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Katalogisierung und Kommentierung der Jugendlektüren von Günter Grass in den 1930er und frühen 1940er Jahren oder: Wie Oskar Matzerath zu seinem Vornamen kam

Die Büchersammlung der Helene Grass im Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg e. V. und Literaturhaus Oberpfalz

von Dorothee Neuhaus (Autor:in) Volker Neuhaus (Autor:in)
Andere 146 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch rekonstruiert Entstehung und Inhalt von Helene Grass‘ Bücherschrank im Danzig der Vorkriegszeit und dokumentiert seine Nutzung durch den jungen Günter Grass. Neben einem Porträt von Grass‘ Mutter Helene präsentiert der Band Material für zukünftige Studien zu Grass‘ früher Lektüre wichtiger Werke der Welt- wie der deutschen Literatur. Zudem bietet er exemplarische Fallstudien zu Grass‘ produktiven Lektüren von Werken Gottfried Kellers, Gustav Freytags und Wilhelm Raabes, u.a. eine völlig neue Lesart der Hundejahre. Nebenbei ermöglicht die Erfassung des gesamten uns bezeugten Buchbestandes, einen weltberühmten Autor als Namenspaten Oskar Matzeraths ausfindig zu machen.
Erschlossen vom vorliegenden Katalog steht Helene Grass‘ Büchersammlung nunmehr im „Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg e.V. und Literaturhaus Oberpfalz" Grass-Freunden und -Forschern zur Nutzung zur Verfügung.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • Einleitung
  • Die Rekonstruktion nach dem Vorbild der Bibliothek im Goethe-Haus in Frankfurt
  • I. Volker Neuhaus: Der Bücherschrank der Helene Grass
  • Dichtermutter Helene: Grass’ „Aristeia der Mutter“
  • „Der Bücherschatz meiner Mutter“ 1: […] „in einem Schränkchen hinter blauen Scheibengardinen“.
  • „Der Bücherschatz meiner Mutter“ 2: „An bedruckte Seiten verloren“ – wie der kleine Günter Grass las
  • „Der Bücherschatz meiner Mutter“ 3: […] „eine Ansammlung kunterbunt gemischter Literatur, die der Sohn bald ausgelesen hatte“ – Der Katalog
  • II. Dorothee und Volker Neuhaus: Exemplarische Studien zu Grass’ Rezeption der bürgerlichen Realisten in Mutters Bücherschrank
  • Dorothee und Volker Neuhaus: „Treibbeete meiner Lügengeschichten“ – Zu Günter Grass’ Keller-Lektüren. Ein Versuch in einem Präludium, drei Sätzen und einer Coda
  • Dorothee und Volker Neuhaus: Ein Diptychon zu Wilhelm Raabe – Günter Grass zum Gedenken
  • Volker Neuhaus (Köln): „Welch Bruderglück um Kain und Abel“ – Grass’ Hundejahre als Überschreibung der deutsch-jüdischen Doppelromane von Gustav Freytag und Wilhelm Raabe
  • III. Volker Neuhaus: „Nie hört das auf“ – (hoffentlich): Weitere Perspektiven der Forschung zu Grass’ Jugendlektüren
  • Literaturverzeichnis

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Vorwort

Das Buch rekonstruiert aus zuverlässigen Quellen sorgfältig Entstehung und Inhalt von Helene Grass’ Bücherschrank im Danzig der Vorkriegszeit und dokumentiert seine intensive Nutzung durch den jungen Günter Grass. Neben einem ausführlichen Porträt von Grass’ Mutter Helene präsentiert der Band reiches Material für zukünftige Studien zu Grass’ früher Rezeption wichtiger Werke der Welt- wie der deutschen Literatur und stellt exemplarische Fallstudien zu Grass’ produktiven Lektüren von Werken Gottfried Kellers, Gustav Freytags und Wilhelm Raabes vor, die u.a. eine völlig neue Lesart der Hundejahre ergeben. Ganz nebenbei ermöglicht die Erfassung des gesamten uns bezeugten Bestandes, einen berühmten Autor als Namenspaten für Grass’ populärste Gestalt in Vorschlag zu bringen.

in seinem Erinnerungsbuch Beim Häuten der Zwiebel fragt Grass. „Was war aus dem verglasten Bücherschrank der Mutter geworden?“ Unser Katalog gibt die Antwort: 77 Jahre nach ihrem Danziger Untergang wird nun Helene Grass’ Büchersammlung in ihrer alten Gestalt im „Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg e.V. und Literaturhaus Oberpfalz“ samt ausführlichem Begleitbuch zur zukünftigen Nutzung durch Grass-Freunde und -Forscher wieder zu finden sein. Die Grass’schen Jugendlektüren in den originalen Ausgaben verlängert die wichtigen Grass-Bestände dieses Archivs aus den 1950er und 1960er Jahren, Grass’ Pariser Koffer, das Akzente-Archiv und den Nachlass seines wohl wichtigsten Freundes und Förderers Walter Höllerer, zeitlich zurück bis in Grass’ Kindheit und Jugend in den späten 1930er und frühen 1940er Jahren.←11 | 12→

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Einleitung

Grass beklagt in den Vorüberlegungen zu Beim Häuten der Zwiebel das Fehlen jeglicher materieller Zeugnisse zu seiner Biographie vor 1945:

Da mir, dem Kind einer Familie, die nach Kriegsende vertrieben wurde, im Vergleich mit Schriftstellern meiner Generation, die seßhaft am Bodensee, in Nürnberg oder im norddeutschen Flachland aufgewachsen, also im Vollbesitz ihrer Schulzeugnisse und Frühprodukte sind, kein Nachlaß aus Jugendjahren zur Hand ist, kann nur die fragwürdigste aller Zeuginnen, die Dame Erinnerung, angerufen werden, eine launische, oft unter Migräne leidende Erscheinung, der zudem der Ruf anhängt, je nach Marktlage käuflich zu sein. (WA 19, S. 58 f.)

Für einen Punkt gilt diese Zeugnisarmut nicht: Wir sind in der glücklichen Lage, die frühesten Lektüren des kleinen Günter zu kennen, ja sie wieder zu materialisieren: Ein für uns nahezu lückenlos zu rekonstruierender Bücherschrank der Mutter, der dem Sohn nach seinen eigenen Worten „bei der Beantwortung der Frage ‚Wie wurde ich Schriftsteller?‘ behilflich zu werden“ vermochte, ja, in dessen Beständen wie in „Treibbeeten meine Lügengeschichten keimten“, lassen uns sehr wohl Einblick in die geistige Befindlichkeit des pubertierenden Günter Grass werfen und detaillierte Antworten finden auf Günter Grass’ eigene Frage „Was aber las der Vierzehnjährige?“ (WA19, 44) Grass hat das Keimbeet späterer Werke im kleinen Bücherschrankes mehrfach liebevoll porträtiert, nicht erst 2006 in Beim Häuten der Zwiebel, sondern bereits an ganz heraus gehobener Stelle in Stockholm 1999 bei der Verleihung des Nobelpreises für Literatur: Fortsetzung folgt… Rede anläßlich der Verleihung des Nobelpreises für Literatur (WA 20, S. 69):

Die Bücher fanden sich in einem Schränkchen hinter blauen Scheibengardinen. Meine Mutter war Mitglied in einem Buchclub. Dostojewskis und Tolstois Romane standen dort neben und zwischen einigen von Hamsun, Raabe und Vicki Baum. Auch Selma Lagerlöfs „Gösta Berling“ war greifbar.

In seinen Erinnerungen Beim Häuten der Zwiebel findet sich dann ein ausführlicheres Porträt des kleinen Schranks und seines Inhalts:

Im Schränkchen standen Dostojewskis „Dämonen“ neben Wilhelm Raabes „Chronik der Sperlingsgasse“, Schillers „Gesammelte Gedichte“ neben Selma Lagerlöfs „Gösta Berling“ „Irgendwas von Sudermann stand Rücken an Rücken mit Hamsuns ‚Hunger‘, Kellers ‚Grüner Heinrich‘ neben eines anderen Keller ‚Ferien vom Ich‘. Und Falladas ‚Kleiner Mann – was nun?‘ war zwischen Raabes ‚Hungerpastor‘ und Storms ‚Schimmelreiter‘ zu finden. Wahrscheinlich lehnte sich an Dahns ‚Ein Kampf um ←13 | 14→Rom‘ jener illustrierte Band mit dem Titel ‚Rasputin und die Frauen‘, den ich späterhin als Kontrastlektüre zu Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘ jemandem angedichtet habe, der aus ganz anders geschichteten Gründen in Bücher vernarrt war, um sich anhand solch explosiver Mixtur das kleine und das große ABC beizubringen.

Das alles und noch mehr war mir Lesefutter. Gehörten „Onkel Toms Hütte“ oder „Das Bildnis des Dorian Gray“ zum Bücherschatz hinter Scheibengardinen? Was war von Dickens, was von Mark Twain greifbar? (WA 19, S. 50)

Für diesen Inhalt sei vor allem ein Buchclub verantwortlich gewesen, erinnert sich Grass: Seine Mutter werde „auch Mitglied einer Buchgemeinschaft – weißnichtwelcher – gewesen sein“ – nach Ausweis der von Grass genannten Bestände war die „weißnichtwelche“ die 1924 gegründete „Deutsche Buch-Gemeinschaft“, deren programmatisches Ziel es war, „guten und doch billigen Büchern in vorbildlicher Formgebung und bester Ausstattung den Weg in alle Schichten unseres Volkes zu bahnen“ – ein Ziel, das im Falle der gelernten Verkäuferin Helene Grass geborene Knoff (1898–1954) voll – und folgenreich! – erreicht wurde: Die DBG war in der Tat die Hauptquelle für den von Günter Grass noch nach über einem halben Jahrhundert erinnerten Bücherbestand im mütterlichen Bücherschrank, aus dem wiederum Grass seine Kindheits- und Jugendlektüre nahezu ausschließlich bestritt. Unter den mit mehreren Titeln vertretenen Autoren lässt deshalb der Name Vicki Baum aufhorchen, durch den allein ein vom DGB-Filter unabhängiges persönliches Profil Helenes erkennbar wird – Vicki Baum zählte nicht zu den Autorinnen der Buchgemeinschaft. Ihre Werke, darunter das einzeln genannte „Stud. chem. Helene Willfüer“, erschienen 1928, muss Helene Knoff, wie auch Fülop-Millers Rasputin-Buch „Der heilige Teufel“, als Fan der populären Autorin im Buchhandel erworben haben.

Details

Seiten
146
ISBN (PDF)
9783631886496
ISBN (ePUB)
9783631886502
ISBN (Paperback)
9783631886489
DOI
10.3726/b20158
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Dezember)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 146 S., 4 s/w Abb.

Biographische Angaben

Dorothee Neuhaus (Autor:in) Volker Neuhaus (Autor:in)

Dorothee Neuhaus ist apl. Prof. an der Universität Osnabrück. Ihre Schwerpunkte sind das 19.-21. Jahrhundert, insbesondere literarische Gestaltungen von Mensch-Tier- Beziehungen. Volker Neuhaus ist Universitätsprofessor für Neuere Deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität zu Köln. Er ist Monograph und Biograph von Günter Grass und Herausgeber aller seiner Werkausgaben bis 2007.

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