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Tabuthemen aus deutsch-tunesischer Perspektive

von Katharina Böhnert (Band-Herausgeber:in) Moez Maataoui (Band-Herausgeber:in) Hristos Slutas (Band-Herausgeber:in)
Sammelband 336 Seiten

Zusammenfassung

Tabus lassen sich als gesellschaftlich konventionalisierte Regeln dahingehend verstehen, was nicht zu tun sei. Sie fungieren mithin als Prohibitive. Galten Tabus früher als Relikte sogenannter primitiver Religionen, wird heutzutage auch ihre Zweckrationalität zum Schutze der Gesellschaft oder gesellschaftlicher Gruppen gesehen. Der vorliegende Band widmet sich der Frage, welche Tabuthemen es in Deutschland und Tunesien gab bzw. heute noch gibt und diskutiert kritisch Herkunft und Funktionalität im jeweiligen gesellschaftlichen Kontext.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Danksagung
  • Einleitung (Katharina Böhnert, Moez Maataoui und Hristos Slutas)
  • I Sprachwissenschaftliche Perspektiven
  • Das Sprechen über Tabus in der öffentlichen Kommunikation. Über die gewandelte Bedeutung des Wortes Tabu (Thomas Niehr)
  • „Wer die Wahrheit sagt, braucht ein verdammt schnelles Pferd“. Zur Phraseologie der Bewertung des ‚Tabubrechers‘ Thilo Sarrazin und seiner Gegnerinnen und Gegner in Amazon-Kundenrezensionen zu Feindliche Übernahme (Moez Maataoui)
  • Genderspezifische verbale Aggressionen: Schimpfwörter für Frauen im Deutschen und Tunesischen (Katharina Böhnert und Ina Khiari-Loch)
  • Versprachlichung von Tabus in Tunesien. Bourguiba und Ben Ali vor und nach der ‚Jasmin-Revolution‘ (Latifa Jabnoun)
  • II Literaturwissenschaftliche Perspektiven
  • „Der, dessen Name nicht genannt werden darf“. Literarische Tabus und interkulturelle Kompetenz (Hans-Joachim Jürgens)
  • Tabubrüche in der kontrafaktischen Literatur (Brahim Moussa)
  • Stabile Norm – Stabile Gesellschaft? Tabubrüche in Heinrich Manns Der Untertan im Hinblick auf Geschlechternormen (Sarah Cüpper)
  • Homosexualität und Geschlechterordnung in Die Verschwulung der Welt von Joachim Helfer und Rashid al-Daif (Idris Chouk)
  • Gegenwartsliteratur als Tabubruch. Darstellung von Diktatur- und Folteraspekten in der arabischen Welt am Beispiel arabischer und deutsch-arabischer Autoren (Karim Khadhraoui)
  • „Sonderbare Verwandtschaft“. Tabu und mimetisches Begehren in Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften (Klaudia Hilgers)
  • III Didaktik, Popkultur und Übersetzung
  • Interkulturelles Lernen durch Spielfilme im DaF-Unterricht: Tabus (Susanne Borgwaldt und Anchala Amarasinghe)
  • Sprachbiografische Arbeit im Lehr-Lernkontext Deutsch als Zweitsprache. Überlegungen zu persönlichen Sprachreflexionen im Unterricht vor dem Hintergrund Migration und Traumatisierung (Sebastian Pontzen)
  • Provokationsgenre Gangsta-Rap. Formen des Tabubruchs in den Texten des deutsch-kurdischen Gangsta-Rappers Haftbefehl (Lukas Knoben)
  • (Euphemistische) Versprachlichung des Tabuthemas ‚Sex‘ im Koran und die Problematik der Übersetzung ins Deutsche (Yasser Soliman Muhammad)
  • Reihenübersicht

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Danksagung

Der Sammelband geht auf zwei Workshoptagungen zurück, die aufgrund der Covid-19-Pandemie nicht wie ursprünglich geplant an der RWTH Aachen und der Universität Manouba stattfinden konnten, sondern online in Form einer Videokonferenz (Oktober und Dezember 2020) ausgetragen wurden. Sowohl die beiden Online-Tagungen als auch die vorliegende Publikation hat erst die finanzielle Unterstützung des Deutschen Akademischen Austauschdiensts (DAAD) im Rahmen des Programms Deutsch-Arabische Transformationspartnerschaften ermöglicht. Dafür und auch für die Förderung vorheriger germanistischer Partnerschaftsprojekte zwischen der RWTH Aachen und der Universität Manouba seit 2018 möchte sich das Herausgeberteam beim DAAD bedanken.

Für ihre zuverlässige Unterstützung bei der redaktionellen Arbeit am vorliegenden Band danken wir Philip Helf, Lukas Knoben, Lea Senger, Sophia Stepprath und Hava Yazir.

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Katharina Böhnert, Moez Maataoui und Hristos Slutas

Einleitung

1 Forschungsstand

Tabus sind aktuell ein interdisziplinär viel beforschtes Thema (für die Linguistik z.B. Allan/Burridge 2007, Simões Lucas Freitas 2008, Pizarro Pedraza 2018, Allan 2018, Crespo-Fernández 2018). Dies verwundert kaum: Ob Sexualität, Politik, Geld, Religion – die Liste der Themen, die in einer Gesellschaft tabuisiert werden, kann lang sein. Zöllner (1997) zufolge entstammen Tabus dem „sozialen Kodex einer Gemeinschaft“ und „[]schreiben [fest], welche Handlungen und Verhaltensweisen nicht ausgeführt werden sollen“ (ebd.: 25–26). Shattuk (1996: 11) fokussiert seinen Tabubegriff auf tabuisiertes Wissen, „Wissen, das tabu ist, das sich verbietet – aus Gründen der Moral, der Schicklichkeit oder der Menschlichkeit“. Ursprünglich wurde der Begriff ‚Tabu‘, der heute in vielen Sprachen der Welt (z.B. arab. تابو [tābū], engl. taboo etc.) existiert, aus dem polynesischen tapu (‚heilige Scheu‘) entlehnt. Seitens der postkolonialen Linguistik wird die „kulturelle Aneignung“1 des Begriffs und des dahinterstehenden Konzepts kritisiert, die dem säkular-westlichen Wertesystem angepasst wurde. Die Kernbedeutung des ‚Heiligen‘ hat Tabu fast vollständig verloren und stattdessen ein erweitertes Bedeutungsspektrum hinzugewonnen (vgl. den Beitrag von Thomas Niehr in diesem Band). Zusammenfassend lassen sich Tabus als gesellschaftlich konventionalisierte Regeln verstehen, was nicht zu tun, zu sagen oder gar zu denken sei. Themen werden somit zu Tabuthemen, wenn ein signifikanter Teil der Gesellschaft sich einig darüber ist, dass ein Thema im Diskurs umgangen werden sollte. Die Tabuisierung eines Themas ist einerseits vom gesellschaftlichen Setting und der konkreten Gesprächssituation abhängig: Während eine Diskussion über Sexualität und Beziehungen im engeren Freundeskreis eher nicht tabuisiert ist, gilt sie in öffentlichen Gesprächssituationen unter weniger bekannten Menschen als unpassend. Andererseits unterliegen Tabus auch Veränderungen innerhalb einer Kultur und Gesellschaft: An ←9 | 10→Literatur, Kleidung und Filmografie ist erkennbar, dass das Thema der Sexualität in Deutschland heute weit weniger tabuisiert wird, als dies noch vor einigen Jahren der Fall war. Ungeachtet dessen wird in der Kulturwissenschaft davon ausgegangen, dass es auch universelle Tabus gibt. Hierzu zählt in erster Linie das in Freuds Totem und Tabu (1922: 1–25) ausführlich behandelte Inzesttabu (vgl. auch Eliacheff 2021: 22–23), aber auch das fünfte biblische Gebot „Du sollst nicht töten“, das sich – in etwas anderer Nuancierung – auch in anderen religiösen Schriften wie z.B. dem Koran findet. Hinsichtlich ihrer Herkunft unterscheidet Singh (2021) zwischen drei Arten von Tabus: Die erste Art von Tabus entstammt menschlichem Aberglauben. So müssen sich im Glauben einiger Kulturen schwangere Frauen an Tabus halten, um eine reibungslose Schwangerschaft und Geburt sicherzustellen. Auf der indonesischen Insel Siberut etwa „ist es für schwangere Frauen tabu, Knoten zu knüpfen, Nägel einzuschlagen und sogar Sex zu haben – alles, um den heranwachsenden Fötus zu schützen“ (ebd.: 17). Die zweite Art von Tabus entsteht aus Kooperationen. So dient es dem Schutz von Gruppen und letztlich von einzelnen Individuen innerhalb dieser Gruppen, wenn wir „unser Land oder das menschliche Leben als geheiligt betrachten“ (ebd.) und uns ihnen gegenüber loyal verhalten. Letztlich „rührt [eine dritte Art von Tabus] von evolutionären Aversionen her“ (ebd.). Bestes Beispiel hierfür ist das bereits genannte Inzesttabu, das die Entstehung und Übertragung genetischer Erkrankungen verhindert. „Tabus gegenüber Nekrophilie, Kannibalismus, Koprophagie (Verzehr von Kot) und Sodomie könnten ihren Ursprung ebenfalls in evolutionären Schutzmechanismen haben“ (ebd.).

Das Sprechen über (vermeintliche) Tabus kann in bestimmten gesellschaftlichen Kontexten geboten sein, so z.B. in edukativen Kontexten wie dem Schulunterricht, wenn z.B. in der Sexualerziehung mit Kindern und Jugendlichen offen über Sexualität gesprochen wird. Auch im Geschichtsunterricht nimmt das Thema des Nationalsozialismus und – hiermit verbunden – die Schoah einen wichtigen Stellenwert ein. Wichtig ist dabei ein reflektierter Umgang mit diesen Themen, damit wirkliche Tabubrüche aus dem politischen Diskurs wie z.B. entartete Kultur, Ratten und Schmeißfliegen, Tätervolk, gleichgeschaltete Medien, Kopftuchmädchen, Denkmal der Schande, Vogelschiss (vgl. Niehr 2018: 35) als diese erkannt und kritisch eingeordnet werden können. Ein offenes Gespräch über diese Themen ist schon allein deswegen geboten, da sich im öffentlichen Diskurs immer wieder Gruppen aus dem rechtspopulistischen bzw. -extremen Spektrum mit der Behauptung zu Wort melden, dass mit der Kritik an bestimmten Sachverhalten Nachteile, wie z.B. die gesellschaftliche Ächtung, verbunden seien. Themen wie z.B. Migration oder Vergangenheitsbewältigung werden zu Tabuthemen stilisiert, über die nicht offen gesprochen werden dürfe. ←10 | 11→Wie Niehr (2020) zeigt, kann diese Behauptung unter diskursanalytischer Perspektive jedoch kaum aufrechterhalten werden (für weitere Aufbereitungen von Tabudiskursen vergleiche die Beiträge von Spieß [2021; zur Präimplantationsdiagnostik], Dreesen/D’Agostino [2021; zum Darknet], Stefanowitsch [2021; zu Politischer Korrektheit], Lautenschläger [2021; zum Schweigen in interpersonaler Kommunikation] und Gutt [2021; zum Sexualitätstabu im Missbrauchsskandal der katholischen Kirche]).

Während in Deutschland durch die stärkere Präsenz rechtspopulistischer und -extremer Parteien hinter der Maske der Meinungsfreiheit schleichend mehr Tabubrüche im öffentlichen Diskurs erkennbar sind, wurden Tabubrüche im postrevolutionären Tunesien kaum diskursanalytisch untersucht. Der politische Wandel nach der Revolution von 2011 führte zu einem bedeutenden Umbruch in der öffentlichen Kommunikation, zu dessen Hauptmerkmalen Tabubrüche zählen. Über Politik, Religion, Rassismus, Sexualität und regionale sozioökonomische Unterschiede konnte man vor 2011 in Kunst und Medien nicht frei sprechen, ohne dabei zu riskieren, vom damaligen Regime in irgendeiner Weise bestraft zu werden. Durch die Abschaffung der Zensur und die Demokratisierung der Medienlandschaft werden Tabus, oft im Namen der Errungenschaft der Meinungsfreiheit, gebrochen. Daraus erfolgt eine starke ideologische Polarisierung der Gesellschaft zwischen der säkularen fortschrittlichen Elite, die oft eine Reform bezüglich eines tabuisierten Themas vorschlägt, und dem konservativen Lager, das dagegen protestiert. Prominente Beispiele dafür sind etwa die Reform des Erbrechts und das brisante Thema der Einführung der Sexualerziehung in tunesischen Schulen.

Der vorliegende Sammelband macht es sich zur Aufgabe, (vorgebliche) Tabuthemen und -wörter in Tunesien wie in Deutschland zu ermitteln und ihre diskursive Behandlung unter den Perspektiven von Sprachwissenschaft (1), Literaturwissenschaft (2) sowie Didaktik, Popkultur und Übersetzung (3) zu beleuchten.

2 Übersicht über die Beiträge

I. Sprachwissenschaftliche Perspektiven

Im ersten Themenkomplex reflektieren deutsche und tunesische Linguistinnen und Linguisten aktuelle Aspekte des Sprechens über Tabus und des Brechens von Tabus in der analogen und virtuellen Öffentlichkeit. Den Auftakt bildet Thomas Niehrs begriffssemantischer Beitrag, der der Frage nachgeht, in welcher Bedeutung der Ausdruck Tabu im öffentlichen Sprachgebrauch der Bundesrepublik Deutschland verwendet wird. Dabei analysiert er aus einer ←11 | 12→vergleichenden Perspektive die Protokolle aller Debatten des Deutschen Bundestages der Jahre 2015 bis 2020 und Zeitungstexte des gleichen Zeitraums aus dem FAZ-Archiv und kommt u.a. zum Ergebnis, dass der Ausdruck Tabu und seine Komposita Gegenstand einer Bedeutungserweiterung sind. Diese Bedeutungserweiterung zeigt sich in der Verwendung der untersuchten Ausdrücke auch außerhalb von als klassisch zu betrachtenden Tabuthemen, wie ‚Sexualität‘, ‚Tod‘ und ‚Krankheit‘ sowie in der sprachlichen Konzeptualisierung von Verboten nicht nur im sozialen, sondern auch im individuellen Geltungsbereich.

Mit dem Sprechen über Tabus in der Bundesrepublik Deutschland befasst sich auch der zweite, phraseologisch orientierte Beitrag von Moez Maataoui, der den Fokus auf den Gebrauch von bewertenden Phrasemen in positiven Kundenrezensionen zu Thilo Sarrazins islamkritischem Buch Feindliche Übernahme (2018) richtet. Der als Tabubrecher stilisierte Publizist Sarrazin wird u.a. mit phraseologischen Mitteln im Gegensatz zu seinen Gegnerinnen und Gegnern als Sehender und knallharter, rationaler, ideologiefreier und mutiger Analytiker positiv bewertet. Dabei wird gezeigt, dass viele Phraseme kontextunabhängig eine positive oder eine negative Bewertung zum Ausdruck bringen, während andere erst durch eine Einbettung in den Kontext der Sarrazin-Debatte bewertend gebraucht werden.

Anhand einer kontrastiven Analyse genderspezifischer verbaler Aggressionen, v.a. in den sozialen Netzwerken, wird im Beitrag von Katharina Böhnert und Ina Khiari-Loch anschließend danach gefragt, ob sich der Gebrauch von gegen Frauen gerichteten Schimpfwörtern im deutschen und tunesischen Kontext ähnelt oder ob eventuelle kulturell bedingte Unterschiede zu finden sind. Durch eine Korpusanalyse deutscher und tunesischer Texte, v.a. aus den sozialen Netzwerken, wurde festgestellt, dass sich frauenspezifische Beschimpfungen in beiden Kulturen auf ähnliche Bereiche beziehen und dass im Tunesischen stärker religiös geprägtes Verhalten und im Deutschen eher normabweichendes Aussehen adressiert wird.

Im darauffolgenden den ersten Abschnitt abschließenden Beitrag widmet sich Latifa Jabnoun dem Thema des Umgangs mit politischen Tabus im postkolonialen Tunesien vor und nach der Revolution von 2010/2011 aus einer sprachwissenschaftlichen historisch-vergleichenden Perspektive. Anhand der Analyse des Sprechens über die ehemaligen autoritären Präsidenten Bourguiba und Ben Ali während und nach ihren jeweiligen Regierungszeiten wurde festgestellt, dass Tabus kontextabhängig sind und dass die jeweiligen gesellschaftlich-politischen Bedingungen entweder die Aufhebung oder das Aufrechterhalten von bestimmten politischen Tabus determinieren. Für ←12 | 13→den Umgang mit aufrechterhaltenen politischen Tabus wurden zudem einige Umgehungs- und Vermeidungsstrategien, wie v.a. der euphemistische Sprachgebrauch, festgestellt.

II. Literaturwissenschaftliche Perspektiven

Der zweite Themenkomplex beleuchtet aus literaturwissenschaftlicher Perspektive und mit unterschiedlichen Schwerpunkten den in der Literatur anzutreffenden Facettenreichtum an Tabus und Tabubrüchen und die darin stattfindende Auseinandersetzung mit ihnen.

Den Themenkomplex leitet Hans-Joachim Jürgens’ didaktisch orientierter Beitrag ein, der sich mit dem Namenstabu des dunklen Lord Voldemort in Joanne K. Rowlings Romanen über den Zauberlehrling Harry Potter befasst. Jürgens legt zunächst dar, dass die Kinder- und Jugendliteratur generell eine ganze Reihe an tabuisierten Themen enthält, die sich partiell in Rowlings Romanreihe niederschlagen und hier teilweise auf- bzw. gebrochen werden. Mit Fokus auf das Namenstabu und den damit verbundenen Konsequenzen bei einem derartigen Tabubruch werden in der Folge die unterschiedlichen Reaktionen bestimmter Romanfiguren mit diesem Verbot vorgestellt. Der paradigmatische Charakter dieser Ausführungen dient Jürgens als Vorschlag zu einer Unterrichtsskizze, deren Ziel es ist, ausgehend von dem fokussierten Sprechtabu zu allgemeinen Tabus überzuleiten, um die teilweise Kulturbedingtheit von Tabus und mögliche Wege eines adäquaten Umgangs mit ihnen aufzuzeigen.

In Deutschland, so Brahim Moussa in seinem Beitrag „Tabubrüche in der kontrafaktischen Literatur“, herrschen gegenüber parahistorischen Texten – anders als z.B. in angelsächsischen Ländern – generelle Bedenken, speziell in Bezug auf die Darstellung des Nationalsozialismus und hier vor allem der Schoah wird jegliche Abweichung von der historischen Realität aus einer moralischen Verpflichtung an eine als heilig empfundene Erinnerungskultur heraus als Tabubruch verstanden, vor allem dann, wenn die kontrafaktische Divergenz scheinbar ein relativistisches oder revisionistisches Geschichtsbild aufweist. Moussa legt dar, dass diese skeptische Haltung dem Genre in Bezug zu der hierbei behandelten Thematik gegenüber ungerechtfertigt ist, da kontrafaktische Literatur durchaus das Potenzial enthält und ihre Rolle darin sieht, mit verschiedenen, z.T. grotesken literarischen Mitteln und entgegen dem Vorwurf des Vergessens, die Erinnerung wach zu halten, indem sie der Ritualisierung der Geschichtsbetrachtung entgegenwirkt und so, mit den Worten des Autors, die „mediale Verkitschung von Geschichte“ fördert.

←13 | 14→Sara Cüpper analysiert anhand der Figuren Diederich Heßling und Agnes Göppel Tabubrüche und Verletzungen der bürgerlichen Normvorstellungen in Heinrich Manns prophetischem, scharfe Kritik an der autoritären wilhelminischen Gesellschaft übendem Roman Der Untertan. Nach einem theoretischen Überblick über die damals herrschenden, stereotypen Vorstellungen von Geschlechterrollen, die Frauen und Männern bestimmte Merkmale zuweisen, beschreibt Cüpper die Ausbruchsversuche der durch ihre Sozialisation geprägten Charaktere aus diesen Festschreibungen und zeigt auf, inwiefern das als Tabubruch verstandene Verhalten von Agnes und ihr vermeintlich verweichlichender Einfluss auf Diederich eine Gefährdung der bestehenden Ordnung darstellt, um schließlich festzustellen, dass sich das Abschweifen Diederichs als auch das Auflehnen Agnes, als ephemer erweisen. Ein Entrinnen aus den bestehenden Verhältnissen gelingt letztendlich beiden nicht, da vor allem Diederich den wilhelminischen Normen und Wertvorstellungen verhaftet bleibt, eben als Untertan. Das Tabubrüchen und Normverletzungen innewohnende Potenzial zu gesellschaftlichen Veränderungen, so das ernüchternd klingende Fazit der Autorin, bedarf einer viel breiteren Basis, um zur Geltung zu kommen.

Den Umgang mit Homosexualität und die Auffassungen von Geschlechterrollen aus libanesisch-arabischer und deutscher Perspektive beleuchtet Idris Chouks Beitrag am Beispiel des Buches Die Verschwulung der Welt von Rashid al-Daif und Joachim Helfer. Erläutert werden die vorwiegend kulturellen Differenzen geschuldeten konträren Ansichten, untermauert durch die sprachlich teilweise sehr direkte, offene Argumentation der Autoren, die die Kluft zwischen Okzident und Orient bezüglich (Homo-)Sexualität und Moralität deutlich machen. Aus arabischer Sicht, so Chouk, stellt allein schon dieser heikle Disput einen Tabubruch dar. Chouk belässt es in seinem Aufsatz nicht bei einer bloßen Darstellung der differenten Einstellungen, sondern greift kommentierend ein und setzt sich ausführlich mit Teilaspekten der Standpunkte auseinander, sodass den Leserinnen und Lesern die Hintergründe der jeweiligen Position deutlich werden. Eine wesentliche Erkenntnis, die er aus der Lektüre des Buches mitnimmt, ist die Tatsache, dass sowohl Tabus als auch Moralvorstellungen dem Kulturrelativismus und dem Zeitgeist unterliegen. Chouk plädiert am Ende, Helfer beipflichtend, „für ein tolerantes und friedliches Zusammenleben aller sexueller Orientierungen, Lebensformen und Glaubensrichtungen“.

Mit der literarischen Aufarbeitung von Foltererlebnissen in autoritären arabischen Staaten befasst sich Karim Khadhraoui. In den von ihm behandelten Romanen Östlich des Mittelmeers von Abd al-Ramān Munīf und Die Orangen des Präsidenten von Abbas Khider verarbeiten die Autoren persönliche ←14 | 15→Erfahrungen, die Grenzen zwischen Fiktion und Realität vermischen, und begehen durch die wenn auch fiktional verhüllte Enthüllung und Öffentlichmachung der Verhältnisse nicht nur in den Gefängnissen einen mit weiteren Konsequenzen verbundenen Tabubruch. Durch seinen Beitrag verschafft Khadhraoui einen Einblick in die perfiden, grausamen und inhumanen Foltermethoden dieser Regime und offenbart das unfassbare physische und psychische Leid der Gefolterten durch ihre Peiniger. Beschimpfungen, Demütigungen, Androhung von Gewalt, Verfolgung, Repressalien für die Familienangehörigen, sind an der Tagesordnung, Menschenrechte werden mit Füßen getreten. Khadhraoui sieht in beiden Romanen bzw. in literarischen Texten generell die Aufgabe, Gräueltaten totalitärer Staaten aufzuklären und die Erinnerung an sie wach zu halten. Er betrachtet mit den Romanautoren Tabubrüche in der Literatur als mögliches Vehikel zum gesellschaftlichen Wandel und als eine Form des Widerstandes gegenüber staatlicher Unterdrückung.

Bis heute stellen nicht nur reale, sondern auch literarisch bearbeitete inzestuöse Liebesbeziehungen einen Tabubruch dar, werden als skandalös empfunden und sowohl gesellschaftlich als auch juristisch sanktioniert. Um derartige Liaisons geht es in Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften. Ziel von Klaudia Hilgers’ Analyse ist es, die als Rätsel titulierten und von der Forschung bisher noch nicht angemessen gewürdigten verwickelten verwandtschaftlichen Beziehungen der Protagonistinnen und Protagonisten und ihre sexuellen Begehrlichkeiten zu entschlüsseln. Damit dies gelingt, so die interessante These von Hilgers, bedarf es einer neuen Lesart, da durch geschickte Erzählstrategien und unzuverlässige Erzählinstanzen der intendierte, einer Ironie und Tragik nicht entbehrende „kalkulierte Tabubruch“ verschleiert wird. In diesem Zusammenhang zeigt Hilgers überzeugend und mit Verweis auf Goethe die Notwendigkeit einer wiederholten Lektüre auf, um das Rätsel der ‚Wahlverwandtschaften‘ zu lösen.

Details

Seiten
336
ISBN (PDF)
9783631887257
ISBN (ePUB)
9783631887264
ISBN (Hardcover)
9783631843086
DOI
10.3726/b20072
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Dezember)
Schlagworte
Interkulturalität Transkulturalität Tunesien Migrationsliteratur Sprachtabus Historische Tabus Aktuelle Tabudiskurse
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2023. 336 S., 5 farb. Abb., 1 s/w Abb., 12 Tab.

Biographische Angaben

Katharina Böhnert (Band-Herausgeber:in) Moez Maataoui (Band-Herausgeber:in) Hristos Slutas (Band-Herausgeber:in)

Katharina Böhnert ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehr- und Forschungsgebiet Fachdidaktik-Deutsch der RWTH Aachen University. Moez Maataoui ist Dozent für Germanistische Linguistik an der Faculté des Lettres, des Arts et des Humanités der Universität Manouba in Tunis. Hristos Slutas ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehr- und Forschungsgebiet Fachdidaktik-Deutsch der RWTH Aachen University.

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Titel: Tabuthemen aus deutsch-tunesischer Perspektive
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