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(Auto-)Biographische Texte im Literaturunterricht

Fachwissenschaftliche Grundlagen und fachdidaktische Perspektiven

von Matthias Pauldrach (Autor:in)
©2023 Habilitationsschrift 450 Seiten
Open Access

Zusammenfassung

Die Reflexion (auto-)biographischer Schreibweisen und Textformen zählt zu den zentralen Aufgaben des Deutschunterrichts. Autobiographisches Schreiben in Online-Medien dominiert ebenso die Lebenswelt Jugendlicher wie eine zunehmende Personalisierung politischer und gesellschaftlicher Debatten. Die Studie bildet die gegenwärtige biographietheoretische Diskussion ab und macht auf dieser Grundlage konkrete Vorschläge für die didaktische Arbeit mit (auto-)biographischen Texten im Unterricht. Sie soll dazu anregen, im Literaturunterricht verstärkt (auto-)biographische Texte für literaturhistorische, interpretatorische und ästhetische Lernprozesse zu nutzen.
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Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1 Einleitung
  • 1.1 Vorbemerkung
  • 1.2 Forschungsgegenstand und Gattungsfragen
  • 1.3 Aufbau und Zielsetzungen der Studie
  • 1.4 Zusammenfassung des Forschungsstandes
  • 2 Biographietheoretische Grundlagen: Begriffe, Konzepte und historische Entwicklungen
  • 2.1 Biographie
  • 2.1.1 Erscheinungsformen, Tendenzen und Probleme
  • 2.1.2 Kollektivbiographik
  • 2.1.3 Schreib- und Diskurskonventionen biographischer Literatur
  • 2.2 Autobiographie
  • 2.2.1 Definitionsversuche und -probleme
  • 2.2.2 Autofiktion
  • 2.2.2.1 Exkurs I: Die Wandlung von Subjekt- und Identitätskonzepten
  • 2.2.2.2 Exkurs II: Das autobiographische Gedächtnis
  • 2.2.3 Autobiographische Subgattungen: Brief und Tagebuch
  • 2.2.4 Autobiographisches Schreiben im Internet
  • 2.3 Analyse (auto-)biographischer Texte
  • 2.3.1 Textlinguistische Analyse (auto-)biographischer Texte
  • 2.3.2 Narratologische Analyse (auto-)biographischer Texte
  • 2.3.3 (Auto-)Biographische Narrative
  • 2.3.4 Fiktionalität, Faktualität und die Subjektivität des (Auto-)Biographen
  • 2.4 Umgang mit (auto-)biographischen Texten: Praxisbeispiele und didaktische Impulse
  • 2.4.1 Vergleich und Dekonstruktion von Kurzbiographien: Beispiel Thomas Mann
  • 2.4.2 Biographische Kleinformen: Charakteristik und Porträt
  • 2.4.3 Erzählen, Erklären und Beschreiben: Textlinguistische und narratologische Analyse von Kurzbiographien
  • 2.4.4 Popularisierungs- und Authentifizierungsstrategien: populäre versus wissenschaftliche Biographik
  • 2.4.5 Merkmale literarisch-biographischen Erzählens
  • 2.4.6 Introspektion und Fiktionalisierung
  • 2.4.7 Fiktionalitäts-/Faktualitätsindikatoren
  • 2.4.8 Subjektivität der/des Biograph/in
  • 2.4.9 Leben und Werk
  • 2.4.10 Kollektivbiographik: Schreiben Frauen anders? – zum Für und Wider einer ‚Frauenbiographik‘
  • 2.4.11 Ganzschriften im Unterricht I: Biographien und Metabiographien
  • 2.4.12 Ganzschriften im Unterricht II: Biographischer Roman
  • 2.4.13 Erzählendes und erlebendes Ich: das Spiel mit der autobiographischen Erinnerung
  • 2.4.14 Gattungswandel und autobiographisches Schreiben im Internet: Brief und Mail, Blog und Tagebuch
  • 2.4.15 Ganzschriften im Unterricht III: Autofiktionen – Hermann Hesses „Unterm Rad“
  • 2.5 Schulbuchanalyse
  • 2.5.1 Analysekriterien
  • 2.5.2 Explizite Reflexion (auto-)biographischer Texte und Verfahren in den untersuchten Lehrwerken
  • 2.5.3 Implizite Vermittlung (auto-)biographischer Kompetenzen in den analysierten Schulbüchern
  • 2.5.4 (Auto-)Biographische Texte/Schreibweisen in Schulbüchern für die Sekundarstufe I
  • 2.5.5 Fazit
  • 3 (Auto-)biographische Zugänge zur Literaturgeschichte im Deutschunterricht
  • 3.1 Literaturgeschichte im Literaturunterricht
  • 3.2 Personalisierung in der Geschichts- und Literaturgeschichtsdidaktik
  • 3.2.1 Eine ‚Apologie‘ der Anekdote
  • 3.2.2 Heldenbiographik und Kritik an der Personalisierung seit den 1970er Jahren
  • 3.2.3 Renaissance der Biographik: Identifikation und Identitätsorientierung
  • 3.3 Narrativität und Imagination im Literaturgeschichtsunterricht
  • 3.3.1 Historiographie und Imagination
  • 3.3.2 Imagination und kritische Reflexion
  • 3.3.3 Mediendidaktische Aspekte
  • 3.3.4 Imaginationsfördernde Sprache und Narrative
  • 3.3.5 Handlungs- und Produktionsorientierung als Mittel der Vorstellungsbildung
  • 3.3.6 Visual Literacy als zentraler Bestandteil geschichtlichen und biographischen Lernens
  • 3.3.7 Vernetzung von „Biographemen“
  • 3.4 Praxisbeispiel: Imaginationsfördernde und narrative Zugänge zur Person und Autorschaft Goethes
  • 3.4.1 „Genie“ – zur Veranschaulichung eines literaturhistorischen Begriffs
  • 3.4.2 „Ein Tag aus Goethes Leben“ – Goethes Entwicklung zum Klassiker
  • 3.4.3 Bildung und Selbstbildung – Goethe als Vater
  • 3.4.4 Vorder- und Hinterhaus – Weimarer Sozialgeschichte
  • 3.4.5 „[H]‌alte mein haußweßen in ornug“ – historisches Sprachbewusstsein
  • 3.4.6 Dichter, Minister, Mensch mit Schwächen
  • 3.4.7 Goethe und das liebe Geld – Autorschaft zur Goethezeit
  • 3.4.8 Goethes soziale Beziehungen und das klassische Weimar als Netzwerk von „Biographemen“
  • 3.4.9 „Ein schöner Hexemeister[?]‌“ – Goethe im Bild
  • 3.4.10 Reisender und Comic-Held – Goethe für jüngere Schüler
  • 3.5 Biographik als Propädeutikum der Geschichtsschreibung
  • 3.5.1 Exkurs: Kooperationspotentiale und mögliche Synergieeffekte von Geschichts- und Literaturgeschichtsunterricht – unter besonderer Berücksichtigung (auto-)biographischer Texte
  • 3.5.2 Selektion historischer Fakten
  • 3.5.3 Periodisierung und Epoche
  • 3.5.4 Historisches Gattungsbewusstsein
  • 3.5.5 Dekonstruktion historiographischer Texte
  • 3.5.6 Biographik, Rezeptionsgeschichte und Kanonizität
  • 3.6 Schulbuchanalyse
  • 3.6.1 Analysekriterien
  • 3.6.2 Literaturhistorisches Epochenwissen und biographische Schwerpunktsetzung
  • 3.6.3 (Auto-)Biographische Quellen
  • 3.6.4 Redaktionelle biographische Texte
  • 3.6.5 Visual Literacy und nicht-printmediale biographische Texte
  • 3.6.6 Literaturgeschichte und Biographik in der Sekundarstufe I
  • 3.6.7 Fazit
  • 4 Autorbiographie und Textbedeutung – Chancen und Probleme biographischer Kontextualisierung literarischer Texte
  • 4.1 Die Rolle des Autors in der literaturwissenschaftlichen Interpretationspraxis – ein historisch-systematischer Überblick
  • 4.2 Literarische Kommunikation
  • 4.3 Autor, Erzähler und lyrisches Ich
  • 4.4 Autorfunktion und Autorperspektive bei der Interpretation literarischer Texte
  • 4.5 Typologisierungsversuch biographisch zu kontextualisierender Autoren
  • 4.6 Feldtheorie
  • 4.7 Literarische Wertung
  • 4.8 Dekonstruktion biographistischer Lesarten und autobiographisches „Maskenspiel“
  • 4.9 Methodisch-praktische Hinweise zur Nutzung kontextualisierender Materialien
  • 4.10 Praxisbeispiel: Johann Wolfgang von Goethe: „Willkommen und Abschied“
  • 4.11 Praxisbeispiel: Franz Kafka: „Die Verwandlung“
  • 4.12 Praxisbeispiel: Literaturskandal und Autor
  • 4.13 Praxisbeispiel: ‚Migrationsliteratur‘
  • 4.14 Schulbuchanalyse
  • 4.14.1 Analysekriterien
  • 4.14.2 Literaturtheorie und Verfahren der Textinterpretation
  • 4.14.3 Literarische Kommunikation
  • 4.14.4 Historische Kontextualisierung und Autorbiographie
  • 4.14.5 Kontextualisierende Materialien und Text-Aufgaben-Arrangements
  • 4.14.6 Interpretation und Wertung
  • 4.14.7 Fazit
  • 5 Resümee und Ausblick
  • 6  Literaturverzeichnis

1 Einleitung

1.1 Vorbemerkung

Die Rezeption von (Auto-)Biographien kam ebenso wie eigenes autobiographisches Schreiben in den letzten Jahrzehnten regelrecht in Mode, vor allem im angloamerikanischen Raum, wo nicht nur eine Menge Ratgeberliteratur zum autobiographischen Schreiben erschien, sondern auch etliche Studiengänge mit dieser Zielsetzung entstanden. Die Ursachen für die Renaissance der (Auto-)Biographie sind vielfältig. Günther Waldmann etwa sieht den „Biographie-Boom“ der letzten Jahrzehnte als Symptom einer globalen Desorientierung und Sinndiffusion: „Wenn die kulturellen Sinnhorizonte bröckeln, muss sich das Individuum in der Autobiografie einen eigenen Sinnhorizont schaffen.“1 Der postmodernen Literatur(-geschichtsschreibung) fehlt ‚die große Erzählung‘, daher haben insbesondere populäre (Auto-)Biographien Konjunktur, weil ihre eindimensionalen Narrative Ordnung, Orientierung und einfache Weltdeutung suggerieren. Es ist daher sowohl notwendig, solche simplifizierenden Erscheinungsformen der (Auto-)Biographik im Unterricht kritisch zu betrachten als auch die Chancen und Möglichkeiten auszuloten, die sich aus einer Beschäftigung mit (auto-)biographischen Gattungen/Schreibweisen2 im Deutschunterricht ergeben.

Zu vermuten ist, dass das didaktische Potential der (Auto-)Biographik im Literaturunterricht kaum genutzt wird. Jörg Knobloch führte auf der Grundlage von Gabriele Runges These, „dass das Vorhandensein von Lehrerhandreichungen positiv mit der Verwendung des entsprechenden Kinder- und Jugendbuchs im Unterricht korreliert“3, 2006 eine Erhebung vorhandener Unterrichtshilfen zu Biographien und Autobiographien in den bekannten Jugendbuch-Verlagen durch und zählte lediglich vier, darunter eine zum „Tagebuch der Anne Frank“4 (1947). Knobloch folgert: „Vergleicht man den Raum, der dem autobiographischen Erzählen im Deutschunterricht gegeben wird, mit der Rolle, die es im Leben von Kindern und Jugendlichen spielt, dann ist festzustellen, dass die Bedeutungen nicht in Einklang miteinander zu bringen sind.“5

In den KMK-Bildungsstandards für den mittleren und höheren Schulabschluss ist zwar zu lesen: „[D]‌ie Schülerinnen und Schüler können […] reflexive Textformen wie Essay, Tagebuch, Gedicht, Brief, zur Selbstreflexion, Wissensbildung und Entfaltung des ästhetischen Ausdrucksvermögen in literarischen und pragmatischen Zusammenhängen verwenden“, sie „können die in literarischen Werken enthaltenen Herausforderungen und Fremdheitserfahrungen kritisch zu eigenen Wertvorstellungen Welt- und Selbstkonzepten in Beziehung setzen“ und „sich mittels pragmatischer Texte mit den eigenen Wertvorstellungen, auch in einer interkulturellen Perspektive, auseinandersetzen“6. Doch fällt die Auseinandersetzung mit sog. „Kunstprosa“7, die nicht eindeutig der Dichotomie Literatur versus Sachtexte zuzuordnen ist, im ‚real existierenden‘ Unterricht häufig unter den Tisch. Weder Literaturdidaktik noch Sprachdidaktik fühlen sich dafür zuständig.

Als zentrale Ziele einer ‚(Auto-)Biographie-Didaktik‘ werden in dieser Studie nicht Leseförderung und Identitätsbildung betrachtet, wie Jürgen Baurmann im Basisartikel des Praxis-Deutsch-Hefts „Biographien“8 vorschlägt, obwohl diese – vor allem im Zusammenhang mit autobiographischen Texten – eine durchaus wichtige Rolle spielen. Vielmehr stehen im Zentrum dieser Arbeit, die als Habilitationsschrift an der Universität Salzburg eingereicht wurde. die Beschäftigung mit (auto-)biographischen Gattungen und Verfahren als integraler Bestandteil literarischer Bildung und eine Nutzung biographischer Texte im Hinblick auf literaturhistorische, interpretatorische und ästhetische Lernprozesse.

1.2 Forschungsgegenstand und Gattungsfragen

In der literaturwissenschaftlichen und historiographischen Biographik herrscht Uneinigkeit darüber, ob Biographie und Autobiographie überhaupt als eigene Gattungen zu betrachten sind, oder ob es sich hier, wie der Begriff Life-Writing, der sich im englischen Sprachraum etabliert hat, nahelegt, um einen transgenerischen Produktions- und Rezeptionsmodus (vgl. unten: „Schreibweise“) handelt, der „alle Formen persönlicher Erzählungen, darunter auch Interviews, ethnographische Texte und Internetseiten, umfasst“9.

In Sprach-, Literatur-, und Medienkulturwissenschaft besteht inzwischen weitgehend Einigkeit darüber, dass Gattungen keine vorgefundenen Objekte sind, die ‚an sich‘ existieren, sondern dass es sich vielmehr um pragmatische Konstrukte handelt, die von Wissenschaftlern nach Maßgabe bestimmter Differenzierungskriterien konstruiert werden.10

Gattungen sind also wissenschaftliche Konstrukte, ihre klassischen Bestimmungskriterien sind Inhalt und Form, weitere mögliche sind Faktualität/Fiktionalität oder gattungstypische Verfahren der Textproduktion.11 Nünning bezeichnet zudem den „kulturell-historisch[en] […] Entstehungs- und Verwendungskontext“12 als gattungskonstitutiv. Einen solchen funktional- pragmatischen Gattungsbegriff vertritt auch Dieter Lamping, der (Erich Köhler zitierend) die soziale Funktion von Gattungen und ihren „‚Sitz im Leben‘“13 betont. Gattungen, so Lamping, hätten hauptsächlich klassifikatorische und kommunikative Funktion, weil sie dem Leser Rezeptionssignale gäben, die dieser befolgen könne oder eben nicht.

Es spricht einiges dafür, im Rahmen dieser Studie bzgl. (auto-)biographischer Texte nicht an starren Gattungskriterien festzuhalten. Dies hilft auch deshalb nicht weiter, weil ein Charakteristikum postmodernen Schreibens das Unterlaufen von Gattungsmerkmalen und entsprechender Lesererwartungen darstellt, mit denen auf metafiktionaler Ebene gespielt wird. Dies kann, so Moritz Baßler, im besten Fall zur Neuinterpretation der Gattung beitragen.14 Auch die Unterscheidung zwischen fiktionaler und faktographischer Literatur erscheint, wie in Kap. 2.4.7 noch erläutert wird, zur Gattungsbestimmung (auto-)biographischer Texte ungeeignet, weil Realitäts- und Fiktionspakt, d.h. textpragmatische Kriterien allein, nicht zur Analyse von Fiktionalität/Faktualität taugen. Auch die Unterscheidung zwischen „Zweckformen“15 und „Kunstprosa“16 („Tagebuch, Brief, Reisebericht, Autobiographie, Biographie, Dialog, Predigt, Essay, Fragment und Aphorismus“17) erscheint nicht hilfreich, weil der Begriff „Kunstprosa“ eine Wertung von Texten impliziert, die angesichts eines kulturwissenschaftlichen Zugangs nicht mehr zu überzeugen vermag. Neueren kulturwissenschaftlichen Ansätzen der Narratologie geht es um „kulturelle Bedeutungskonstruktionen“18, wobei die Literarizität von Texten – ohnehin eine umstrittene Größe – und damit verbundene Kanonizitätsabwägungen keine Rolle mehr spielen.

Anstelle des Abarbeitens starrer, womöglich ahistorischer Gattungsmerkmale bei der Interpretation literarischer Texte vor gattungstheoretischem Hintergrund, schlägt Zymner den dynamisch-flexiblen Weg der historischen Reihenbildung vor, bei dem es darum geht, „Gattungsangaben eben als Hinweise auf intertextuelle Bezüge zu verstehen, die interpretatorisch nachzuvollziehen sind, um dem Text gerecht zu werden“19. Daher wird in dieser Arbeit ein historisch variabler, pragmatisch-funktionaler bzw. diskursbezogener Gattungsbegriff gewählt. In der (auto-)biographischen Forschung wird bisweilen auch der Begriff Schreibweise anstelle von Gattung vorgeschlagen, mit dem Hinweis, dass es sich beim (auto-)biographischen Äußerungsakt um eine transgenerische, transmediale und sich in hohem Maße dynamisch verändernde kulturelle Praxis handelt, die gerade im Internet verschiedene traditionelle Medienformate und Modi bündelt (Bild, Text; Film etc.) und die in allen (klassischen) Künsten stattfindet (Malerei, Musik, Film etc.).20 Dennoch soll hier die Verwendung traditioneller (auto-)biographischer Gattungsbezeichnungen beibehalten sowie deren historische Veränderbarkeit, Entwicklungsdynamik und Tendenz zur „Remediation“ („remediation21) berücksichtigt werden, worunter Jay David Bolter und Richard Grusin „the particular ways in which they (new media, Anm. v. M.P.) refashion older media and the ways in which older media refashion themselves to answer the challenges of new media“22 verstehen.

Diese Studie konzentriert sich auf printmediale Texte. Diese sind seit jeher mit piktoralen Texten integral verbunden, z. B. in Gestalt einer emblematischen Struktur. Didaktisch gesehen schärft die Hinzunahme von Bildern nicht nur das Bewusstsein für die Medialität literarischer bzw. printmedialer Texte (Michael Baum spricht von der „basale[n]‌ Medialität von Literatur selbst (als Schrift, als Schrift mit Bildern, als Schrift, die Bildhaftigkeit reflektiert etc.))“23, sondern führt aufgrund der „produktive[n] Differenz zwischen analogen und digitalen Codierungen“24 zu einem jeweils besseren Verstehen von Bild und Text im Prozess der Übersetzung, die jedoch niemals vollends gelingen kann. Auch (auto-)biographische Erzählungen im Internet arbeiten mit inter- und transmedialen Codes, deren integraler Bestandteil Bildorientierung ist, weshalb solche Online-Texte im Rahmen dieser Studie Berücksichtigung finden. Nicht zuletzt enthalten biographische Paratexte, zentraler Gegenstand des fünften Kapitels dieser Arbeit, i. d. R. ein Porträt des Autors25, was die Beschäftigung mit Porträts von Schriftstellerinnen bzw. Schriftstellern und deren Analyse unumgänglich macht (vgl. Kap 3.3.6). Die Medialität (auto-)biographischer Texte wird in dieser Studie unter verschiedenen Aspekten betrachtetet: der semantischen Bezugnahme auf Medien bzw. bestimmte Medientexte, der Sammlung, Reproduktion und Montage von Medientexten in den (auto-)biographischen Text und der Nachahmung, Weiterentwicklung und Verfremdung medialer Darstellungsverfahren (z. B. filmisches Erzählen). Die Medialität (auto-)biographischer Texte wird außerdem reflektiert im Zusammenhang mit ihrer Gattungszugehörigkeit („kodebezogener Medienbegriff“26), ihrer Diskursgebundenheit („soziologischer“ bzw. „kulturbezogener Medienbegriff“27; vgl. Kap. 2.1.3) sowie im Rahmen der Bestimmung von textpragmatischen (d. h. meist paratextuellen) Fiktionalitäts-/Faktualitätsindikatoren (vgl. Kap 2.4.7). Das heißt: Im stark praxisbezogenen Kapitel 2.2, in dem es um die konkrete Arbeit mit (auto-)biographischen Texten im Unterricht geht, werden Publikationsort und -zusammenhang der dabei verwendeten Materialen stets mitberücksichtigt (z. B. Klappentext, Schulbuch oder Internetseite). In Kapitel fünf, das sich mit biographischer Kontextualisierung literarischer Texte befasst, ist die Medialität (auto-)biographischer (Para-)Texte vor allem im Zusammenhang mit literarischer Wertung (Literaturkritik) und medialen Inszenierungspraxen von Autoren von zentraler Bedeutung.

1.3 Aufbau und Zielsetzungen der Studie

In den Kapiteln 2.1 und 2.2 dieser Studie geht es um Probleme, Charakteristika, Erscheinungsformen und Probleme (auto-)biographischen Lesens und Schreibens, wie z. B. biographische Selektion, Konstruktion, Biographiewürdigkeit von Personen, die Subjektivität der/des Biographierenden und Darstellungsverfahren moderner Biographik. Das Kapitel 2.3 handelt von möglichen (sowohl textlinguistischen als auch narratologischen) Analyseverfahren bzw. -kriterien entsprechender Texte. Dabei werden neuere und neueste (auto-)biographietheoretische Forschungsergebnisse berücksichtigt.28 (Auto-)biographische Texte gehören in der Regel hybriden Textsorten/Schreibweisen zwischen literarischer und Alltagskommunikation an. Anstatt – wie dies in den meisten Schulbüchern in säuberlich voneinander getrennten Kapitel geschieht – Sachtexte mit textlinguistischen und Erzähltexte mit narratologischen Kriterien zu analysieren, und den Schülerinnen und Schülern so zu suggerieren, es gebe eine klare Unterscheidung zwischen sachlichem und literarischem Schreiben, sollten Schüler/innen lernen, Sachtexte sowie literarische Texte sowohl mit geeigneten textlinguistischen als auch narratologischen Mitteln zu untersuchen, um auf diese Weise diskursspezifische Verfahren der Textgestaltung zu erkennen.29 Dem Problem der Fiktionalität/Faktualität (auto-)biographischer Texte wird sowohl in Kapitel 2.3 als auch in Kapitel 2.4 ein besonderer Schwerpunkt gewidmet, da diese Dichotomie häufig als das vermeintlich zentrale Unterscheidungskriterium von Literatur und Sachtexten angesehen wird. Die Dinge liegen jedoch sehr viel komplizierter und die schulische Unterscheidung zwischen Literatur und Sachtext ist weder aus der Sicht der modernen Narratologie noch aus der Perspektive der modernen Geschichtsschreibung (z. B. Hayden Whites, vgl. Kap. 2.3.4) aufrechtzuerhalten. Statt hier strikt zu trennen, sollten Schüler/innen lernen, sowohl in Sachtexten als auch in literarischen Texten verschiedene Grade an Realität/Fiktion ebenso wie an Fiktionalität/Faktualität zu unterscheiden.

In Kapitel 2.4 dieser Studie werden praxisorientierte Vorschläge für den Umgang mit (auto-)biographischen Texten im Literaturunterricht gemacht. Dabei werden in den Kapiteln 2.1 und 2.2 reflektierte und thematisierte Grundfragen der (Auto-)Biographik, z. B. die Bestimmung der (Non-)Fiktionalität autobiographischer Texte oder der biographischen Selektion, der Subjektivität der/des Biograph/in etc. anhand (auto-)biographischer Text(ausschnitt)e und vorgeschlagener Reflexionsaufgaben für den Literaturunterricht aufbereitet. Es handelt sich dabei allerdings nicht um fertige Unterrichtssequenzen, sondern als vielmehr um (individuell zu modifizierende) Bausteine zur Unterrichtsgestaltung. Die dabei verwendeten (auto-)biographischen Textausschnitte und Dokumente befinden sich in einem der Studie beigefügten Anhang auf CD-ROM, wo sie anhand von Abbildungsnummern auffindbar sind. Dieser Anhang kann beim Autor persönlich unter folgender E-Mail-Adresse bezogen werden: matthias.pauldrach@plus.ac.at

Es geht im zweiten Kapitel der Arbeit auch darum, (auto-)biographische Texte nicht ausschließlich heteronom im Hinblick auf übergeordnete didaktische Ziele zu betrachten (z. B. Leseförderung, Identitätsorientierung), wie die Literaturdidaktik dies in der Vergangenheit häufig getan hat, sondern sie an sich zu würdigen. Dies wird in literaturdidaktischen Lernarrangements häufig verabsäumt, wo (auto-)biographische Texte lediglich Paratextfunktion haben, im klassischen, von Genette definierten Sinn, der den Paratext als ein „Beiwerk des Buches“30 bezeichnet. Meistens wird auf eine vertiefte Auseinandersetzung mit diesem „Beiwerk“ in materialgestützten Interpretationsaufgaben wenig Wert gelegt, ein Verstehen der (auto-)biographischen Paratexte wird von vorherein unterstellt, scheint es doch mühevoll genug, die gattungstypologischen und strukturellen Eigenarten des eigentlich im Zentrum stehenden literarischen Textes herauszuarbeiten. Ein zweiter Grund, warum die Literaturdidaktik es bislang kaum für nötig hielt, sich näher mit (auto-)biographischen Texten zu befassen, ist die Tatsache, dass diese z. T. nicht in die Goethe’sche Gattungstrias passen. Doch gerade die intensive Debatte um Autorschaft, die seit etwa 20 Jahren in der Literaturwissenschaft stattfindet, hat (auto-)biographische Texte stärker in den Fokus gerückt und den Terminus der Autofiktion hervorgebracht, von dem im Lauf der Arbeit noch öfter die Rede sein wird. Vor allem die Prosa der Gegenwartsliteratur scheint zunehmend autobiographisch geprägt, wie Juli Zeh feststellt:

Wir kreisen um die eigene Person. Erzählen unsere Lebensgeschichten schon in jungen Jahren einen Psychiater oder einer Textdatei mit Namen ‚roman.doc‘. wir haben noch nicht viel von der Welt gesehen und trotzdem beschlossen, Schriftsteller zu werden. […]. Wir leben zwischen eigenem Bauchnabel und Tellerrand und schreiben darüber. Unsere Texte sind ICH-bezogen wie wir selbst.31

Da es in (auto-)biographischen Texten immer um (historisch variable) Subjektkonzeptionen geht, die die Form der (auto-)biographischen Darstellung prägen, müssen auch diese thematisiert werden, will man (auto-)biographische Texte differenziert betrachten. Ein identitätsorientierter Umgang mit (auto-)biographischen Texten und eigene (auto-)biographische Schreibexperimente sind daher ebenfalls Gegenstand von Kapitel 2.4 der Arbeit.

Biographische Kontextualisierung literarischer Texte im Lichte der Autorbiographie ist nicht möglich ohne eine Einbettung derselben in literatur-, sozial- oder politikhistorische Zusammenhänge. Das dritte Kapitel der Arbeit befasst sich daher mit dem in der jüngeren Vergangenheit weithin vernachlässigten Potential personaler Zugänge zur Literaturgeschichte. Historisches Lernen lebt von der Imagination, die z. B. durch die Identifikation mit historischen Personen befördert werden kann. Angesichts des ideologisch motivierten Missbrauchs solcher Zugänge durch totalitäre Regimes und des Paradigmenwechsels in der Geschichtsschreibung von der Personen- und Ereignis- hin zur Struktur- und Sozialgeschichte seit den 1960er/70er Jahren sind solche imaginationsfördernden Zugänge ins Hintertreffen geraten. Das dritte Kapitel der Arbeit widmet sich daher der Frage, wie personale und narrative Vermittlungskonzepte der Literaturgeschichte aussehen können, die dennoch die emanzipatorisch-kritische Perspektive der struktur- und sozialgeschichtlich ausgerichteten Geschichtswissenschaft nicht aufgeben.

(Auto-)Biographische Zugänge zur Geschichte müssen stets flankiert werden von der Reflexion des Konstruktionscharakters (auto-)biographischer Texte und der Perspektivik (auto-)biographischer Quellen. Der Erwerb von „Geschichtsbewusstsein“32 (Hans-Jürgen Pandel) und historiographischem Meta-Wissen lässt sich anhand (auto-)biographischer Textbeispiele, die als (personenzentrierte) Mikro-Geschichten betrachtet werden können, exemplarisch im Kleinen betreiben. Die Lernenden sollen dabei eine neue, von der in Schulen üblichen, rein epochenbezogenen Sichtweise abweichende, biographische Perspektive auf schulkanonische Autoren einnehmen. Zugleich werden abstrakte Epochenkonzepte auf diesem Weg konkretisiert und imaginativ angereichert. In diesem Zusammenhang wird auch auf Erkenntnisse der geschichtsdidaktischen Forschung zurückgegriffen.33

Autorbiographien im Literaturunterricht können einerseits dazu anregen, literarische Primärtexte zu lesen, zum anderen spielt die Auseinandersetzung mit (auto-)biographischen Texten auch für den Aufbau interpretatorischer und ästhetischer Kompetenz eine große Rolle. Eine Reflexion der Rolle des Autors im Interpretationsprozess ist aus literaturdidaktischer Sicht dringend vonnöten, insbesondere eine Klärung der Frage, wann ein Text (nicht) biographisch interpretiert muss, kann oder darf, und woran dies zu erkennen ist. Dieser Frage wird im vierten Kapitel der Studie unter besonderer Berücksichtigung der jüngeren literaturwissenschaftlichen Autorschaftsforschung nachgegangen. Biographische Kontextualisierung an Schulen und Universitäten darf auf keinen Fall in naiven Biographismus münden. Autortypen, die besonders häufig ‚Opfer‘ biographistischer Lesarten sind, sollten daher im Unterricht besondere Beachtung finden. Anhand einer Typologie für biographische Zugänge besonders prädestinierter Autoren (z. B. der politisch engagierte Autor, der Skandalautor etc.) wird zu einigen dieser Autortypen ein exemplarisches Praxisbeispiel angefertigt, das zeigt, wie man einen kanonischen literarischen Text eines bestimmten Autortyps sinnvoll biographisch kontextualisieren kann und wo die Grenzen eines solchen Unternehmens liegen. Denn ein adäquates Verständnis mancher Werke ist ohne die Kenntnis der Biographie des Autors gar nicht möglich (z. B. viele Werke Bertolt Brechts); so spiegelt sich die Selbstinszenierung und Poetik vieler Autoren in autobiographischen Texten, z. B. Tagebüchern und Briefen, etwa im Fall Theodor Fontanes, der sich als „einfache und mechanisch-korrekte Aufzeichnungsinstanz“34 entwirft, was seinem realistischen Schreibkonzept entspricht, oder im postmodernen Roman, dessen Autoreflexivität häufig mit der selbstironischen Attitüde seines Autors korrespondiert, wie sie in autobiographischen Dokumenten aufscheint. Somit kann also die Beschäftigung mit der Biographie der Autorin/des Autors das Verständnis literarischer Werke vertiefen und erweitern. Insgesamt wird biographische Kontextualisierung als Möglichkeit des literarischen (‚Masken-‘)Spiels betrachtet, die aber als Interpretationsmethode keineswegs verabsolutiert werden darf.

Das methodische Vorgehen in allen vier Kapiteln der Arbeit soll, wie folgt, aussehen: Der Schwerpunkt liegt auf der literaturtheoretischen und literaturdidaktischen Modellierung des jeweiligen Kapitelgegenstands. An geeigneter Stelle werden jeweils konkrete Unterrichtsvorschläge für den Umgang mit (auto-)biographischen Texten im Literaturunterricht vorgestellt, wiederum bezogen auf den jeweiligen Kapitelschwerpunkt. Diese exemplarischen Praxisbeispiele und -kapitel berücksichtigen insbesondere schulkanonische Autor/innen. Am Ende von Kapitel zwei, drei und vier findet außerdem eine Analyse ausgewählter Schulbücher aus Deutschland und Österreich im Hinblick darauf statt, inwieweit die zuvor entwickelten theoretischen Überlegungen bei der Konzeption und Gestaltung des jeweiligen Schulbuches berücksichtigt wurden. Das Schulbuch wurde deshalb als Untersuchungsgegenstand gewählt, weil es als Indikator für eine weit verbreitete Unterrichtspraxis gelten kann. Zwar wurde die Vermutung von Ulf Abraham und Matthis Kepser, Schulbücher beeinflussten den täglichen Unterricht mehr als Lehrpläne,35 bisher noch nicht empirisch belegt, dennoch scheint sie nicht aus der Luft gegriffen.

Die leitenden Analysekriterien werden aus den oben erwähnten literaturtheoretischen und literaturdidaktischen Grundsatzüberlegungen gewonnen, die den Schulbuchanalysen jeweils vorausgehen, und spiegeln sich in der Gliederung der jeweiligen Schulbuchstudie wider. Die Untersuchungsmethodik bei der Schulbuchanalyse entspricht einem heuristischen Ansatz, wie er in den Literatur- und Kulturwissenschaften üblich ist.

Der Schwerpunkt der Schulbuchanalysen liegt auf der Sekundarstufe II, auch weil – mit Ausnahme von Bayern – nur dort literaturgeschichtlicher Unterricht betrieben wird. Da in der Studie auch mögliche Konzepte für einen literaturgeschichtlichen Unterricht in der Sekundarstufe I skizziert werden, der bislang nur in Bayern stattfindet, wird zusätzlich „Deutschbuch 7–10“36 in der Ausgabe für Bayern einbezogen.

1.4 Zusammenfassung des Forschungsstandes

Es ist kaum möglich, den gesamten Forschungsstand zur Biographietheorie zu erheben, erst recht nicht, wenn man den angloamerikanischen Raum miteinbezieht, wo Biographieforschung und Life-Writing Research ein viel höheres Ansehen genießen als im deutschsprachigen Kulturkreis und es dementsprechend viele renommierte Forschungseinrichtungen mit entsprechender Publikationstätigkeit gibt, die sich mit Biographieforschung befassen (z. B. das Center für Biographical Research der Universität von Hawaii, das Centre for Life-Writing Research des King’s College in London, das Oxford Centre for Life-Writing, das National Centrer of Biography der Australian National University).

Von den Geisteswissenschaften beschäftigen sich vor allem die Germanistik, die Geschichtswissenschaft, die Soziologie und die Erziehungswissenschaft mit (Auto-)Biographien, wobei sich soziologische, pädagogische und z. T. auch historische Untersuchungen größtenteils auf mündliche (auto-)biographische Texte beziehen (v. a. Interviews). Der Fokus dieser Studie liegt jedoch auf schriftlichen (auto-)biographischen Texten. Daher wurden für diese Arbeit vor allem bedeutende (auto-)biographietheoretische Publikationen aus den Fächern Germanistik und Geschichtswissenschaft gesichtet, z. B. diejenigen, die unter Mitarbeit des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Geschichte und Theorie der Biographie in Wien entstanden sind (etwa die Sammelbände „Die Biographie – zur Grundlegung ihrer Theorie“37 und „Theorie der Biographie: Grundlagentexte und Kommentar“38). Darüber hinaus wurden auch interdisziplinäre Ansätze von Germanistik und Historiographie, wie sie beispielsweise in dem von Christian Klein herausgegebenen „Handbuch Biographie“39 vereinigt sind, berücksichtigt sowie biographiekritische ‚Klassiker‘ wie etwa „Die biographische Illusion“40 (1990) von Pierre Bourdieu und Roland Barthes‘ „Über mich selbst“41 (1978). Das ältere literaturwissenschaftliche Grundlagenwerk „Biographie. Studien zur Funktion und zum Wandel einer literarischen Gattung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart“42 von Helmut Scheuer erscheint dagegen problematisch, weil schon im Untertitel die Biographie voraussetzungslos als literarische Gattung eingestuft wird, ohne in der Folge die oben aufgeworfene Grundsatzfrage zu diskutieren, ob es sich nicht vielmehr um ein transgenerisches Phänomen handelt.

Grundlegende Forschungsansätze zur Autobiographie- bzw. Autofiktionstheorie, die im Rahmen dieser Untersuchung rezipiert wurden, stammen von Martina Wagner-Egelhaaf („Autobiographie“43, „Auto(r)fiktion“44), Michaela Holdenried („Autobiographie“45) und Frank Zipfel („Autofiktion“46) sowie von Philippe Lejeune („Der autobiographische Pakt“47) und Paul de Man („Autobiographie als Maskenspiel“48). In der germanistischen Forschung über Briefliteratur liegt der Schwerpunkt naturgemäß auf dem 18. und 19. Jahrhundert, z. T. mit gendertheoretischem Fokus, der auch in dieser Arbeit berücksichtigt wurde (vgl. Kap. 2.4.10). Forschungsarbeiten über den Brief mit Blick auf das 20. und 21. Jahrhundert sind dagegen Mangelware. Ähnlich sieht es bei Arbeiten über Tagebuchliteratur aus. Möglicherweise liegt das daran, dass beide Gattungen sich durch den medialen Wandel stark verändert haben, was erst in letzter Zeit zunehmend ins Bewusstsein der literaturwissenschaftlichen Forschung geriet (vgl. z. B. den von Ansgar Nünning et al. herausgegebenen Sammelband „Narrative Genres im Internet“49 und Stephan Porombkas Monographie „Schreiben unter Strom“50).

Übersichtlicher ist das Publikationsfeld, was das Verhältnis von Biographie und (Literatur-)Geschichtsschreibung angeht. Da im 19. Jahrhundert populäre Geschichtsschreibung fast ausschließlich in der Schilderung der Taten „großer Menschen“51 bestand und das biographische Paradigma gerade in Deutschland stark für politisch-ideologische Zwecke missbraucht wurde, waren biographische Ansätze in der Historiographie bis in die 1980er Jahre verpönt (vgl. Kap. 3.2.2). Eine Renaissance der Biographik erfolgte erst, als sich im Zuge des Abschieds von einer großen Geschichtserzählung eine postmoderne Geschichtsauffassung durchsetzte, wie sie z. B. der Literaturhistoriker Stephen Greenblatt vertritt (vgl. Kap. 3.2.1).

Die Analyse der Bedeutung der Biographie des Autors für die Lektüre und Interpretation literarischer Primärtexte, die den Hauptgegenstand des vierten Kapitels dieser Studie darstellt, muss zwangsläufig die breite literaturwissenschaftliche Diskussion über Autorschaft in den letzten zwei Jahrzehnten berücksichtigen. Davor standen seit den 1960er Jahren vor allem zwei Größen literarischer Kommunikation im Fokus der Literaturdidaktik: der Text und der Leser. Die dritte Größe, der Autor, wurde kaum beachtet. Die Ursache dafür waren v. a. die autorkritischen Thesen der Vertreter/innen der werkimmanenten Interpretation und des Poststrukturalismus („intentionale[r]‌ Fehlschluss“52, „Tod des Autors“53, „Funktion Autor“54). Ab Mitte der 1990er Jahre erfolgte jedoch eine „Rückkehr des Autors“55 (Fotis Jannidis et al.) in die Literaturwissenschaft, die sich u.a. in dem gleichnamigen Band56, einem 2001 abgehaltenen DFG-Symposion zum Thema Autorschaft57 und einem ebenfalls von Jannidis et al. herausgegebenen Reclam-Band mit klassischen „Texte[n] zur Theorie der Autorschaft“58 manifestierte. Von der „Rückkehr des Autors“ bzw. der umfangreichen literaturwissenschaftlichen Debatte darüber ist allerdings bislang wenig in der Literaturdidaktik angekommen. Auch hier soll die vorliegende Arbeit Abhilfe schaffen.

Wie bereits oben angedeutet, wurden (auto-)biographische Texte von der Literaturdidaktik bislang wenig beachtet. Zwar gibt es, besonders zu autobiographischer Literatur, bereits einige Monographien und didaktische Themenhefte. Die literaturdidaktische Auseinandersetzung mit diesem Genre fand bisher allerdings fast ausschließlich aus identitätsorientierter Perspektive und in Zusammenhang mit Kinder- und Jugendliteratur statt.59 Es wurde bis dato auch nicht erfasst, welchen Beitrag die Auseinandersetzung mit (auto-)biographischen Texten zur Vermittlung von Literaturgeschichte leisten kann. Zwar gibt es zuhauf literaturgeschichtsdidaktische Beiträge zu einzelnen Autoren, es fehlt allerdings bislang eine systematische und grundsätzliche Reflexion des Verhältnisses von Autorbiographik/Autorschaft und Literaturgeschichtsdidaktik. Bis jetzt sind auch keine Versuche unternommen worden, die Rolle des Autors im Interpretationsprozess didaktisch zu modellieren. Es ist eher eine gegenteilige Entwicklung zu beobachten. Im Zuge der Normierungsbestrebungen literarischer Rezeptionskompetenz und angesichts fundamentaler Leseschwächen wird historische und biographische Kontextualisierung mithin als Luxusanspruch empfunden. In vielen deutschen Bundesländern und auch in Österreich setzen die Schulbehörden daher in gymnasialen Abschlussarbeiten ganz auf eine werkimmanente Interpretation literarischer Texte. Dass es problematisch sein kann, Literatur von ihren Entstehungsbedingungen abzukoppeln, zeigte eine verunglückte Aufgabe aus der Deutsch-Matura 2014 in Österreich.60 Mir ist nur ein literaturdidaktisches Forschungsprojekt jüngeren Datums bekannt, das sich mit der historisch-biographischen Kontextualisierung literarischer Texte systematisch befasst(e): das DFG-Projekt zur Untersuchung „literarästhetischer Urteilskompetenz“61 von Volker Frederking et al. Die Initiator/innen beabsichtigten, die „semantische“, „idiolektale“ und „kontextuelle literarästhetische Urteilskompetenz“62 von Schülerinnen und Schülern zu testen. Erste Ergebnisse der Studie zeigten, dass die Proband/innen große Schwierigkeiten bei der Kontextualisierung literarischer Texte hatten.63 Bisher sind im Rahmen dieses Projekts leider keine Publikationen erschienen, die die Kontextualisierungsdimension zum Gegenstand haben.


1 Waldmann 2000, 38

2 Zu den Begriffen Gattung versus Schreibweise vgl. Kap. 2.2.; „Autobiographie ist damit keine Gattung oder Textsorte, sondern eine Lese- oder Verstehensfigur, die in gewissem Maße in allen Texten auftritt. Das autobiographische Moment ist der Prozeß einer wechselseitigen Angleichung der beiden am Leseprozeß beteiligten Subjekte, bei der sie einander gegenseitig durch gemeinsame reflexive Substitution bestimmen.“ (Man 1993a, 134)

3 Runge, Gabriele 1997, 97

4 Frank 1981

5 Feilke u. Ludwig 1998, 20

6 Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland 2014, 17–20

7 Norden 1995 (Titel)

8 Vgl. Baurmann 2010

9 Lamping (Hg.) 2009, 23

10 Nünning u. Rupp 2012, 9

11 Vgl. Zymner (Hg.) 2010, 29 ff.

12 Nünning u. Rupp 2012, 10

13 Lamping 2009, XVIII

14 Vgl. Baßler 2010, 55

15 Sengle 1967, 10

16 Norden 1995 (Titel)

17 Weissenberger 2010, 317

18 Zymner 2010, 315

19 Baßler 2010, 55. Einen ähnlichen Gattungsbegriff vertritt auch Werner Michler (vgl. Michler 2015).

20 Rüdiger Zymner versucht dies am Beispiel des Manierismus zu zeigen: Er unterscheidet zwischen „Gattungen“, „Schreibweisen“ und „poetogenen Strukturen“. „Schreibweisen“ fungieren hier als Bindeglied zwischen Ersteren und Letzteren. Als Beispiele für „Schreibweisen“ nennt Zymner „das Phantastische, die Pornographie, das Groteske, die Komik, de[n]‌ Humor, das Satirische“ (Zymner 2003, 186). „Poetogene Strukturen“ sind nach Zymner „Alltagsredetätigkeiten“ (ebd., 186), für die er allerdings keine Beispiele anführt. Vgl. dazu ebd.; vgl. auch Verweyen u. Witting 1979 und Hempfer 1973, 27.

21 Bolter u. Grusin 1999 (Titel)

22 ebd., 15

23 Baum 2013, 202

24 ebd., 204

25 Wenn in der Folge bisweilen von dem Autor oder dem Leser (nur männliche Form) die Rede ist, so wird damit i.d.R. eine abstrakte literaturtheoretische Größe bezeichnet. Diese Verfahrensweise ist im literaturwissenschaftlichen Diskurs, insbesondere in der Autorschaftsdebatte, allgemein üblich.

26 Posner 1985, 256 f.

27 ebd.

Details

Seiten
450
Jahr
2023
ISBN (PDF)
9783631896006
ISBN (ePUB)
9783631896013
ISBN (Hardcover)
9783631895993
DOI
10.3726/b20772
Open Access
CC-BY
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (Mai)
Schlagworte
Autorbiographie Schulbuchanalyse Biographische Kontextualisierung Biographische Interpretation Interpretationskompetenz Autobiographisches Schreiben Biographe und Literaturgeschichte Didaktik der Biographie Didaktik der Autobiographie Neue Medien
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2023. 450 S., 1 farb. Abb., 2 S/W-Abb.

Biographische Angaben

Matthias Pauldrach (Autor:in)

Matthias Pauldrach studierte Germanistik und Katholische Theologie und unterrichtete mehrere Jahre an bayerischen Gymnasien. Nach seiner Promotion in Neuerer Deutscher Literaturwissenschaft ist er seit 2012 Professor für Fachdidaktik Deutsch an der Universität Salzburg. 2018 erfolgte die Habilitation in der Didaktik der deutschen Sprache und Literatur.

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Titel: (Auto-)Biographische Texte im Literaturunterricht
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