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Wege der Germanistik in transkultureller Perspektive

Akten des XIV. Kongresses der Internationalen Vereinigung für Germanistik (IVG) (Bd. 6) - Jahrbuch für Internationale Germanistik - Beihefte

von Laura Auteri (Band-Herausgeber:in) Natascia Barrale (Band-Herausgeber:in) Arianna Di Bella (Band-Herausgeber:in) Sabine Hoffmann (Band-Herausgeber:in)
©2022 Konferenzband 594 Seiten
Open Access

Zusammenfassung

Linguistik und Kommunikation in transkultureller und kontrastiver Perspektive gehören zu den heftig diskutierten Fragen der aktuellen Sprachwissenschaft, die sich auch mit den vielfältigen Möglichkeiten der Kommunikation des 21. Jahrhunderts auseinandersetzt.
Der sechste Band enthält Beiträge zu folgenden Themen:
- Digitales Erzählen zwischen Routinisierung und Automatisierung;
- Multimodale Texte, Textsorten und Kommunikationsformen transkulturell und transmedial;
- Kontrastive Pragmatik;
- Kontrastive Korpuslinguistik;
- Diskurse zu Zentralität und Marginalität – Diskurslinguistische Agenden in Zeiten des Widerspruchs;
- Elektronische Kurznachrichtenkommunikation im Sprach- und Kulturvergleich

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Digitales Erzählen zwischen Routinisierung und Automatisierung
  • Digitales Erzählen zwischen Routinisierung und Automatisierung: Einleitung (Simon Meier-Vieracker (Dresden), Stefan Hauser (Zug), Joachim Scharloth (Tokyo))
  • „Wischen Sie nach oben für die ganze Geschichte.“ Multimodales Erzählen in journalistischen Instagram-Stories (Daniel Pfurtscheller (Innsbruck))
  • Internet-Memes als narrative Schemata (Andreas Osterroth (Landau))
  • Heterogene Handlungsträgerschaften bei der interaktionalen Verfertigung digitalen Erzählens (Matthias Meiler (Chemnitz))
  • Maschinen als Erzähltheoretiker. Zur Automatisierung der Erkennung von Erzählebenen (Svenja Guhr (Darmstadt), Evelyn Gius (Darmstadt))
  • Multimodale Texte, Textsorten und Kommunikationsformen transkulturell und transmedial
  • Multimodale Texte, Textsorten und Kommunikationsformen transkulturell und transmedial (Ewa Żebrowska (Warschau), Christina Gansel (Greifswald), Tanja Škerlavaj (Lijubiana))
  • Kommunikative Abweichungen als Störungen in Sport-Interviews im Ukrainischen und Deutschen (Khrystyna Dyakiv (Mannheim/Lwiw))
  • Textsortenvernetzung auf den Social-Media-Seiten von Hochschulen (Mark Döring (Hildesheim))
  • Diskurs steuernde Textsorten in Deutschland und Italien: eine kontrastive Analyse im Rahmen des Energiewendediskurses (Iris Jammernegg (Udine))
  • Anschlusskommunikation in Online-Foren: Ein Beitrag zur Erforschung mediatisierter Alltagsdiskurse und deren Potenzial für den Fremdsprachenunterricht (Suzana Vezjak (Bratislava))
  • Text und Ton – Zur Textgrammatik in akustischer Werbung (Sandra Reimann (Oulu))
  • Wortbildungen in multimodalen Texten als Ausdrucksmittel von Bildhaftigkeit, Kreativität und Expressivität (Irina Kruashvili (Tbilisi) )
  • Textsorte Hundewarnschild: Textfunktion, Mehrfachadressierung und Positionierungshandlungen (Christian Schütte (Leipzig))
  • Kontrastive Pragmatik
  • Kontrastive Pragmatik: Einleitung (Claus Ehrhardt (Urbino), Rita Finkbeiner (Mainz), Hitoshi Yamashita (Osaka))
  • Die Modalpartikel und ihre funktionalen Äquivalente im Portugiesischen (Marceli Cherchiglia Aquino (São Paulo))
  • Direktive Sprechakte im Textkontext. Ein deutsch-italienischer Vergleich in diachroner Perspektive (Tania Baumann (Sassari))
  • Wenn Nicht-Muttersprachler/innen mehr Toleranz zeigen: Eine experimentelle Studie zu Präsuppositionen, At-issueness und DaF (Yuqiu Chen (Göttingen))
  • Komplimente im deutsch-italienischen Vergleich. Überlegungen anhand von Restaurantbewertungen auf TripAdvsisor (Claus Ehrhardt (Urbino))
  • Metaphern und Rhetorik über die Flüchtlingsproblematik in deutschen und italienischen Zeitungen. Eine kontrastive Analyse (Isabella Ferron (Modena))
  • Wh-Überschriften im Deutschen und Englischen. Eine explorative kontrastive Studie zu ihrer Form und textstrukturierenden Funktion in Pressetexten (Rita Finkbeiner (Mainz), Anita Fetzer (Augsburg))
  • Kontrastive Analyse der Sprachhandlungsmuster: Kommunikativ-pragmatisches Feld als Tertium Comparationis (Elizaveta Kotorova (Zielona Góra))
  • Kontrastive Pragmatik – der Fall des Gratulierens (Frank Liedtke (Leipzig))
  • Die pragmatische Dimension von Phraseologismen (Elmar Schafroth (Düsseldorf), Sibilla Cantarini (Verona))
  • Kontrastive Korpuslinguistik
  • Kontrastive Korpuslinguistik – Stand und Perspektiven (Janusz Taborek (Poznań), Henning Lobin (Mannheim), Fabio Mollica (Mailand))
  • Eine kontrastive Korpusstudie zu Konfixderivaten: -phobie/ -fobia und -manie/ -mania im deutsch-italienischen Vergleich (Carolina Flinz (Mailand), Eva Gredel (Duisburg-Essen))
  • Zur Rolle von Gebrauchstendenzen (Doris Höhmann (Bologna))
  • Kohärenz durch Funktionsverbgefüge – eine korpusbasierte Fallanalyse am Beispiel des Deutschen und Polnischen (Susanne Kabatnik (Trier))
  • Neue Perspektiven für kontrastive Korpuslinguistik: Das Europäische Referenzkorpus EuReCo (Marc Kupietz (Mannheim), Beata Trawiński (Mannheim))
  • Migrationsdiskurs in Deutschland und in der Slowakei – eine korpusbasierte komparative Analyse (Jana Lauková (Banská Bystrica), Eva Molnárová (Banská Bystrica))
  • Die syntaktische Komplexität der Schriftsprache von chinesischen Germanistik-Studierenden – eine baumbankbasierte Studie im Rahmen der Dependenzgrammatik (Yushan Li (Hangzhou))
  • Multilinguale Studien mit vergleichbaren Korpora: Möglichkeiten, Grenzen und Desiderata für den deutsch-iberoromanischen Kontext (Meike Meliss (Santiago de Compostela))
  • Das so genannte Kausativpassiv im Sprachvergleich (Krisztina Molnár (Pécs))
  • Diskurse zu Zentralität und Marginalität – Diskurslinguistische Agenden in Zeiten des Widerspruchs
  • Mimikry der Marginalität (Ingo H. Warnke (Bremen), Silvia Bonacchi (Warschau), Charlotta Seiler Brylla (Stockholm))
  • Die schon länger hier leben. Ambivalente Zentralitätskonstruktionen im migrationspolitischen Diskurs (Simon Meier-Vieracker (Dresden))
  • Digitale Räume als Aushandlungsort für Marginalität und Zentralität (Anna Mattfeldt (Bremen))
  • Inklusion, Exklusion, Usurpation. Strategien der Übernahme diskursiver Widerstands- und Protest-Positionen im ‚Dritten Reich‘ sowie in der DDR anhand des rechtspopulistischen Blogs Politically Incorrect (Friedrich Markewitz (Paderborn))
  • „[...] bis sich jemand traut, sich dieser sprachlichen Umweltverschmutzung entgegenzustellen“ – Positionierungen im Diskurs um gendergerechte Sprache am Beispiel des Vereins Deutsche Sprache (Christine Ivanov (Hannover))
  • Zentrifugale und zentripetale Rededynamiken in politischen Diskursen am Beispiel des Coronapandemiediskurses (Katharina Jacob (Heidelberg), Jöran Landschoff (Heidelberg))
  • Elektronische Kurznachrichtenkommunikation im Sprach- und Kulturvergleich
  • Elektronische Kurznachrichtenkommunikation im Sprach- und Kulturvergleich (Myung-Won Choi (Seoul), Wolfgang Imo (Hamburg), Manabu Watanabe (Tokyo))
  • Autoiteration oder Simultanpräsenz? Zum mehrfachen Auftreten von Emojis in WhatsApp-Beiträgen (Wei Gu (Zürich))
  • Reihenübersicht

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Digitales Erzählen zwischen Routinisierung und Automatisierung: Einleitung

Digitale Medien und das Web 2.0 haben sich längst zu Medien der Narration entwickelt (Page 2017). Unter den vielfältigen kommunikativen Praktiken, die sich in digitalen Medienumgebungen beobachten lassen, nehmen Erzählungen unterschiedlichster Art eine prominente Stellung ein. Dabei, und hierauf zielt das medientheoretische Konzept der Affordanz (Zillien 2008), legen die besonderen technischen Rahmenbedingungen bestimmte Nutzungen nahe und prägen mithin die Formen und Formate des Erzählens. In der Linguistik, die spätestens seit Labov & Waletzky (1967) die „Alltagspraktiken des Erzählens“ (Spieß & Tophinke 2018) zu ihren Gegenständen zählt, eröffnen die vielfältigen Phänomene und Ausprägungen des digitalen Erzählens deshalb zahlreiche Forschungsperspektiven, die in zwei Richtungen instruktiv sind: Nicht nur erweist sich das erzählanalytische Instrumentarium als geeignet, um die Formen und Funktionen digitaler Medienkommunikation zu erschließen, sondern die digitalen Erzählpraktiken liefern auch reichhaltiges Anschauungsmaterial, um die etablierten erzähltheoretischen Begriffe einer Neubetrachtung zu unterziehen (Page 2010).

Im Fokus der Forschung zu digitalem Erzählen stehen dabei häufig einzelne Kommunikationsformen wie etwa Personal Blogs, die sich aufgrund der zeitlichen Sequenzierung der einzelnen Posts und der charakteristischen autobiographischen Dimension in besonderem Maße für Erzählungen eignen (Heyd 2017: 165 f.; Meier-Vieracker 2021: 169). In gattungstypologischer Erweiterung dieses Interesses fragen die Beiträge in Hoffmann (2010) und Nünning et al. (2012), wie sich digitale Medienkommunikation in den unterschiedlichsten thematischen Domänen zu regelrechten narrativen Genres verdichtet. Darüber hinaus richtet sich das Interesse aber auch auf Textsorten, die für sich genommen keine erzählerische Funktion haben, wie etwa Nutzerrezensionen, in denen sich aber dennoch erzählerische Elemente ausfindig machen lassen (Vasquez 2012). Auch Social Media-Plattformen wie etwa Twitter, Instagram oder Facebook mit ihren typischen Kommunikationsformen der Statusupdates oder der Kommentare sind zum Beispiel als Medien der narrativen Konstruktion sozialer Identitäten (Page et al. 2013; Dayter & Mühleisen 2016) beschrieben worden.

Vielen linguistischen Forschungsarbeiten zu digitalen Erzählpraktiken liegt, wenn auch meist nur implizit, eine kontrastive Methode zugrunde, indem nach ihren Spezifika gegenüber analogem Erzählen in Mündlichkeit wie auch Schriftlichkeit gefragt wird. Zum einen wäre hier in Kontrast zu ←11 | 12→analog-schriftlichen Erzählungen die Multimodalität der erzählerisch genutzten Medienkommunikate zu nennen, die auf neue Weise visuelle Elemente wie Bilder, Videos, GIFs usw. integrieren (Tophinke 2017). Das in den Plattformen Instagram, Facebook und Snapchat zur Verfügung stehende Medienformat (Paus-Hasebrink & Prochazka 2014) der Stories, das geradezu emblematisch für Social Media-typische Erzählungen steht (Georgakopoulou 2017), ist hierfür das beste Beispiel. Zum anderen sind aufgrund der Quasi-Synchronizität digitaler Medienkommunikation interaktive Erzählpraktiken zwar durchaus möglich, sie unterscheiden sich jedoch aufgrund der veränderten Modalitäten etwa des Turntaking (Meiler 2021) von mündlich-konversationellen Erzählpraktiken (Quasthoff & Ohlhus 2017). Das ursprünglich für mündliche Erzählungen entwickelte Konzept der Small Stories (Bamberg 2006) als fragmentarischen und in der Interaktion ko-konstruierten Erzählungen ist in der Forschung zu Sozialen Medien vielfach aufgegriffen worden, verlangt aber weitere Anpassungen, um beispielsweise auch Selfies und ihre Kommentierungen als Mikroerzählungen beschreiben zu können (Georgakopoulou 2016). Schließlich überformt die Algorithmizität und Verdatung der digitalen Medienumgebungen die Praktiken des Erzählens und macht sie vielfältigen Quantifizierungen und Metrisierungen zugänglich (Georgakopoulou, Iversen & Stage 2020). Diese zeigen sich nicht nur in den kommunikativen Anschlüssen etwa in Form von zählbaren Likes, sondern können sich auch in die erzählten Inhalte einschreiben.

Die Verdatung des Erzählens, die hier die Gegenstandsebene betrifft, eröffnet natürlich auch auf der methodischen Ebene neue Perspektiven, wenn quantifizierende Analysemethoden etwa aus der Korpuslinguistik verwendet werden. Zum digitalen Erzählen als Untersuchungsgegenstand tritt eine digitale Erzählanalyse. In der digitalen Literaturwissenschaft werden etwa Verfahren der digitalen Annotation narratologischer Einheiten (Gius 2015) oder auch Verfahren des Distant Reading eingesetzt. Auch in der Diskursanalyse sind narrative Muster als soziale Schemata des Erlebens untersucht worden, wie sie sich aus großen Textmengen etwa von Alltagserzählungen oder auch aus journalistischen Reportagen rekonstruieren lassen (Bubenhofer, Müller & Scharloth 2013; Klinker & Obert 2019). Über die konkreten Erzählungen hinaus interessieren hierbei auch die sich in ihnen manifestierenden Narrative und sozialen Skripte im Sinne von sozial akzeptierten Deutungsmustern, die bei der Konstitution und Vermittlung diskursiver Wissensordnungen eine zentrale Rolle spielen (Müller & Scharloth 2017; Mell & Gredel 2018). Der Blick richtet sich hier also jenseits der Singularität der erzählwürdigen Ereignisse (Norrick 2005) und der je individuellen und kontextsensitiven Ausgestaltung der einzelnen Erzählung auf die dem Erzählen zugrundeliegende Routinehaftigkeit und Serialität (Bubenhofer 2018).

Eben diese Serialität liefert schließlich die Grundlage für eine weitere Facette digitalen Erzählens, die auf seine Automatisierung abzielt. ←12 | 13→Technologien der künstlichen Spracherzeugung verfolgen unter dem Schlagwort Story Generation explizit den Anspruch, auf der Basis großer, für Einzelne unüberblickbarer Datenmengen vollautomatisiert sinnvolle Narrative zu generieren (Ghuman & Kumari 2013; Ronfard & Szilas 2014). Vor allem in journalistischen Kontexten, wo die Bezeichnungen Story bzw. Geschichte als Ethnotermini etabliert sind (Perrin 2010), kommen solche Technologien zum Einsatz. Im Rahmen des nach wie vor dominierenden template-basierten Ansatzes (Caswell & Dörr 2018) nutzen sie die aus Korpora erhobenen Musterhaftigkeiten authentischer Texte, um auf dieser Grundlage strukturierte Daten in kohärente und eben erzählerisch anmutende Texte zu überführen (Haim & Graefe 2018). In jüngster Zeit haben KI-basierte, auf riesigen Korpora trainierte Sprachmodelle wie GPT-3 große Aufmerksamkeit erregt, da sie in bislang ungekannter Qualität selbständig Texte hervorbringen können, die sich von menschlich geschriebenen Texten kaum noch unterscheiden lassen. Doch auch diese Technologien beruhen letztlich auf Methoden der Mustererkennung in den Trainingsdaten und reproduzieren gewissermaßen die dort vorfindlichen Textroutinen, die eben auch erzählerische Routinen umfassen.

Die Sektion, von deren Beiträgen im Folgenden eine Auswahl präsentiert wird, setzte es sich zum Ziel, die Formen und Produkte digitalen Erzählens im Spannungsfeld von Routinisierung und Automatisierung empirisch zu analysieren und theoretisch zu reflektieren und darüber hinaus Methoden der digitalen Erzählanalyse zu diskutieren. Daniel Pfurtscheller widmet sich journalistischen Instagram-Stories und zeigt in einer qualitativen Detailanalyse, dass hier fragmentarische Erzählformen ausgemacht werden können, die sich jedoch mit anderen journalistischen Genres verbinden und zudem durch die technischen Affordanzen der digitalen Medialität auf spezifische Weise überformt werden. Andreas Osterroth nimmt Internet-Memes in den Blick und diskutiert, inwiefern sich die stets seriell verfassten Memes als narrative Schemata beschreiben lassen und mit etablierten erzähltheoretischen Modellen aus der Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik analysiert werden können. Matthias Meiler untersucht Praktiken des interaktionalen Erzählens in der Messenger-Kommunikation und zeigt in Anknüpfung an techniksoziologische Überlegungen, wie sich hier menschliche und nicht-menschliche, also automatisierte Beiträge zu heterogenen Ensembles von Handlungsträgerschaften verbinden. Svenja Guhr und Evelyn Gius nehmen demgegenüber Praktiken digitaler Erzähltextanalyse in den Blick und diskutieren die Möglichkeiten, im Anschluss an menschliche Annotationsschritte die Analyse so weit zu automatisieren, dass der Computer als eigenständiger Erzähltheoretiker beschrieben werden kann.

Simon Meier-Vieracker, Stefan Hauser, Joachim Scharloth

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„Wischen Sie nach oben für die ganze Geschichte.“ Multimodales Erzählen in journalistischen Instagram-Stories

Daniel Pfurtscheller (Innsbruck)

Abstract: Der Beitrag beschreibt Social-Media-Stories als flüchtiges Medienformat, bespricht Besonderheiten der digitalen Medialität und untersucht spezifische Nutzungspraktiken anhand journalistischer Instagram-Stories. Zentral für die Medialität von Social-Media-Stories ist eine seitenbasierte Darstellungsform, die für eine mobile Nutzung via Smartphone konzipiert ist. Nutzer:innen wird es via Story-Funktion ermöglicht, Fotos und kurze Videoclips als Momentaufnahmen chronologisch anzuordnen, zu beschriften, mit grafischen oder interaktiven Elementen zu versehen und für einen bestimmten Zeitraum mit anderen zu teilen. Der Beitrag untersucht exemplarisch, wie Journalist:innen etablierter Medienorganisationen mit diesen Affordanzen im Rahmen ihrer Medienberichterstattung umgehen. In der vernetzten Präsentation digitaler Nachrichten lassen sich fragmentarische Erzählformen ausmachen, bei denen die crossmediale Verbreitung und Bewerbung digitaler Nachrichten im Vordergrund steht. Der Beitrag zeigt mit einer qualitativen Detailanalyse, dass für das flüchtige Erzählen via Social-Media-Stories aber auch etablierte Genres des Print- und Fernsehjournalismus adaptiert werden und diskutiert diese mediatisierten Erzählpraktiken vor dem Hintergrund des Problemfeldes von Erzählen und Journalismus.

Keywords: ephemere Social-Media-Kommunikation, Digitale Multimodalität, Medienlinguistik, Digitales Erzählen, Covid-19

1. Die Social-Media-Story als flüchtiges Medienformat

Im Zentrum dieses Beitrags steht eine Form der ephemeren Social-Media-Kommunikation, die in ihrer Selbstbezeichnung das Erzählen für sich reklamiert. Es geht um sogenannte Stories. Das sind Fotos und Videoclips, die von Nutzer:innen zu unterschiedlich langen Bildschirmsequenzen zusammengestellt und für eine begrenzte Zeit mit anderen geteilt werden. Als digitale Medienformate sind Social-Media-Stories eng an die Funktionalität und Präsentationsmöglichkeiten einzelner Plattformen und Softwareumgebungen gebunden. Kommunikative Praktiken – und damit auch potenzielle Formen des Erzählens – werden dabei durch Software ko-konstruiert. Schreiber (2017) hat in diesem Zusammenhang dafür plädiert, in der Analyse die spezifischen Affordanzen mit der Art und Weise, wie die Nutzer:innen sie handhaben, in Beziehung zu setzen (ausführlich dargestellt in Schreiber 2020, Kap. 4).

←17 | 18→Ein zentraler Aspekt der medialen Formatierung von Social-Media- Stories ist ihre seitenweise Strukturierung, mit der jeweils ein Segment der Story gleichzeitig sichtbar wird und die auf eine mobile Nutzung via Smartphone ausgerichtet ist. In Abbildung 1 habe ich versucht, diesen Präsentationsmodus und die darin angelegten Navigations- und Interaktionsmöglichkeiten schematisch darzustellen. Bei der Rezeption erscheinen Stories in einer Art selbstablaufender Slideshow, bei der die Story-Segmente aller abonnierten Accounts hintereinander angezeigt und vorgeführt werden. Diese besondere Präsentationsform gibt eine zeitlich-räumliche Rezeptionsrichtung vor, die sich von den Nutzer:innen aber steuern lässt. Innerhalb einer Story ist der softwareseitig vorgegebene Verlauf chronologisch und bezogen auf den Bildschirm von links nach rechts ausgerichtet. Die Rezipierenden können via Touchscreen-Gesten oder Mausklicks frei navigieren, die selbstablaufende Präsentation stoppen, einzelne Seiten vor- und zurückspringen oder zur Story des nächsten Accounts wechseln (durch eine Wisch-Geste nach rechts oder links).

Abb. 1:Navigations- und Interaktionsmöglichkeiten bei der Rezeption von Social-Media-Stories (eigene Darstellung). Man kann innerhalb der Chronologie einer Story vor- und zurückblättern, externen Verlinkungen folgen oder zu einer anderen Story des Feeds wechseln. Für diese Navigationshandlungen finden sich am oberen Bildschirmrand entsprechende Orientierungshinweise als Overlay, wobei die Länge und Anzahl der Striche mit der Anzahl der Story-Segmente korrespondiert.

Auf der Plattform Instagram, wo die Funktion 2016 eingeführt wurde, werden Stories als zwanglose (weil flüchtige) Möglichkeit beworben, im Alltag einzelne Momente mit anderen zu teilen (Instagram Business Team 2016). ←18 | 19→Entsprechende Pendants finden sich auch bei anderen Online-Diensten wie dem direkten Vorbild Snapchat und WhatsApp (dort Status genannt). Aus linguistischer Sicht ist angesichts solcher Marketingversprechen grundsätzlich fraglich, ob und wie in solchen Stories erzählt wird und welche spezifischen Erzählpraktiken unter diesem Label rekonstruierbar sind (Georgakopoulou 2019).

Diese Frage fokussiere ich im Folgenden anhand der journalistischen Nutzung der Story-Funktion auf Instagram. Für die Redaktionen von Online-Zeitungen und öffentlich-rechtlichen Medien, die es gewohnt sind, ihre Inhalte auf unterschiedliche Weise im Internet zu präsentieren, bieten Instagram-Stories einen zusätzlichen Distributionsweg. Neben der Verbreitung bereits vorliegender Nachrichteninhalte nutzen etablierte Medienorganisationen die Story-Funktion aber auch für die Produktion eigener und neuer Inhalte. Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden anhand von Instagram-Daten untersucht werden, wie journalistisches Erzählen im Story-Format erscheint und welche journalistischen Erzählmuster dabei adaptiert werden. Ich gehe zunächst auf die angesprochenen crossmedialen und plattformübergreifenden Aspekte der Nutzung ein (Abschnitt 2). In der Detailanalyse untersuche ich anschließend zwei exemplarische Fälle von reportagehaft inszenierten Instagram-Stories (Abschnitt 3). Auf die grundlegende Problematik des journalistischen Erzählens komme ich im Fazit zu sprechen, das abschließend die Besonderheiten dieser Art des digitalen Journalismus hervorheben soll (Abschnitt 4).

2. Fragmentarische Erzählformen und crossmediale Nachrichtenpräsentation

Für etablierte journalistische Medienunternehmen sind Social-Media-Stories insbesondere als zusätzliche Distributionsmöglichkeit interessant (Vázquez-Herrero, Direito-Rebollal & López-García 2019; Pfurtscheller 2022). Im crossmedialen Umfeld lassen sich zwei Strategien identifizieren, wie Medienhäuser mit Social-Media-Kanälen umgehen (Sehl, Cornia & Nielsen 2018): Auf der einen Seite geht es um die Bewerbung von bereits veröffentlichten Nachrichten. Diese Strategie zielt darauf ab, das Social-Media-Publikum durch kurze Nachrichtenschnipsel auf die eigene Website und die dort on-site veröffentlichten Beiträge aufmerksam zu machen (Pfurtscheller 2020). Andererseits produzieren Journalist:innen eigene und Nachrichteninhalte, die off-site, also abseits der klassischen Verbreitungskanäle, auf Social-Media-Profilen veröffentlicht werden, wo sie als eigenständige Beiträge rezipiert werden können.

Für Fragen des Erzählens sind diese Strategien relevant, da journalistische Instagram-Storys üblicherweise einen Bezug zu externen Inhalten ←19 | 20→aufweisen. Da eine reine Off-Site-Strategie aufwändig ist und Ressourcen bindet, ohne direkte monetäre Einnahmen zu bringen, ist in der Praxis eine Mischung die Regel. In Abbildung 2 sind Auszüge von mehreren deutschsprachigen Medienaccounts zusammengestellt, bei denen via Instagram-Story auf die eigenen Onlineangebote verwiesen und verlinkt wird. Dafür wird die angesprochene Swipe-Up-Funktionalität genutzt. In den ausgewählten Segmenten der (mitunter längeren) Stories wird man durch eingefügte Pfeile und Animationen, aber auch verbal aufgefordert, nach oben zu Wischen und damit die verlinkte Nachrichten-Webseite zu besuchen.

Abb. 2:Multimodale Teaser und Swipe-Up-Verlinkungen in journalistischen Instagram-Stories (1 @derstandardat, 2 @kurierat, 3 @sz, 4 @stern, 5 @bento, 6 @zeit; 20.09.2018)

Details

Seiten
594
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783034347174
ISBN (ePUB)
9783034347181
ISBN (Paperback)
9783034336604
DOI
10.3726/b20759
Open Access
CC-BY-NC-ND
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (Februar)
Schlagworte
Linguistik und Kommunikation Möglichkeiten der Kommunikation des 21. Jahrhunderts auseinandersetzt Kontrastive Korpuslinguistik
Erschienen
Bern, Berlin, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 594 S., 75 s/w Abb., 59 Tab.

Biographische Angaben

Laura Auteri (Band-Herausgeber:in) Natascia Barrale (Band-Herausgeber:in) Arianna Di Bella (Band-Herausgeber:in) Sabine Hoffmann (Band-Herausgeber:in)

Laura Auteri ist Ordentliche Professorin für deutsche Literatur an der Universität Palermo und war 2015-2021 Vorsitzende der Internationalen Vereinigung für Germanistik. Natascia Barrale ist Associate Professorin für deutsche Literatur an der Universität Palermo. Arianna Di Bella ist Associate Professorin für deutsche Literatur an der Universität Palermo. Sabine Hoffmann ist Ordentliche Professorin für deutsche Sprache und DaF-Didaktik an der Universität Palermo.

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Titel: Wege der Germanistik in transkultureller Perspektive
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