten Frühling. Seit die Konföderierten im April 1861 mit dem Angriff auf Fort Sumter die Feindseligkeiten eröffnet hatten, waren zwei Jahre vergangen. Die Kriegsbegeisterung der ersten Tage war inzwischen von der blutigen Realität eingeholt worden. Beide Seiten hatten einen kurzen Feldzug erwartet, doch stattdessen reihte sich Schlacht an Schlacht, ohne dass ein Ende absehbar war. Keine zwei Wochen zuvor hatte Lee bei Chancellorsville einen großen Sieg errungen, aber wahrscheinlich war seine Stimmung auf dem Weg nach Richmond trotzdem eher gedrückt.

Der Sieg über Joseph Hookers Potomac-Armee hatte den Süden nicht nur 13.000 Verwundete, Vermisste und Gefallene gekostet, sondern auch das Leben von Generalleutnant (Lieutenant General15) Thomas Jonathan Jackson, Lees wichtigstem Untergebenen. „Stonewall“ Jackson, der Kommandierende General des II. Korps der Nord-Virginia-Armee, war bei einem Erkundungsritt nach ←15 | 16→Einbruch der Dunkelheit aus Versehen von seinen eigenen Soldaten verwundet worden, an Lungenentzündung erkrankt und am 10. Mai verstorben. Am selben Tag, an dem Lee Richmond erreichte, wurde Jackson im Shenandoahtal begraben. „Jeder Sieg wäre teuer zu solch einem Preis“, schrieb Lee. „Ich weiß nicht, wie ich ihn ersetzen soll“.16 Dieser Verlust alleine hätte schon genügt, um die Stimmung in der Richmonder Kabinettssitzung zu drücken. Noch schlimmer wog aber, dass sich die Konföderation als Ganzes militärisch in einem Moment der Krise befand. Nach Anfangserfolgen 1861 hatte sie bereits 1862 viele wichtige Gebiete verloren, und nun bereiteten sich Präsident Lincolns Nordstaatenarmeen auf den nächsten Schlag vor.

Grundsätzlich kann der Sezessionskrieg in drei Kriegsschauplätze eingeteilt werden: Den östlichen Kriegsschauplatz, den westlichen, und den weniger bedeutenden Kriegsschauplatz westlich des Mississippi. Am bekanntesten ist der östliche Kriegsschauplatz, der sich von der Atlantikküste bis zu den Appalachen erstreckte, und zu dem unter anderen Virginia, Maryland, Pennsylvania und die beiden Hauptstädte Richmond und Washington gehörten. Hier stand Lees „Armee von Nord-Virginia“ der unionistischen „Armee des Potomac“ gegenüber17, und hier konnte die Konföderation zuversichtlich sein. Zwar war die Potomac-Armee im Frühsommer 1862 bis vor die Tore Richmonds gekommen, doch danach hatte Lee sie in einer Gegenoffensive zurückgeworfen und war seinerseits kurzzeitig in Maryland einmarschiert. Diese Invasion war in der Schlacht am Antietam blutig gescheitert, aber seit Herbst 1862 bestand nun eine Pattsituation: Die beiden Armeen lagerten nicht weit voneinander entfernt in der Nähe der Stadt Fredericksburg im nördlichen Virginia, auf verschiedenen Seiten des Flusses Rappahannock. Zweimal hatten die Nordstaaten versucht, Lees Armee von dieser Position zu vertreiben, und zweimal waren sie krachend gescheitert: Im Dezember in der Schlacht von Fredericksburg, und nun weniger als zwei Wochen zuvor in der Schlacht von Chancellorsville.

Ganz anders stellte sich die Situation auf dem westlichen Kriegsschauplatz dar, der von den Appalachen im Osten und dem Mississippi im Westen begrenzt wurde. Hier, in Kentucky, Tennessee, Alabama und Mississippi hatte der Süden ←16 | 17→sukzessive an Boden verloren. Nashville, die Hauptstadt Tennessees, war verloren gegangen, und die Truppen der unionistischen Armee des Cumberland standen tief in Mitteltennessee. Weiter westlich, am Mississippi, waren Präsident Lincolns Armeen von Norden und Süden her schier unaufhaltsam vorgerückt. Truppen der Union hatten New Orleans und Baton Rouge in Louisiana befreit und waren von Cairo in Illinois her den Mississippi hinab marschiert. Im Mai 1863 kontrollierten die Südstaaten nur noch zwei Festungsstädte entlang des „Old Man River“: Port Hudson in Nordlouisiana und das noch bedeutendere Vicksburg in Mississippi. Würden diese beiden Städte fallen, dann wäre der Mississippi als Ganzes wieder für die Union schiffbar, und die Konföderation in zwei Hälften getrennt. Beide Städte waren im Frühjahr 1863 bereits bedroht: Von Süden her marschierte ein Unionskorps unter General Banks auf Port Hudson, während Ulysses S. Grants Armee des Tennessee vor Vicksburg stand.

Karte 1: Strategische Situation im Frühjahr 1863. Eigene Darstellung auf Basis von US-Shapefiles von NHGIS.

Die Konföderation sah sich in Mississippi, in Tennessee und in Virginia drei gefährlichen Angriffen ausgesetzt. Alle gleichzeitig konnte sie nicht abwehren, dazu waren ihre Kräfte zu schwach. Legt man die Stärkeberichte vom 31. März 1863 zugrunde, so war Lees Armee in Nord-Virginia weniger als halb so stark wie Hookers Potomac-Armee. General Braxton Braggs Tennessee-Armee erreichte immerhin zwei Drittel der Stärke der unionistischen Armee des Cumberland, ←17 | 18→die sich ebenfalls auf einen Vormarsch vorbereitete. Und in Mississippi waren die Truppen General Pembertons wiederum weniger als halb so stark wie Grants Armee des Tennessee. Insgesamt hatten die Südstaaten in ihren drei Armeen in Mississippi, Tennessee und Virginia rund 170.000 Mann zur Verfügung, die Nordstaaten dagegen fast 325.000.18 Was sollten die Konföderierten also tun?

Präsident Davis war vor allem um Vicksburg besorgt. Er hatte die Stadt einmal als „den Nagel, der die zwei Hälften der Konföderation zusammenhält“ bezeichnet19 und hatte Anfang Mai bereits mehrere Tausend Mann von Braggs Armee in Mitteltennessee zu Pemberton in Vicksburg beordert. Weitere Verstärkungen wurden von der Küste South Carolinas nach Mississippi gesandt, wo sie unter General Joseph E. Johnston gesammelt wurden und Pemberton in Vicksburg unterstützen sollten. Gegen diese Politik Davis’ formierte sich aber Widerstand. Eine Gruppe einflussreicher Generäle und Politiker war der Meinung, dass Vicksburg besser geschützt würde, wenn man stattdessen Braggs Armee in Tennessee verstärkte und so eine „Konzentration im Westen“ herbeiführte: Die Konföderierten sollten Truppen in Tennessee zusammenziehen, eine zahlenmäßige Überlegenheit schaffen und dann dort zur Offensive übergehen. Einer der wichtigsten Wortführer dieser Gruppe war General Beauregard, der Befehlshaber des Wehrbereichs South Carolina, Georgia und Ostflorida.20 Während Lee und Davis in Richmond konferierten, schickte Beauregard einen Plan an den texanischen Senator Louis Wigfall, an General Bragg und an General Johnston, der als übergeordneter Vorgesetzter die Armeen von Bragg in Tennessee und Pemberton in Mississippi koordinierte. Beauregard schlug vor, dass die Konföderierten 25.000–30.000 Mann aus anderen Regionen zu Braggs Armee schicken sollten. Braggs Armee, dann unter dem Oberbefehl Johnstons, würde die nordstaatliche Cumberland-Armee angreifen und besiegen. Nach diesem Sieg könnte sie unbehelligt nach Westen marschieren, Grants rückwärtige Verbindungen nach Norden kappen und ihn somit zwingen, seine Offensive nach Vicksburg aufzugeben.21 Einen fast identischen Plan hatte General Longstreet, Kommandierender General von Lees I. Armeekorps, kurz zuvor formuliert und ←18 | 19→dem konföderierten Kriegsminister Seddon vorgestellt. Auch Longstreet wollte eine offensive Konzentration in Mitteltennessee erreichen, Rosecrans schlagen und dann gegen Grants Verbindungslinien operieren. Er schlug dafür aber vor, sein Korps von Virginia nach Tennessee zu verlegen.22 Das Kriegsministerium hatte sich auch schon mit solchen Gedanken getragen und Lee unter anderem im April gefragt, ob er zwei von Longstreets Divisionen entbehren könnte. Lee hatte dies jedoch abgelehnt.23 Auch jetzt riet der Kommandeur der Nord-Virginia-Armee von einem solchen Transfer ab. Würde man eine seiner Divisionen nun nach Mississippi ordern, dann wäre sie nicht vor Ende Mai dort, hatte er am 10. Mai an Kriegsminister Seddon geschrieben. In Mississippi selbst wäre sie wahrscheinlich nicht von viel Nutzen, da das Sommerklima Grant zum Rückzug zwingen würde- in Virginia dagegen würde sich ihr Fehlen sehr deutlich bemerkbar machen und einen Rückzug auf die Verteidigungslinien um Richmond erfordern. Insgesamt, so Lee, sei eine solche Verlegung ein Vabanquespiel und laufe auf die Frage hinaus, ob Mississippi oder Virginia wichtiger sei.24

Details

Seiten
294
Jahr
2023
ISBN (PDF)
9783631894491
ISBN (ePUB)
9783631894507
ISBN (MOBI)
9783631894514
ISBN (Hardcover)
9783631894484
DOI
10.3726/b20461
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (Februar)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2023. 294 S., 6 farb. Abb., 9 s/w Abb.

Biographische Angaben

Stephan Ernst Maurer (Autor:in)

Stephan E. Maurer ist Juniorprofessor an der Universität Konstanz und forscht zu Fragen der Wirtschaftsgeschichte, Arbeitsmarktökonomik und Politischen Ökonomik. Zu den Schwerpunkten seiner Arbeit gehört die Wirtschaftsgeschichte der Vereinigten Staaten, insbesondere die des amerikanischen Südens zwischen 1850 und 1940.

Zurück

Titel: Die Schlacht von Gettysburg
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
book preview page numper 26
book preview page numper 27
book preview page numper 28
book preview page numper 29
book preview page numper 30
book preview page numper 31
book preview page numper 32
book preview page numper 33
book preview page numper 34
book preview page numper 35
book preview page numper 36
book preview page numper 37
book preview page numper 38
book preview page numper 39
book preview page numper 40
296 Seiten