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Wissen in mittelalterlichen Gemeinschaften

Diskurse – Ideale – soziale Räume

von Angelika Kemper (Band-Herausgeber:in) Christian Domenig (Band-Herausgeber:in)
Konferenzband 358 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch versammelt geschichts-, sprach- und literaturwissenschaftliche
Perspektiven auf den Wissenstransfer in Mittelalter und Früher Neuzeit. Ein
besonderer Fokus wird dabei auf den Gemeinschaftsbezug gelegt. Er ist in
didaktischen Wissensverhandlungen, in Netzwerken und Gruppenbildungen,
selbst im rhetorischen und poetischen Bezugsraum präsent. Die Studien beleuchten
theoretisches wie praktisches Wissen in mündlicher und schriftlicher
Form sowie in ritualisierten Kontexten. Im Mittelpunkt der Beiträge stehen kollektive
Wissenshorizonte, Ideale und Deutungsmuster, welche in Mittelalter und
Früher Neuzeit einen beträchtlichen identitätsstiftenden Wert aufwiesen. Die
14 Beiträge geben vielfältige Einblicke in dynamische Wissensverhandlungen
und tragen damit zum Verstehen vormoderner Gemeinschaften bei.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Vorwort
  • Einleitung (Angelika Kemper)
  • Literatur / Literature
  • Vermittlung von Heilswissen und kollektive Heilsvergewisserung. Zur gemeinschaftsstiftenden Funktion von Konversionslegenden, am Beispiel von Rudolfs von Ems Barlaam und Josaphat (Felix Prautzsch)
  • Dichtung als Wissenschaft im Sangspruch an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert (Ronny F. Schulz)
  • Focus verus. Theoriemetaphern der produktiven Einbildungskraft (Christian Sinn)
  • Studium und Unterricht / Studies and Teaching
  • Die Schüler des Papstes. Die Beziehungen kurialer Eliten zur Schule von St. Viktor im 12. Jahrhundert (Caterina Cappuccio)
  • Catechesis and Christian Doctrine in the Iberian Parishes of the Late Middle Ages (Benito Rial Costas)
  • Das Prager Karlskolleg im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit als Ort der universitären Wissensvermittlung (1436–1622) (Mlada Holá – Martin Holý)
  • Wissenstransfer / Transfer of knowledge
  • Ficta? Die Karmeliten, das Wissen um die eigenen Ursprünge und die Verarbeitung im Medium der Predigt (Ralf Lützelschwab)
  • Kollektives Wissen und religiöse Expertise. Wissen und Gemeinschaft in der Summa Gloria des Honorius Augustodunensis (Maximilian Nix)
  • Doppeltes Heilswissen: Das Künzelsauer Fronleichnamspiel zwischen liturgischer Praxis und biblisch-mythologischem Wissen (Michael Lebzelter)
  • Was du nit waißt das ſolt du fragen / laſs dir das ainˉ geleerten ſagen / Oder der mer recht hab erfarn – Wissenstransfer in der populären juristischen Literatur der Frühen Neuzeit (Barbara Aehnlich)
  • Wissensspeicher / Knowledge Store
  • Ein Gelehrter als Abt. Das Kloster Admont im Spätmittelalter (Ioanna Georgiou)
  • Die Ritualisierung von Wissensinhalten. Religiöses Wissen in der Handschrift Trivulziana 92 (Mailand, 1490) (Raymund Wilhelm)
  • Zur Geschichte des Stifts Millstatt und Rekonstruktion der Benediktinerbibliothek im virtuellen Raum (Birgit Müllner-Stieger)
  • Register
  • Personen
  • Orte
  • Verzeichnis der Handschriften und Archivalien
  • Verzeichnis der Inkunabeln
  • Verzeichnis der frühen Drucke
  • Autorinnen und Autoren
  • Reihenübersicht

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Vorwort

Am 7. und 8. Juni 2018 fand an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt die Tagung „Zwischen Himmel und Alltag. Wissen und Gemeinschaft vom Hochmittelalter bis in die Frühe Neuzeit“ statt. Die Idee und die Konzeption dazu stammte von Angelika Kemper vom Institut für Germanistik, die Umsetzung erfolgte gemeinsam mit dem Institut für Geschichte. Die zentrale Fragestellung, der bei der internationalen Klagenfurter Tagung nachgegangen werden sollte, ist der Umgang von Gemeinschaften mit ihrem vielfältigen Wissen. Dabei wurde ein offener, interdisziplinärer Zugang gewählt, welcher der ansehnlichen Wissensgesellschaft des Mittelalters am besten gerecht werden konnte. Insgesamt gab es bei der Tagung 23 Vorträge von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus unterschiedlichen mediävistischen Fächern, sie forschen an Universitäten in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Tschechien, Ungarn, Spanien und den Vereinigten Staaten von Amerika. Leider war es nicht allen Beteiligten möglich, für den Tagungsband auch einen Druckbeitrag zur Verfügung zu stellen. In diesem Buch sind nun nach einer Einleitung von Angelika Kemper 13 Aufsätze enthalten, welche die Veranstaltung in den wichtigsten Punkten widerspiegeln. Die Tagungssektionen Wissensspeicher, Studium und Unterricht, Literatur sowie Wissenstransfer wurden im Wesentlichen beibehalten, die Abfolge allerdings geändert.

Die Fritz Thyssen Stiftung in Köln, die Stadt Klagenfurt am Wörthersee und die Fakultät für Kulturwissenschaften der Universität Klagenfurt haben die Tagung 2018 großzügig unterstützt. Ebenso gab es Zuschüsse vom Institut für Geschichte und dem Institut für Germanistik. Die Humanistische Gesellschaft Kärnten hat in Kooperation den reich bebilderten öffentlichen Abendvortrag von Susanne Rischpler unter dem Titel „Ein Blick in den Spiegel. Prudentia in der bildenden Kunst des Spätmittelalters und der Renaissance“ ermöglicht. Besonderer Dank gilt der Studienassistentin Marion Güldner für die Mithilfe bei der Tagungsorganisation. Sie hat auch mit den Korrekturarbeiten am Tagungsband begonnen, die von Mag. Dr. Martin Gabriel weitergeführt wurden. Karen Meehan hat die englischen Texte lektoriert. Ein letzter Beitrag wurde von Verena Millonig eingerichtet, die danach das Register erstellt hat. Allen Beteiligten ist für ←9 | 10→ihre Mühen besonders zu danken! So bleibt schlussendlich noch Martin Gosman, Nine Miedema, Rudolf Suntrup und Jörg Wesche für die Aufnahme des Bandes in die Reihe „Medieval to Early Modern Culture / Kultureller Wandel vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit“ und dem Peter Lang Verlag für die drucktechnische Betreuung zu danken. Großzügig unterstützt wurde die Publikation wiederum von der Fakultät für Kulturwissenschaften der Universität Klagenfurt und der Fritz Thyssen Stiftung. Ohne diese Zuwendungen wäre eine Drucklegung nicht möglich gewesen.

6. November 2020
Christian Domenig

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Angelika Kemper

Einleitung

Die Beiträge dieses Bandes gehen auf die Klagenfurter Tagung ‚Zwischen Himmel und Alltag. Wissen und Gemeinschaft vom Hochmittelalter bis in die Frühe Neuzeit‘ (7./8. Juni 2018) zurück. Ein wesentliches Ziel der Veranstaltung war es, die interdisziplinäre Diskussion zu Fragen der Wissensvermittlung, wie sie für Disziplinen der Mediävistik und Frühneuzeitforschung auftreten, aufzunehmen und weiterzuführen. Es haben sich so insbesondere geschichts-, sprach- und literaturwissenschaftliche Perspektiven auf ein fachübergreifendes Themenfeld ergeben, das sich mit seinen verschiedenen Gegenstandsbereichen – etwa poetischen und didaktischen Verfahrensweisen, Netzwerken und Expertentum – in der entstandenen Publikation widerspiegelt. Neben textlicher Wissensvermittlung werden in diesem Band auch mündliche Vermittlungskonstellationen einsehbar sowie (inszenierende, ritualisierende) Praktiken, von individueller bis zu institutioneller Ebene, von theoretischem Wissen bis zum alltäglichen Leben. Die Akteure reichen dabei von kaum lesefähigen Laien bis zur gelehrten Elite der Vormoderne, die tangierten sozialen Räume sind entsprechend divers und zeigen doch, wie essenziell der Gemeinschaftsbezug ist und wie versichernd und zugleich bestimmend eine Bezugnahme auf einen kollektiven Wissenshorizont sein kann. Gerade die Wissensbestände, ihre Begründungen und Abgrenzungen sind Indizien für die Ideale und Deutungsmuster vormoderner Gemeinschaften und besitzen mitunter identitätsstiftenden Wert. Die Beiträge geben damit einen Einblick in die „höchst dynamische Wissensgesellschaft“1 des Mittelalters wie auch der Frühen Neuzeit.

Vormoderne Wissensverhandlungen2 waren für die Tagung richtungweisend unter der Voraussetzung einer vornehmlich soziokulturellen ←11 | 12→Kontextualisierung von Wissen, seiner Speicherung und Vermittlung. Die Klagenfurter Tagung ging von der Prämisse aus, dass das Leben in einer Gemeinschaft die kulturellen Äußerungen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit in vieler Hinsicht prägt, sei es im Bereich der Literatur und Kunst, im religiösen Kontext oder auch in Wissenschaft und Unterricht. Berufungen auf Wissen und Aktualisierungen von Wissenshorizonten spielen dabei eine bedeutsame Rolle, sie können gemeinschaftsstiftend wirken oder auch von existenzieller Bedeutung sein, wenn es um das Seelenheil geht. Gemeinschaften berufen sich auf kohärente Wissensbestände, auf Autoritäten und bewährte Deutungsmodelle. Sie neigen zu einer didaktisch gelenkten Kontrolle und Tradierung ihres Wissens im hochabstrakten Bereich theoretischen Wissens ebenso wie in Fällen anwendungsbezogenen Wissens. Die Transferierung von Wissen ist ein heikler und regelungsbedürftiger Punkt, und unverkennbar sind es die Aktivitäten sozialer Gruppen, die Wissensaneignung und Wissensvermittlung beeinflussen oder steuern, wenn die je individuelle Dimension einer rein interessensgelenkten Wissensakkumulation überschritten wird. Wissen beruht auf geteilten Überzeugungen und zeitgenössisch fundierten Vorannahmen (etwa solchen über die Transzendenz), sodass kollektive Vorstellungen und Wertzuweisungen einfließen und als Kontextfaktoren zu berücksichtigen sind. Das jeweils ‚gültige‘ Wissen ist Teil historischer Wissensordnungen und erfährt immer wieder Wandlungen; die Frage nach der sozialen Einbettung berührt somit auch einen zentralen Punkt aller Wissensvermittlung.

Im Anschluss an diesen ersten Überblick über den Problemhorizont von ‚Wissen und Gemeinschaft‘ erscheint die Klärung einiger begrifflicher und konzeptioneller Voraussetzungen angebracht. Der vorliegende Band rekurriert im Fall von gemeinschaftsbezogenen Wissensverhandlungen ←12 | 13→nicht auf eine enge epistemologische Wissensbestimmung,3 die propositionalen Gehalten den Vorrang gibt, sondern auf eine breitere Wissenskonzeption, die von wissenssoziologischen Theoriebildungen4 beeinflusst ist. In erster Linie der Analyse von sozialen Zusammenhängen dienend, wurden diese Ansätze auch in der historisch und kulturwissenschaftlich ausgerichteten Wissensforschung der letzten Jahre vielfach rezipiert. Sie bieten einen erweiterten Wissensbegriff und halten den Einfluss von Wissenszuschreibungen bewusst, beachten die soziale Einbettung sowie die Praxisdimension von Wissen. Weniger steht für diese Theoriebildungen die epistemische Gültigkeit im Mittelpunkt als die historische und soziale Geltung (Reichweite, Bedeutung) von Wissensbeständen. Ein hieran orientiertes Vorgehen schärft den Blick für die soziale Hervorbringung und die Kontextualisierung von Wissen – wie die gesellschaftliche Prägung des menschlichen Denkens durch kollektive Ideen – und es kann zusätzlich zu den sozialen Wechselwirkungen in der realen Welt auch das imaginative Weltbild einer Epoche aufschließen.5 So öffnet sich der Forschung ein ←13 | 14→„radikal erweiterte[r]‌ Gegenstandsbereich“6 auf Basis eines breiten Wissensbegriffs, der Wahrheitsfragen suspendieren oder ihre Geltung historisieren kann und darüber hinaus textliche Zeugnisse und gelehrtes Wissen nicht notwendigerweise als privilegiert ansetzt.

Der Begriff der ‚Gemeinschaft‘ bezeichnet, in soziologischen Arbeiten wie auch in unserem Zusammenhang, eine – gegenüber der ‚Gesellschaft‘ – in der Regel eher kleinräumige soziale Einheit. Er impliziert eine grundlegende, traditional geprägte, sich auch emotional auf die Beteiligten auswirkende Zusammengehörigkeit; diese Auffassung wurde am Ende des 19. Jahrhunderts in Ferdinand Tönniesʼ soziologischer Theorie (1887) ausformuliert. Der Mensch sei demnach in vorfindliche Traditionen eingebettet, neben der Familie als Prototyp erfüllten Haus-, Dorf- und Stadtgemeinschaft die Voraussetzungen für diese Sozialform, die entwicklungsgeschichtlich früh in Erscheinung trete und von familialen, sprachlichen und religiösen Bindungen profitiere.7 Tönniesʼ Entgegensetzung von ‚Gemeinschaft‘ und ‚Gesellschaft‘ lässt sich mit der Annahme verbinden, dass Konsens in zentralen Lebensvorstellungen sowie die Vermeidung partikularer Interessen Inbegriff des Gemeinschaftlichen sei und dass in kleinen Gemeinschaften Homogenität dominiere oder doch grundsätzlich angestrebt werde.8 Auf der Grundlage der Analyse kleiner, ländlicher oder ←14 | 15→einfacher Gemeinschaften gewonnen, erklärt dieser soziologische Zugriff das Phänomen von solidarischen Neigungen und Gemeinschaftsgefühlen, aber macht auch den Stellenwert von geteilten Vorstellungen und Idealen für eine Gruppe plausibel.9 Der Gemeinschaftsbegriff ist zweifellos für vormoderne Verhältnisse naheliegend, da hier kleine soziale Einheiten prägend sind und durch Gemeinsamkeiten eine kollektive Identität ausbilden. Es existieren auch für die literaturwissenschaftliche Methodik zahlreiche Anknüpfungspunkte an das konsensuelle Modell der Gemeinschaft, welche gewissermaßen textfundierte Gemeinschaftsphänomene aufgreifen und die mittelalterliche Schrift-, Wissens- und Ritualkultur erschließen (unter den Schlagwörtern interpretive community, textual community, communities of learning10) – zumindest annähernd werden so homogene Vorstellungswelten und Interessen als Dominanten einer Vergemeinschaftung gesetzt. Doch bleiben divergente Interessen in Gemeinschaften für eine mediävistische Annäherung durchaus relevant. Denn es ist für das mittelalterliche Zusammenleben evident, dass angesichts intellektueller Deutungskämpfe und politischer Konflikte keinesfalls Widerspruchslosigkeit das dominante Prinzip sozialer und intellektueller Interaktion war. Damit tritt, vereinfachend gesprochen, eine Forschungstendenz auf den Plan, welche die Inhomogenität vormoderner Gesellschaften perspektiviert und diese im Gegenteil eher in Begriffen einer Konfliktkultur und fragmentierter Interessen beschreibt; in historiografischer und soziologischer Forschung wurden hier einflussreiche Theoriebildungen und ausgeweitete Folgeforschungen ←15 | 16→vorgelegt (u.a. Gerd Althoff), die sich im Kielwasser des performative turn auch sozialen Praktiken und Inszenierungen widmeten.11

Beide Ansätze berühren wesentliche Punkte, die für den Gemeinschaftsbegriff – hier verwendet ohne die gefühlsbezogenen Implikationen nach Tönnies – zu beachten sind. Es erschien daher für das vorliegende Vorhaben sinnvoll, die Prägekraft vormoderner Gemeinschaftsbindung und ebenso die damit verbundenen Kontroversen zu erfassen.

Der Begriff des ‚Wissens‘, wie er der Tagungskonzeption zugrunde lag, nimmt insofern Abstand von der strikten epistemologischen Wissensbestimmung – der von Platon eingeführten, klassischen Wissensdefinition der „gerechtfertigte[n]‌ wahre[n] Überzeugung“12 –, nach der Wissen in prüfbarer Weise den hohen epistemischen Ansprüchen der Wahrheitsbindung und Begründbarkeit genügen muss. Die Erweiterungen des Wissensbegriffs im Zuge wissenssoziologischer Erwägungen und des weitreichenden performative turn haben dagegen Wissenskriterien prominent gemacht, die durch die Aufnahme nicht-propositionalen Wissens und soziokultureller Dispositionen zahlreiche (zeitbedingte, epistemische) Relativierungen der klassischen Wissensbestimmung zulassen und deren rationalistische Dimension ergänzen. Diese erweiterten Wissenskriterien sind zweifellos heuristisch nützlich und haben sich in der Forschung der vergangenen 30 Jahre in diversen Fächern als produktiv erwiesen.

Die Vorteile dieser „Entgrenzung […] des Wissensbegriffs“ sind,13 dass zum einen die Aneignungsprozesse selbst mit ihren inhärenten Problematiken (Prüfen, Ordnen, Adaptieren und Modifizieren von Wissensbeständen etc.) stärker in den Mittelpunkt rücken konnten sowie die Transferoperationen (auf sprachlicher oder überlieferungsgeschichtlicher, auf medialer ←16 | 17→oder kommunikativer Grundlage), und dass zum anderen die Zulassung von Kompetenzen als wissensfähige kulturelle Größen (Ritualkompetenz, prozedurales Wissen wie Handwerkerwissen) disziplinübergreifend Anerkennung fand. Dass ein solches Wissen innerhalb von beschreibbaren und beobachtbaren (verbalen, performativen, kulturellen) Konventionen tradiert wird, erleichtert Anschlüsse an die prominenten Modelle des Wissenstransfers und der Wissenskulturen. Die Geschichte des Wissens lässt sich mit beiden Modellen – wenn man über ihren Schlagwortcharakter und manche Beliebigkeit in ihrer Anwendung hinwegsieht – als Geschichte von komplexer Interaktivität in der Genese und Weitergabe von Wissen fassen. Der epistemologische Verlust liegt dabei freilich in der Aufgabe von Allgemeingültigkeit, Geltung und emphatischer Bewertung von Wissen, die jeweils nur für den zeitgenössischen Wertungshorizont beurteilt werden können (selbst wenn aufseiten des/der Forschenden ein Grundbestand transhistorisch wahrheitsfähiger Wissensinhalte befürwortet wird).

Als einflussreich erweist sich für wissensgeschichtliche Studien, wohl aufgrund der interdisziplinär vielfältigen Anschlussfähigkeit des Kulturbegriffs, das wissenskulturelle Konzept;14 es zählt für die epistemologische Perspektive zum Lager der kontextualistischen Theoriebildung. Wie auch in kontextualistischen Ansätzen15 der modernen Erkenntnisphilosophie, ←17 | 18→die epistemische Standards als historisch variabel und kontextsensitiv beurteilen – also in der Lage sind, auch subjekt- und gruppengebundene Wissenszuschreibungen zu erfassen –, ist dabei eine Einschränkung der rationalistischen Wissensdimension erkennbar. Infolge einer wissenskulturellen Einbettung von Wissen können Überzeugungen auch durch vorrationale Faktoren gestützt werden, wie dies Hans Jörg Sandkühler ins Spiel bringt: Wissensfähige Überzeugungen und Meinungen lassen sich auf einer teils unreflektierten Ebene auch an „kollektive Gefühle und Denk-Bilder“ anschließen, die mit „kulturelle[n]‌ Selbstverständnisse[n], Einstellungen, Wertungen und Präferenzen“ verbunden und somit wandelbar sind.16 Hinsichtlich der grenz- und epochenüberschreitenden Anschlussmöglichkeiten des Wissens und der Frage, welches Wissen akzeptiert wird, scheint also die Langzeitwirkung einzelner Wissensparadigmen nicht nur abhängig zu sein von ihrer Wahrheit und Nützlichkeit, ihrer Eignung zur Konzeptualisierung und Transformation, sondern ebenso von einer Bandbreite der geteilten Werte und Wertungen, die sich selektiv oder affirmativ auf Wissensaneignungen auswirken und Kanonisierungen auslösen.

Im Anschluss an diese Überlegungen lässt sich nun eine Wissensbestimmung skizzieren, die die für das vorliegende Unternehmen relevanten Aspekte erfassen kann, v.a. aber die soziale und kulturelle Dimension ins Licht hebt: Wissen erscheint als die Gesamtheit der im jeweiligen sozialen und kulturellen Kontext gültigen Kenntnisse und auch der „mehrheitlich akzeptierten Meinungen oder Annahmen“,17 gleich, ob sie auf personale ←18 | 19→oder textuelle Wissensträger gestützt sind, explizit oder implizit kommuniziert werden oder sich allein auf Performanzen und Praktiken beziehen. Dank der epistemischen Neutralität gegenüber spezifischen Wissensinhalten und deren Wahrheits- und Rechtfertigungsbasis, die auch in den Beiträgen individuell gehandhabt und beurteilt wird, lässt sich eine solche Bestimmung als methodisch brauchbarer Ausgangspunkt für die Analyse wissensgeschichtlicher Vorgänge im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit nutzen. Ein ausgedehnter Wissensbegriff, wie hier umrissen, und eine kulturell und sozial geweitete Ansetzung von ‚Wissenstransfer‘ werden auch in der neueren einschlägigen Forschung bevorzugt; der vorliegende Band fügt sich in diese Entwicklung ein. Er steht damit im Einklang mit der gegenwärtigen Forschungstendenz, kulturwissenschaftliche Frageinteressen mit einer kontextualistischen Wissensauffassung zu verknüpfen.18

In der Forschung profitieren Projektvorhaben und Publikationen, die im Bereich der Mediävistik und Frühneuzeitforschung entstehen,19 seit einigen Jahren von einem weiten Gegenstandsbereich und einer Kontextualisierung von Wissen. Die Untersuchung vormoderner Wissensvermittlungen kann so auch interdisziplinäre Impulse aufnehmen, insofern sich auf der Ebene des untersuchten Gegenstands u.a. historische, literarische, sprachliche, kulturelle und soziale Aspekte verknüpfen lassen. Die kulturwissenschaftliche Wissensforschung – zusammenfassend und ohne definitorische Überlastung zu bezwecken, könnte man sie unter historischer Perspektivierung auch allgemeiner ‚Wissensgeschichte‘20 nennen, unter ←19 | 20→Betonung des Transfer- und Adaptationsgeschehens ‚Wissenstransferforschung‘, mit Gewicht auf soziokulturelle Bedingungen ‚Wissenskulturforschung‘ – kann in der Tat als Syntheseprojekt auf den vorausgegangenen Forschungsleistungen oder Forschungsparadigmen verschiedener Fächer aufbauen und diese zusammenführen.21 Freilich ist so Zugang geschaffen zu einflussreichen Tendenzen und Theoretisierungen der jeweiligen Fächer der letzten Jahrzehnte. Dies ist ein großer Vorteil – und zugleich wegen der disziplinären Unübersichtlichkeit ein Nachteil für die Erfassung des gesamten Forschungsfelds. Daher sollen hier lediglich die Entwicklungen, die für die Frage der ‚Gemeinschaft‘ relevant sind, benannt werden; die benannten Schwerpunkte sind heuristisch gewonnen.

Es manifestiert sich in der kulturwissenschaftlichen Wissensforschung zu Mittelalter und Früher Neuzeit,22 besonders in historiografischen wie philologischen Disziplinen als ‚Textwissenschaften‘ und auch in kunstwissenschaftlichen Zusammenhängen, als Beschäftigungsschwerpunkt die ←20 | 21→Vermittlungsproblematik, die neben den eigentlich epistemischen, auch hermeneutischen und wissenskonzeptionellen Fragerichtungen die breite Forschung dominiert. Ihre Untersuchung wurde durch die cultural turns der vergangenen Jahre angefacht, kann jedoch an zahlreiche, teils erheblich früher etablierte Forschungsansätze einzelner Fächer anknüpfen. Die Vermittlungsproblematik wird mit ihren verschiedenen Aspekten und (sozialen, zeitlichen, räumlichen) Fokussierungen gegenwärtig kontinuierlich erfasst und bezieht sich, in fachspezifischen Clusterbildungen der rezenten Forschung, auf den Großbereich der Praktiken (Rituale, Inszenierungen, Performanz), auf den der Überlieferung (Handschriften, Skriptorien, Materialität, Medialität), der Inter- und Metatextualität (Adaptationen, Kommentar), der Evaluierung und Validität (z.B. Normativität, Zensur), des sprachlichen Transfers (Transfer in die Volkssprachen, Kommunikation, Fachsprachen, Mündlichkeit/Schriftlichkeit), der sozialen und epistemischen Vorzugsstellung von Gruppen (Expertentum, Eliten) sowie der ästhetischen und bildlichen Strategien der Wissenspräsentation (z.B. poetische und sprachliche Muster der Textdarbietung, tangierend u.a. Fragen der Fiktionalität und Narration). Diese Schwerpunkte, die freilich nicht immer trennscharf zu sondern sind, können jeweils gemeinschaftsbezogene Aspekte thematisieren.23 Sie lassen zugleich erkennen, in welchem Ausmaß ←21 | 22→sich die Leittendenzen der Forschung der vergangenen Jahrzehnte auf das Gebiet der Wissensforschung auswirkten. Mit ihnen erscheinen nicht nur Themenpräferenzen, sondern auch Methodiken und Theoriehorizonte aus geschichts-, literatur-, kultur-, sozialwissenschaftlichen und linguistischen Ansätzen, die zur Untersuchung historischer Wissensverhandlungen beitragen.

Details

Seiten
358
ISBN (PDF)
9783631879887
ISBN (ePUB)
9783631879894
ISBN (Hardcover)
9783631828427
DOI
10.3726/b19807
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (Januar)
Schlagworte
Mittelalter und frühe Neuzeit ritualisierte Kontexte vormoderne Gemeinschaften
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 358 S., 9 farb. Abb., 4 Tab.

Biographische Angaben

Angelika Kemper (Band-Herausgeber:in) Christian Domenig (Band-Herausgeber:in)

Angelika Kemper ist Assoziierte Professorin am Institut für Germanistik der Universität Klagenfurt und lehrt dort ältere deutsche Sprache und Literatur. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Wissenstransfer, Geistliches Spiel und Frühneuzeitliches Theater, Mnemotechnik und Editionsphilologie. Christian Domenig ist Assistenzprofessor am Institut für Geschichte der Universität Klagenfurt und lehrt dort mittelalterliche Geschichte. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der mittelalterlichen Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte, der Geschichte des Alpen-Adria-Raumes sowie der Historischen Hilfswissenschaften inklusive digitaler Editionstechnik.

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Titel: Wissen in mittelalterlichen Gemeinschaften
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