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Synthesis und Systembegriff in der Philosophie

von Felix Noeggerath (Autor:in) Hartwig Wiedebach (Band-Herausgeber:in) Peter Fenves (Band-Herausgeber:in)
©2023 Monographie XXVI, 144 Seiten

Zusammenfassung

Der Band enthält zwei Schriften des Philosophen Felix Noeggerath (1885-1960):
Die Abhandlung Synthesis und Systembegriff in der Philosophie. Ein Beitrag zur Kritik des Antirationalismus, textkritisch ediert. – Kants Erkenntniskritik wird auf Basis mathematisch-logischer Positionen v.a. der Marburger Schule originell ausgelegt: Rationalismus ist die Konfrontation zwischen Denken und inkommensurabel-atheoretischem Sein.
Den Aufsatz Über das Unzeitgemässe der abstrakten Kunst –, eine provokante Deutung und Kritik moderner Ästhetik.
Hartwig Wiedebach stellt Noeggerath vor und analysiert sein Programm. Peter Fenves entfaltet detailliert seinen Einfluß auf Walter Benjamin. Es ist der längst fällige Einblick in die Bedeutung dieses von Benjamin schlicht „das Universalgenie" genannten Denkers.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Danksagung
  • Einleitung
  • Synthesis und Systembegriff in der Philosophie. Ein Beitrag zur Kritik des Antirationalismus (Mit zwei Excursen: „Über den Urteilscharakter der Metageometrie“ und „Über den Platonischen Begriff des μεταξυ“)
  • Über das Unzeitgemässe der abstrakten Kunst
  • Nachwort: Felix Noeggerath and Walter Benjamin Redux
  • Autor und Herausgeber
  • Namenregister

Danksagung

Der Abdruck der hier vorgelegten Texte und die Verwendung von Archivmaterial erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Erbin Felix Noeggeraths, Frau Inge Noeggerath (München), der Universitätsbibliothek Erlangen, der Jewish National Library (Jerusalem), und des Literaturarchivs Monacensia der Stadtbibliothek München, wo Noeggeraths Nachlass aufbewahrt wird. Auf die im einzelnen verwendeten Quellen wird jeweils verwiesen.

Einleitung

von Hartwig Wiedebach

I.

Der vorliegende Band enthält zwei philosophische Schriften von Felix Noeggerath (4.2.1885 bis 29.4.1960). Das ist zum einen seine Erlanger Dissertation von 1916: Synthesis und Systembegriff in der Philosophie. Ein Beitrag zur Kritik des Antirationalismus (Mit zwei Excursen: „Über den Urteilscharakter der Metageometrie“ und „Über den Platonischen Begriff des μεταξυ“), editorisch bearbeitet von Hartwig Wiedebach. Die bisher ungedruckte Arbeit bietet, in ständiger Rückbesinnung auf Kants kritische Philosophie, eine eindringliche Erörterung und zugleich Modifikation von erkenntnislogischen Positionen besonders der Marburger Schule. Und es ist zum andern Noeggeraths einziger zu Lebzeiten gedruckter Aufsatz Über das Unzeitgemässe der abstrakten Kunst aus der Zeitschrift Merkur von 1951, editorisch bearbeitet von Peter Fenves.

Noeggerath war eine seinerzeit von vielen Menschen gekannte eindrückliche Persönlichkeit. Heute fällt sein Name fast nur im Zusammenhang mit Walter Benjamin, dies allerdings auf eine Weise, dass man aufhorcht. Ihre Bekanntschaft begann um 1915/16 in München während universitärer Lehrveranstaltungen. Noeggerath arbeitete – neben vielem anderen – an seiner Dissertation. Benjamin nennt ihn in Briefen das „Universalgenie“ oder schlicht „Genie“: „Die erste Zeit war ich geradezu fassungslos vor seiner absolut universalen Bildung, da er sich zugleich mit der Fundierung eines philosophischen Systems in sehr bedeutender Absicht, zugleich mit der Mythologie des Orients bis nach Amerika, zugleich, was damit immer verbunden ist, mit intensiven philologischen Studien und mit dem Beweis des Fermatschen Satzes dazu beschäftigt.“1 Da bedarf es, mit Gershom Scholem gesagt, in der Tat „keiner Rechtfertigung, daß ein Mann, von dem Walter Benjamin so hoch dachte, Aufmerksamkeit verdient“.2 Und so war es auch Scholem, der, obwohl wir keine Erwähnung Benjamins durch Noeggerath kennen, dessen Biographie akribisch entwickelt hat. Er ging dabei weit über das auf wenige Zeitabschnitte begrenzte Zusammentreffen der beiden hinaus. Ich nenne nur das Nötigste.

Noeggerath, aus einer angesehenen Familie stammend, studierte nach einer Schweizer Internatszeit ab 1904 zwölf Jahre lang eine ganze Reihe von Fächern, vor allem in München, wo er festen Wohnsitz nahm, aber auch in Berlin, Bonn, Jena, Erlangen und, für seine philosophische Prägung entscheidend, Marburg. Dort hörte er zunächst ab 1907 vor allem Hermann Cohen und Paul Natorp, dann noch einmal im Wintersemester 1912/13 Nicolai Hartmann. Dieser schrieb an Heinz Heimsoeth über sein Kantseminar: „Auch Nöggerat hält es nicht für unter seiner Würde zu sprechen, es ist rührend, wie er vom Piedestal seiner difficilen Sprechweise herabsteigt und Anstrengungen macht, ganz kindlich zu reden. Er sagte mir, er käme ausdrücklich, um durch Beteiligung sich philosophisch aussprechen zu lernen“.3

Schon im Sommer davor war Noeggerath kurz hervorgetreten. Am 4. Juli 1912 feierte man Cohens 70. Geburtstag in der Universitäts-Aula. „Zwei seiner Schüler, Kand. Noeggerath und Dr. Schier sprachen ihn von dem im schönsten Blumenschmuck prangenden Katheder an. Der erste überreichte als Zeichen der Dankbarkeit eine griechische Büste, ‚den Hypnos‘. Der zweite verlas eine Adresse […]. Bewegt dankte Cohen für die Verehrung und Liebe, und versprach, das Band zwischen ihm und seinen Schülern aufrecht zu erhalten“.4 Leider kennen wir keine Bemerkung Cohens oder Natorps über Noeggerath persönlich. Das mag man auffällig finden, zumal sich beide über viele andere Schüler brieflich auszutauschen pflegten. Allerdings studierte Noeggerath in den Jahren zwischen den Marburger Semestern anderswo, und auch nach seinem Auftritt 1912/13 verließ er die Stadt alsbald erneut.

Das nächste, wovon wir hören, war die Begegnung mit Benjamin in München 1915. Ihr Gedankenaustausch dauerte jedoch nur bis „Mitte März 1916“.5 Diesmal zog Noeggerath nach Erlangen, „um sein Studium bei dem für seine liberale Haltung bekannten Philosophen Paul Hensel (1860–1930), einem Freund Wolfskehls [und Cohens], abzuschließen und an die Ausarbeitung seiner Dissertation zu gehen, die er unter lebhaften Diskussionen mit Hensel im Sommer 1916 fertigstellte und im Oktober einreichte. Am 19. Dezember 1916 erhielt er dafür den Doktor summa cum laude in systematischer Philosophie, Indologie und vergleichender Sprachwissenschaft. In dieser Zeit lernte ihn Helmuth Plessner kennen, der auch bei Hensel (und zwar am selben Tage) promovierte. Noeggeraths Dissertation Synthesis und Systembegriff in der Philosophie. Ein Beitrag zur Kritik des Antirationalismus wurde infolge der Kriegsumstände und der nachher eintretenden Inflation niemals gedruckt, obwohl Noeggerath mehrfach, vor allem 1917 und 1922–23 ernste, aber gescheiterte Versuche zu ihrer Drucklegung unternommen hatte. […] Dies ist auch die einzige Arbeit Noeggeraths vor 1945, die überhaupt noch mit Sicherheit erhalten ist. Alles Frühere hat er später, soweit es sich in seiner Hand befand, vernichtet, oder es ist den Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg zum Opfer gefallen.“6

Anfang 1917, so Scholem, kommt Noeggerath erneut nach München. Benjamin hat „mit ihm die allerwesentlichsten Gespräche über die mathematische Theorie der Wahrheit und wie diese Disziplin zum ersten Male in Europa sich bei den Pythagoräern entdeckt“.7 Noeggerath erreicht, dass ihm wegen des Krieges am 23. März 1918 das Führen des Doktortitels genehmigt wird, obwohl seine Dissertation nicht publiziert ist.8 Etwa zum selben Zeitpunkt tritt er der Kant-Gesellschaft bei.9 Mit seinem früheren Lehrer Moritz Geiger will er eine Münchener Ortsgruppe begründen. Die beiden veröffentlichen als „Geschäftsführender Ausschuß“ einen Aufruf, der allerdings vorerst ohne Erfolg bleibt.10 Es ist die letzte Bindung Noeggeraths an eine akademische Körperschaft, von der wir sicher wissen. Zwar bleibt er weiterhin wissenschaftlich tätig, etwa als Übersetzer.11 Aber wir begegnen ihm ebenso im Verlagsgeschäft und sogar als Kinderbuch-Autor.12

Nach dem Zweiten Weltkrieg denkt Noeggerath an manches Neue. „Anfang 1946 plant“ er, so Scholem, „vier Bücher herauszubringen“: ein Band mit etwa 25 Gedichten, eine Zusammenstellung „Imaginärer Portraits“, eine „Denkfibel“ und ein Buch „Orpheus oder die Spur des Vollendeten“. Später kommt dazu noch eine „Philosophie des Symbols“. Kaum etwas wurde zum Druck vorbereitet. Nur vage können wir die Hindernisse erahnen. Gesundheitliche Probleme mögen eine Rolle gespielt haben. So erzählt Noeggerath im Frühjahr 1949 Helmuth Plessner, dass er „aus der Sowjetzone ausgebrochen“ sei und – er war Ende 1948 nach Heidelberg gekommen und lebte nun im nahegelegenen Ziegelhausen – wegen monatelanger Magenprobleme nur „minutenweise am Schreibtisch“ sitzen könne.13 Überhaupt ist von Krankheit in der Folgezeit öfter die Rede, auch von zunächst fast völliger materieller Armut, aber Noeggerath „‚blieb auch in Lumpen‘ – so ungefähr sah seine spätere Frau ihn 1950 – ‚ein Grand-Seigneur‘“.14

Hinzu kommt eine tiefe Resignation gegenüber dem kulturellen Zeitgeist. Das zeigt eine Äußerung von 1955. Zwar spricht Noeggerath hier nur von Gedichten, die er offenbar in großer Zahl verfasst hatte, aber es geht darüber hinaus: „Warum ich niemals etwas davon publiziert habe? Aus zwei Gründen. Erstens war noch nicht alles so, wie ich es wünschte, und zweitens fehlt mir jeder literarische Ehrgeiz, ein Mangel, der mit meiner durchaus negativen Beurteilung des heutigen Literaturbetriebes zusammenhängt. Es ist mir ein Rätsel, warum Gedichte etwa von Celan abgedruckt werden, und ich fasse es nicht, daß man einen Mann wie Eliot für einen großen Dramatiker halten kann“. Ähnlich schreibt er über Nietzsche, Ibsen, Gerhard Hauptmann. Und schließlich heißt es, aufschlussreich auch im Blick auf Walter Benjamin: „Zum Teil hat an dem Zustand schuld, daß der Kritiker Selbstzweck und daß die Kritik selber Literatur geworden ist“.15 Man wird kaum übersehen, dass Benjamin spätestens seit dem bekannten Brief an Scholem vom Januar 1930 die „critique de la littérature allemande“ als eine zentrale Aufgabe für sich in Anspruch nahm.16

Dem Titel nach erschienen sind von Noeggeraths vier geplanten Büchern nur „Die Gedichte“, allerdings erst 1961, ein Jahr nach seinem Tod.17 Eine kleine Erinnerung, die er selbst mitteilt, taucht seine leicht schillernde Persönlichkeit in ein bezeichnendes Licht. Er beklagt es, als „Philosoph oder Erkenntnistheoretiker abgestempelt“ zu sein. Mit Rilke – auch ihn kannte Noeggerath seit Münchener Studientagen – sei es ihm umgekehrt gegangen: „Er kannte nur ein paar Gedichte von mir und fiel aus allen Wolken – er nahm es mir beinahe übel –, als er Zeuge eines Gesprächs mit E[rwein] von Aretin über Relativitätstheorie wurde (der ja ursprünglich Astronom war): ‚Ich muß mich erst langsam wieder an Sie gewöhnen‘, sagte mir Rilke damals“.18

Werfen wir noch einen Blick auf die geplante „Denkfibel“. Ihr Untertitel war „Meditationen über ein Thema der Geometrie“. „Für interessierte Laien bestimmt, und von einem Minimum an Voraussetzungen ausgehend“, sollte sie „eine der letzten, ganz zentralen Fragen der Erkenntnistheorie“ erörtern, nämlich „die nach den sogenannten Axiomen, d.h. nach denjenigen Sätzen, die, selber des Beweises weder fähig noch bedürftig, doch jedem Beweis zugrunde liegen“.19 Später gab ihr Noeggerath einen neuen Titel: „Die erkenntnistheoretischen Grundlagen der neueren Geometrie und Physik“.20 In den Umkreis dieses Projekts gehören mehrere im Nachlass erhaltene systematische Skizzen.21 Und man wird auch den 1951 publizierten und in diesem Band neu abgedruckten Aufsatz Über das Unzeitgemässe der abstrakten Kunst, der an Noeggeraths Philosophie der modernen Physik anknüpft, damit in Verbindung bringen dürfen. Es fällt nicht schwer, eine Brücke zurück zu Synthesis und Systembegriff von 1916 zu schlagen. Denn einer „Metaphysik des Endlichen“, die er am Ende des Kunstaufsatzes zum Programm der Philosophie erklärt,22 galt Noeggeraths Bemühen von Anfang an.

Und so blieb es, als er sich vermehrt dem „Symbol“ zuwandte, einer, wie er es ausdrückte: „Transsubstantiation“ „sogenannter uneigentlicher oder ‚unmöglicher‘ Begriffe“ in sinnlich wahrgenommene Gegenstände.23 In Synthesis und Systembegriff diskutiert er etwas Derartiges am Beispiel imaginärer Gesichtspunkte in der projektiven Geometrie – ich komme darauf zurück –, im Kunstaufsatz an der Realität des Kunstwerks. Das erstreckt sich bis zur Deutung spiritistischer Phänomene. Über eine von ihm selbst 1906 oder 1907 miterlebte „Materialisation“ menschlicher Gestalten während einer Séance in der Wohnung seiner Mutter berichtet Noeggerath fast 50 Jahre später. Das wirkliche Erscheinen der Gestalten zieht er nicht in Zweifel. Aber er widerspricht den üblichen Erklärungen durch angebliche Kontakte ins Jenseits und Ähnlichem. Stattdessen tastet er sich an das okkulte Phänomen mit seinem Begriff einer „situationsgebundenen Realität“ heran. Der Beobachter innerhalb der Séance sei – und er zitiert ausführlich seinen Kunstaufsatz von 1951 – ähnlich zur modernen Quantenphysik als konstitutives Moment der Wirklichkeit mitzubedenken.24

1952 heiratet Noeggerath Marga Bauer, mit der er, gesundheitlich zunehmend beeinträchtigt, wieder in München lebt. Am 29. April 1960 stirbt er „nach etwa zweimonatiger Krankheit“ und wird „seinem Wunsch gemäß feuerbestattet“.25

II.

Blicken wir auf einige Aspekte in Synthesis und Systembegriff von 1916.26 Es handelt sich um einen – passend zu Noeggeraths „Redeweise“, von der Nicolai Hartmann gesprochen hatte – ausgesprochen „difficilen“ Text. Das Folgende ist kein repräsentativer Überblick, sondern entwickelt in essayistischer Form einige Grundfragen, um den Einstieg zu erleichtern. Für den Kunstaufsatz verweise ich auf das Nachwort von Peter Fenves.27 Auch findet sich dort reiches historisches Material zur Ergänzung meiner gegenwärtigen rein systematischen Skizze.

Details

Seiten
XXVI, 144
Jahr
2023
ISBN (PDF)
9781433193637
ISBN (ePUB)
9781433193644
ISBN (Hardcover)
9781433193620
DOI
10.3726/b19140
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (Oktober)
Schlagworte
Philosophy Kantian thought neo-Kantianism Hermann Cohen Marburg School Goethe Meta-geometry Walter Benjamin Gershom Scholem Synthesis und Systembegriff in der Philosophie Hartwig Wiedebach and Peter Fenves
Erschienen
New York, Bern, Berlin, Bruxelles, Oxford, Wien, 2023. XXVI, 144 pp., 4 b/w ill.

Biographische Angaben

Felix Noeggerath (Autor:in) Hartwig Wiedebach (Band-Herausgeber:in) Peter Fenves (Band-Herausgeber:in)

Felix Noeggerath, ab 1904 Studium der Philosophie, Indologie, Vergleichenden Sprachwissenschaft und Mathematik u.a. in München, Marburg, Bonn. Promotionsprüfung 1916 in Erlangen (Dr. phil. 1918). Mitglied der Kant-Gesellschaft, Verlagsinhaber, Kinderbuchautor, wissenschaftlicher Übersetzer. Zahlreiche wissenschaftliche Entwürfe und Gedichte, jedoch überwiegend vernichtet bzw. unpubliziert. Hartwig Wiedebach, Dr. phil. in Zürich, Habilitation in Kassel, lehrte bis 2019 an der ETH Zürich, leitete das Hermann Cohen-Archiv und ist Mitherausgeber der Werke Cohens. Bücher u.a.: The National Element in Hermann Cohen’s Philosophy and Religion (2012); Pathische Urteilskraft (2014). Peter Fenves, PhD der Johns Hopkins University, ist Joan and Sarepta Harrison Professor of Literature an der Northwestern University und Autor zahlreicher Werke, u.a. Der späte Kant: für ein anderes Gesetz der Erde (2003) und The Messianic Reduction: Walter Benjamin and the Shape of Time (2011).

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