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Acta Germanica

German Studies in Africa

von Cilliers van den Berg (Band-Herausgeber:in)
©2022 Sammelband 306 Seiten

Zusammenfassung

Die Schwerpunkte des 50. Bandes sind vielfältig und reichen von der Analyse einer Reihe literarischer Texte aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven über die Bewertung des Sprachgebrauchs in verschiedenen soziopolitischen Kontexten bis hin zu Untersuchungen des DaF-Unterrichts und der DaF-Theorie in Südafrika und anderswo. Literarische Werke von Uwe Timm, Joseph Roth, Dirk Fleck, Daniel Kehlmann, Sharon Dodua Otoo, Grete von Urbanitzky, Natascha Wodin und Mithu Sanyal werden aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet. Die jeweiligen Beiträge berücksichtigen unter anderem, wie kulturelles und autobiografisches Gedächtnis zum Ausdruck kommt. Postkoloniale Perspektiven und Öko-Kritik bilden weitere Ansätze, wie auch das Werk von Bruno Latour. Schließlich werden Genretypologien und auch die Herausforderungen der Übersetzung analysiert. Der Sprachgebrauch in der Medienberichterstattung und in der Politik sowie eine vergleichende Untersuchung sprachlicher Weltanschauungen bilden die Beiträge zur Sprachwissenschaft.
The focus of the 50th volume is diverse, covering a spectrum from the analysis of a number of literary texts from a variety of theoretical perspectives, to the evaluation of language use in different socio-political contexts and examinations of DaF-teaching and theory both in South Africa and elsewhere. Literary works by Uwe Timm, Joseph Roth, Dirk Fleck, Daniel Kehlmann, Sharon Dodua Otoo, Grete von Urbanitzky, Natascha Wodin and Mithu Sanyal are examined from different perspectives. The respective contributions consider, among other things, how cultural and autobiographical memory is expressed. Postcolonial perspectives and ecocriticism represent further approaches, as does the work of Bruno Latour. Finally, genre typologies and the challenges of translation are analysed. Language use in media reporting and politics, as well as a comparative study of linguistic worldviews represent the contributions to language studies.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt / Contents
  • Editorial (Cilliers van den Berg)
  • Afrika schreiben / Writing Africa
  • Zwischen Enge und Weite. Ein Annäherungsversuch an Atmosphären in Uwe Timms Morenga (Monika Szczepaniak)
  • „Brand an Gottes Haus.“ Ein kritischer Blick auf die deutsche Online-Berichterstattung zum Feuer auf dem Kilimandscharo 2020 (James Meja Ikobwa)
  • Adopting social realism as a theoretical framework for critical scholarship of German foreign language teaching and learning (Natasha Engelbrecht)
  • A linguistic analysis of sexist language in songs in two German translations of Chinua Achebe's No Longer at Ease (Omotayo Olalere)
  • Allgemeine Beiträge / General Contributions to German Studies
  • Narratologie des Fragments. Selbstkonstruktion und gesellschaftliche Zersplitterung in Joseph Roths Romanen der 1920er Jahre (Isabel dos Santos)
  • Erzählte Umweltwahrnehmung in Dirk Flecks Roman GO! Die Ökodiktatur (Stephan Mühr)
  • „Es geht ums Prinzip.“ Die Vermessung oder die verfälschende Stilisierung der Welt? Über Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt (2005) (Cilliers van den Berg)
  • Dinge auf Reisen durch Zeit und Raum. Rolle der Dingnarrative in Sharon Dodua Otoos Roman Adas Raum (Jolanta Pacyniak)
  • Die durch COVID-19 infizierte Pressesprache. Coronavirus in sprachlichen Bildern. (Mariola Majnusz-Stadnik)
  • Funktionsweise und Wirkungsmechanismus der Wahlslogans. Ein psychologisch-werbepraktischer Ansatz – dargestellt am Beispiel der Wahlkampfslogans zur Bundestagswahl 2009. (Agnieszka Mucha)
  • Welche Tiere machen den Menschen krank? Ein Versuch der kontrastiven Studie zum sprachlichen Weltbild in den Krankheitsnamen mit einem tierischen Element im Polnischen und Deutschen (Piotr A. Owsiński)
  • Entwicklung der kulturellen Identität des Individuums im DaF-Unterricht in Polen – zwischen Theorie und Praxis. (Krystyna Mihułka)
  • Sonderbeiträge / Special Contributions
  • Eine kurze Einleitung – und ein herzlicher Glückwunsch! (Stefan Hermes / Carlotta von Maltzan)
  • Prüfe die Besten – und behalte die Guten! (Felicitas Hoppe)
  • „... wegen Giftmordverdachts ergebenst überreicht“: Die Akte Max Mande (Joachim Warmbold)
  • „Du bist ja viel zu schade für das Studium.“ Grete von Urbanitzkys Bildungsroman Eine Frau erlebt die Welt als Züchtigungsprogramm der weiblichen peripheren Alterität (Dolors Sabaté Planes)
  • Der schäbige Glanz des Bösen – eine Verfallsgeschichte (Hans Richard Brittnacher)
  • Mengele-Phantasien. Der KZ-Arzt als kulturelles Symptom (Oliver Lubrich)
  • Natascha Wodin – autobiografisches Erinnern zwischen Russland, Ukraine, Sowjetunion und Deutschland (Weertje Willms)
  • Richtig Triggern. Postkoloniale Maieutik in Mithu Sanyals Identitti (Alexander Honold)
  • Buchbesprechungen / Book Reviews
  • Umbruch – Bild – Erinnerung. Beziehungsanalysen in nationalen und transnationalen Kontexten. Von Carolin Führer / Antonius Weixler (Hgg.). Göttingen: V&R unipress (Julia Augart)
  • Herder. Aesthetics against Imperialism. Von John Noyes. Toronto / Buffalo / London: University of Toronto Press (Reingard Nethersole)
  • Aufbruch nach Afrika. Studien zur deutschen Anverwandlung eines kolonialen Raumes (ca. 1850-1940). Von Florian Krobb. Berlin: LIT Verlag Dr. W. Hopf (Regine Fourie)
  • Heiner Müllers KüstenLANDSCHAFTEN. Grenzen – Tod – Störung Herausgegeben von Till Nitschmann und Florian Vaßen. Bielefeld: transcript (Carlotta von Maltzan)
  • Nachrufe / Obituaries
  • Walter Köppe 1943 – 1922
  • Notes on Contributors
  • Angaben zu den Beiträger*innen: Sonderbeiträge

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Editorial

Nach dem 50-jährigen Bestehen des SAGV im Jahr 2016 wird in diesem Jahr das 50-jährige Bestehen der Acta Germanica: German Studies in Africa gefeiert. In den vergangenen fünf Jahrzehnten hat das 1966 von Karl Tober gegründete Jahrbuch des SAGV eine wichtige Rolle bei der Förderung der Forschung von Germanisten aus dem südlichen Afrika und Afrika überhaupt gespielt. Es hat nicht nur auf Stimmen aus Afrika aufmerksam gemacht, sondern auch auf solche, die sich mit Afrika beschäftigen. Das Jahrbuch ist zu einem wissenschaftlichen Diskursraum für Diskussion und Argumentation geworden, aber auch zu einem Ort der Begegnung von Wissenschaftler*innen aus der ganzen Welt. Es hat im Laufe der Jahre einige subtile Verschiebungen im Fokus der Germanistik erlebt und wird dies auch in den kommenden Jahren tun. Die einzige Konstante, die jedoch bleibt, ist die Verpflichtung zu rigoroser wissenschaftlicher Arbeit.

Im Jahr 2022 fand die erste offizielle Post-Covid-Tagung des SAGV an der University of the Western Cape statt, nachdem die Tagung 2021 aufgrund der Pandemie verschoben werden musste. Obwohl die Reisebestimmungen im April noch einige Vorsichtsmaßnahmen erforderlich machten, nahmen viele einheimische und internationale Wissenschaftler•innen an der Tagung teil, um das Konferenzthema zu diskutieren: soziale Umwelt. Einige der in diesem Band enthaltenen Artikel beruhen auf Vorträgen, die auf der Tagung gehalten wurden. Aber es gibt auch viele andere Beiträge, die ein breites Spektrum von Themen abdecken, wobei der Schwerpunkt auf Literatur, Sprache und Kultur liegt.

In der Sektion „Writing Africa“ finden sich vier Beiträge: Monika Szczepaniak analysiert Uwe Timms Roman Morenga aus der Perspektive der Konzeptualisierung von „Atmosphären;“ James Meja Ikobwa nimmt eine kritische Bewertung der deutschen Online- Medienberichterstattung über den Kilimandscharo-Brand von 2020 vor; Natasha Engelbrecht untersucht den sozialen Realismus als theoretischen Rahmen für eine kritische Wissenschaft bezüglich des deutschen Fremdsprachenunterrichts und Omotayo Olalere unternimmt eine linguistische Analyse der sexistischen Sprache in zwei deutschen Übersetzungen von Liedern aus Chinua Achebes No longer at ease.

Die Sektion der allgemeinen Beiträge schließt Isabel dos Santos' Untersuchung der Selbstkonstruktion und der gesellschaftlichen Zersplitterung in Joseph Roths Romanen der 1920er Jahre (mit dem Fokus auf die Narratologie des Fragments) ein, wie auch Stephan Mührs kritische Einschätzung der Umweltwahrnehmung, wie sie in Dirk Flecks Roman GO! Die Ökodiktatur zum Ausdruck kommt. Zwei weitere Beiträge beziehen sich auf das Werk von Bruno Latour (und die Akteur-Netzwerk-Theorie), um jeweils einen modernen literarischen Klassiker bzw. eine ganz aktuelle Publikation kritisch zu bewerten: Cilliers van den Berg analysiert Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt, indem er die Nebeneinanderstellung von Wissenschaft und Fiktion im Roman betrachtet, und Jolanta Pacyniak konzentriert sich auf Dinge, Dinglichkeit und Es-Erzählungen in Sharon Dodua Otoos Roman Adas Raum. Angesichts der hoffentlich letzten Phase der Covid-19-Pandemie untersucht Mariola Majnusz-Stadnik in ihrem Beitrag die Verwendung von Metaphern in der Pressesprache, indem sie ausgewählte Artikel aus dem Spiegel auswertet. Ein ähnlicher Fokus auf Sprache findet sich in Agnieszka Muchas Analyse der Wahlkampfslogans zur Bundestagswahl 2009 – unter Verwendung der Bedürfnispyramide von ←8 | 9→Abraham Maslow als kritischer Perspektive. Piotr A. Owsiński unternimmt eine kontrastive Studie zu sprachlichen Weltbildern am Beispiel von polnischen und deutschen Krankheitsbezeichnungen, die tierische Elemente enthalten, und den Abschluss bilden Krystyna Mihułkas Überlegungen, wie die kulturelle Identität des Individuums im Rahmen des DaF-Unterrichts in Polen geprägt wird.

Neben dem 50-jährigen Jubiläum der Acta Germanica feiert eine Freundin des SAGV und des Jahrbuchs in diesem Jahr ihren 65. Geburtstag. Um Michaela Holdenried zu würdigen, wurden einige besondere Beiträge aufgenommen: 7 Beiträge wurden von Stefan Hermes und Carlotta von Maltzan redigiert, wobei eine kurze Einleitung zu den Beiträgen am Anfang dieser Sektion steht. Der Band schließt mit drei Buchbesprechungen und einem Nachruf auf einen weiteren Kollegen, der für die Entwicklung der Acta Germanica eine entscheidende Rolle gespielt hat: Walter Köppe. Von 1985-2001 war er der Hauptherausgeber der Zeitschrift und hat damit einen großen Beitrag geleistet.

Wie immer möchte ich allen danken, die diesen Band möglich gemacht haben, insbesondere meinen Mitherausgeber*innen: Undine Weber, Anette Horn und Philip van der Merwe. Ich danke allen Autoren*innen für ihr Interesse, in der Acta Germanica zu veröffentlichen, und den Gutachter*innen für Ihre Bereitschaft, sich die Zeit zu nehmen, gründliche Gutachten zu verfassen und überarbeitete Fassungen wieder zu begutachten: ich weiß es sehr zu schätzen. Ich hoffe, dass unser Austausch in der Zukunft zu einer weiteren Zusammenarbeit führen wird, falls dies noch nicht der Fall ist. Im Namen aller Kolleg*innen, die je als Herausgeber*in der Acta Germanica tätig waren, möchte ich schließlich allen, die in den letzten 50 Jahren einen Beitrag zu unserem Jahrbuch geleistet haben, meinen tiefsten Dank aussprechen: von den studentischen Hilfskräften bis hin zu den Autoren*innen, Gutachter*innen, kritischen Leser*innen, Korrekturleser*innen und Verlagen. Ohne jeden einzelnen Ihrer Beiträge wäre das Jahrbuch nicht zu der Institution geworden, die es heute ist.

Cilliers van den Berg Bloemfontein im September 2022

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Zwischen Enge und Weite

Ein Annäherungsversuch an Atmosphären in Uwe Timms Morenga

Monika Szczepaniak
Kazimierz Wielki University

Abstract

The methodological background of the present study is the concept of atmosphere, which allows dimensions of experience and perception to move to the center of attention. These analytical categories are related to the subject and emphasise the affective importance of every encounter with the world. Starting from questions regarding the atmospheric „knowledge“ that is stored in literary texts, the subsequent understanding of atmospheres as affective-meteorological spaces, the aura of home and foreign lands, and the sky as utopian dimension are examined in Uwe Timm's novel Morenga.

Title: Between narrowness and expanse. An attempt at approaching atmospheres in Uwe Timm's Morenga

Keywords: Uwe Timm, Morenga, atmosphere, space, affect

Atmosphärische Methoden

In der neuesten Entwicklung der Sozial- und Kulturwissenschaften gewinnen methodische Ansätze immer mehr an Bedeutung, welche als non-representational bezeichnet werden. Ausgehend von der Diagnose, Repräsentation sei eine „tricky affair,“ charakterisiert Phillip Vannini die innovative Färbung des non-representational research folgendermaßen: „It wants to make us feel something powerful, to give us a sense of the ephemeral, the fleeting, and the not-quite-graspable.“ (Vannini 2015:6) Folgerichtig werden im Rahmen dieses Forschungsdesigns flüchtige und variable Phänomene wie „events, relations, practices and performances, affects, and backgrounds“ (ebd.:9) analysiert, die sich im Sinne tradierter Methoden und Forschungsansätze eigentlich einer analytischen Betrachtung entziehen. Zu diesen ephemeren Phänomenen gehören Atmosphären, die als eine Art unsichtbarer Hintergrund für diverse menschliche Aktivitäten präsent und wirkungsmächtig sind. Ben Anderson und James Ash, die über mögliche Ausprägungen von atmospheric methods reflektieren, schlagen einen Ausgangspunkt für eine atmosphärische Analyse vor, nämlich: „that atmospheres are real phenomena that are part of the conditions for life and thought, albeit strange phenomena whose existence is always in question.“ (Anderson / Ash 2015:39)

In der Tat kann eine Atmosphäre „weder gelesen, noch sinnlich wahrgenommen, noch eigentlich begriffen werden – sie hat daher auch keine Teile, in die sie sich analytisch aufgliedern ließe – vielmehr wird sie als Ganze auf einen Schlag erfahren – oder aber: gewittert.“ (Jongen 2012:76) Aus dieser Vagheit ergeben sich methodologische Schwierigkeiten und die Notwendigkeit, auf etablierte methodische Zugriffe wie etwa Hermeneutik oder Dekonstruktion zu verzichten, um stattdessen Präsenz bzw. leiblich-materielle Präsenzeffekte (vgl. Gumbrecht 2012) anzuvisieren, sphärische Eigenschaften der Räume zu untersuchen, (vgl. Sloterdijk 2004) nach den metaphorischen Kategorien des ←12 | 13→Klimas und des Wetters zu greifen. (vgl. Böhme 2011) Hans Ulrich Gumbrechts Begriff der „Re-Präsentation“ (im Gegensatz zur Repräsentation) fokussiert auf Ressourcen und Verhaltensformen, die statt auf die Abwesenheit hinzuweisen „das, was sonst abwesend wäre, wieder anwesend (im räumlichen Sinne des Wortes), wieder greifbar machen könnten.“ (Gumbrecht 2012:214) Die Atmosphären sind präsent, ja einhüllend, aber unsichtbar: Sie werden durch Luftbewegungen sowie Konstellationen von Dingen und Menschen konstituiert. Sie bieten Stoff für mikro- und makrosphärische Untersuchungen von Räumen, Stimmungen, Affekten, Beziehungen und ihren Dynamiken. Als Gegenstand der Untersuchung bieten sich also sowohl die Witterungsphänomene (das Wetter als stimmungsbildender Faktor oder handlungsauslösender Akt) als auch kulturelle Stimmungsfelder, sozial-räumliche Arrangements, affektive Resonanzen, die in verschiedenen Räumen leiblich gespürt werden können. Menschen können sich nicht nur als Körper in einem physikalischen Raum bewegen, sondern auch „als Leib unter den Einfluss einer Atmosphäre des Gefühls, von Schwere oder Leichtigkeit anderer, nicht physikalisch messbarer Art,“ (Schmitz 1998:24) geraten. Es handelt sich also um eine ganzheitliche Leichtigkeit oder Schwere – in dem Sinne, in welchem man vom Wetter spricht, das Menschen heiter oder trübe stimmt. Jürgen Hasse (2014:31) führt aus: „Menschen erleben ihre Umgebung im Medium der Leiblichkeit. Die Ordnung des leiblichen Raumes differenziert sich nach Gefühlen situativer Betroffenheit innerhalb der Spanne von spürbarer Enge und Weite.“ Als leiblich ist auch der Raum der Bewegung zu verstehen, in dem Kulturlandschaften wahrgenommen werden können und leibliche Kommunikation stattfindet. Für diese leiblich und räumlich gespürten Dimensionen der Enge (Einengung), Weite (Ausdehnung) und Bewegung benutzt Hasse eine interessante Bezeichnung, nämlich: das „Herumwirkliche.“ (ebd.:33) Es lässt sich anhand der fünf Sinne allein nicht wahrnehmen, wenn auch die sinnlichen Qualitäten von leiblich-atmosphärischen Räumen, besonders in ihrer synästhetischen Dimension, ebenfalls untersucht werden. Die Atmosphäre kann nämlich als „Medium, in welchem das Dasein sich seiner Welt und diese sich ihm mitteilt,“ konzipiert werden und vor allem die Elementarsinne Geruch und Geschmack umfassen. (Tellenbach 1968:52)

Der ausschlaggebende Begriff in der – hauptsächlich phänomenologisch orientierten – Atmosphärenforschung ist die Erfahrung der Welt: das leiblich-sinnliche, vorreflexive, ziel- und zwecklose Erleben, das den Wahrnehmungsprozess bestimmt. Bereits eine der ersten Studien zu diesem Komplex machte auf eine Anwesenheit von Atmosphären aufmerksam – sie seien etwas, was uns immer schon umgebe und unser Verhältnis zur Welt bestimme. (ebd.:61) Bei der Untersuchung der Atmosphären gehören die Erfahrungs- und Wahrnehmungsdimensionen somit zu den wichtigsten analytischen Kategorien, die sich auf das Subjekt beziehen und die affektive Bedeutsamkeit jeder Weltbegegnung betonen. In diesem Sinne kann nach atmosphärischem „Wissen“ gefragt werden, das in literarischen Texten gespeichert ist. Dieses Wissen ist schwer zu fassen, denn Atmosphären wirken wie eine Art Fluidum und illustrieren in vorbildlicher Weise die Herausforderung der Geisteswissenschaften, ungreifbare Dinge zum Gegenstand der Forschung zu machen und wissenschaftlich zu analysieren. Atmosphären in Verbindung mit der affektiven Färbung, der Aura der Heimat und der Fremde und der (utopischen) Dimension des Luftraums lassen einen Problemkomplex entstehen, der wichtige Aspekte des menschlichen In-der-Welt-Seins – auch jenseits von kreierten und kontrollierten gesellschaftlichen ←13 | 14→Konstruktionen – darstellt, der aber bis dahin in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung kaum Aufmerksamkeit gefunden hat. Auch in der Timm-Forschung gibt es bis dahin nur einige wenige Beiträge, in denen die non-representational methods eingesetzt werden. Bemerkenswert sind die Beiträge von Antje Krueger (2012) – ein Versuch, Timms Texte als Evokationen von Stimmungen nach dem Konzept von Gumbrecht zu lesen, und von Christof Hamann (2020), der die Ästhetik des Unscharfen im Roman Morenga analysiert und insbesondere auf die Wolkensprache und die Szene der Ballonfahrt fokussiert.

Im Folgenden soll versucht werden, den Atmosphären in Uwe Timms Roman Morenga (1978) – dieses Wort drängt sich hier besonders auf: nachzuspüren. Eine solche Perspektive betont die Relevanz der Kategorien von Präsenz und Atmosphäre und zeigt, wie sie mit sozialen und kulturellen Phänomenen verwoben sind. Die bis dahin außer Acht gelassene Atmosphäre erweist sich nicht nur als unsichtbarer oder verschwommener Hintergrund, sondern auch als eine Kraft, die bestimmte Effekte verursacht. Gegenstand der Untersuchung werden Atmosphären als affektiv-meteorologische Räume, die mit Wetter-Erscheinungen und einem emotionalen Ton gefüllt sind. Es wird der Frage nachgegangen, was passiert, wenn der menschliche Körper in affektive Interaktionen mit seiner Umwelt, den anderen Menschen und nicht-menschlichen Akteuren gerät. Affekte verstehe ich dabei nicht als individuelle Gefühlsregungen, sondern als „shifts in the state of our bodies which impact upon our capacities to act. These shifts are always going on but we we're not necessarily aware of them.“ (Simpson 2021:11) Vannini (2015:5ff.) bringt das auf den Punkt, wenn er betont, dass das Interesse für Affekte, Stimmungen, Emotionen und Intensitäten über den Menschen hinausgeht: „focusing on relations amid inanimate objects, living, non-human matter, place, ephemeral phenomena, events, technologies, and much more.“ Eine Herangehensweise, die Räume erlebter Anwesenheit mit meteorologischen Attributen und einer affektiven Tönung anvisiert, kann ein erkenntnisreiches Licht auf Timms Morenga werfen. Der Nexus von Atmosphäre, Wetter und Affekt lässt in den Konstellationen von Menschen, Dingen und Räumen neue Potentialitäten entdecken und den Roman als eine spannende Geschichte mit einer auratischen Ausstrahlung lesen.

Als besonders produktiv erweist sich der Ansatz von Gernot Böhme, der Atmosphären als „ergreifende Gefühlsmächte,“ „gestimmte Räume“ (Böhme 2006:25) oder mediale Zonen zwischen Subjekt und Objekt definiert. Die Räumlichkeit selbst ist bei dem Konzept zentral, wobei der Raum „im neophänomenologischen Sinne als leiblicher Raum und Ort als absoluter Ort eines spürbaren Hier“ (Hasse 2017:34) verstanden wird. Atmosphären sind nach Böhme „Räume, sofern sie durch die Anwesenheit von Dingen, von Menschen oder Umgebungskonstellationen, d.h. durch deren Ekstasen, tingiert sind.“ (Böhme 2013:33) Die Ekstase ist die Form der Dinge, die ausstrahlt, dem umgebenden Raum seine Homogenität nimmt und ihn mit Spannungen und Suggestion von Bewegung füllt – in diesem Sinne erzeugen die materiellen Dinge Außenwirkungen. Die Betrachtung der Interaktionen zwischen wahrnehmenden Individuen und wahrgenommenen atmosphärischen Phänomenen bedeutet nicht eine Konzentration auf Projektionen einer individuellen Stimmung auf den Raum. Sie bedeutet aber auch nicht, dass die atmosphärische Wahrnehmung völlig dehistorisiert wird. Daher bestehe ich in meiner „atmosphärischen“ Interpretation nicht radikal auf der Eigenständigkeit von Atmosphären. (vgl. Schmitz ←14 | 15→1969:103) Vielmehr berücksichtige ich einen „Hauch“ von „menschlichem Wind,“ der das Subjekt in seinem Wirkungsbereich nicht völlig auslöschen lässt. Räumlich ausgedehnte Atmosphären können durch individuelle leibliche Präsenz gespürt werden, sie sind aber nicht immer vom menschlichen Einfluss frei, sondern können teilweise Gegenstand von Manipulationen, Modifikationen, Innovationen, auch von Kontrolle und Domination werden. Der historisch-kulturelle, imperiale bzw. koloniale Kontext der Wahrnehmungsprozesse in Timms Roman darf nicht ignoriert werden. Die Kategorien des Eigenen und des Fremden können aus der Sicht der Atmosphären-Forschung neu fokussiert und problematisiert werden – im Sinne einer methodologischen Praxis, die eine Kombination von Deskription und Spekulation involviert: „a practice that acknowledges that atmospheres cannot be faced without a name, but treats naming as one act in a practice orientated to the emanation of an atmosphere.“ (Anderson / Ash 2015:37) Der vorliegende Versuch, Timms Roman mit Hilfe der atmospheric methods zu lesen, versteht sich nicht als eine streng analytische Vorgehensweise, sondern ist vielmehr ein tastendes Experiment oder eine Art Schreibstil. Dies scheint allerdings in jede non-representational method eingeschrieben zu sein: „a non-representational method involves an intensification of problems and requires staying with those problems for a while.“ (ebd.:48)

„Geruchsinseln“

Uwe Timms Morenga – eine Mischung von Fiktion und Wirklichkeitsdarstellung1 – gilt bekanntlich als der erste Roman, der sich kritisch mit dem Völkermord der wilhelminischen Kolonialmacht an den Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika in den Jahren 1904-1907 auseinandersetzt. Das Eigene und das Fremde in diesem Roman wurden in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung bereits mehrmals als diskursive Konstruktionen analysiert (beispielsweise Ott 2012; Agossavi 2003) und aus der Sicht der postcolonial studies interpretiert (beispielsweise Holdenried 2011 und Syafruddin 2020).2 Was die Forschung ausführlich herausgearbeitet hat, nämlich „die Entwicklung des fiktiven Oberveterinärs Gottschalk von einer Haltung kolonialen Besitzdenkens zu einem von sich selbst entfremdeten Kriegsgegner,“ (Germer 2012:148) möchte ich durch eine Lesart ergänzen, die das Atmosphärische in den Mittelpunkt rückt: das Raum- und Befindlichkeitsgefühl des Protagonisten, sein leibliches Spüren bzw. seine affektive Betroffenheit in leiblichen Räumen zwischen Enge und Weite, seine Wahrnehmung der Atmosphären als „gestimmte Räume“ bzw. „ergreifende Gefühlsmächte.“3 Atmosphären kann man kennenlernen nur, indem man sich in sie hineinbegibt, um ihre Wirkung am eigenen Leib zu spüren. In diesem (sensitiven) Sinne gerät der Protagonist in einen „prädimensional ausgedehnt(en)“ Raum – „nicht durch metrische Abstände und auch nicht durch Flächen, Kanten, Linien oder fixe Punkte begrenzt.“ (Hasse 2017:34) Charakteristisch für diesen Raum ist ein atmosphärisches Volumen mit solchen Qualitäten wie Lebendigkeit, Ruhe, Gespanntheit, Gerüche, Geräusche, (vgl. ebd.:39) aber auch mit räumlichen Formen der ←15 | 16→Zeitlichkeit „etwa in der lichten Helle des frühen Morgens sowie in der schweren Dunkelheit des späten Abends.“ (ebd.:39)

Der Oberveterinär Johannes Gottschalk meldet sich freiwillig zu einem kolonialen Feldzug und zieht in einen Krieg, der „ihn, genaugenommen, doch gar nichts anging.“4 Er interessiert sich nicht wirklich für militärische Zusammenhänge, sondern freut sich vielmehr – einer wahrhaft meteorologisch-atmosphärischen Motivation folgend – auf den Sommer, der in „Südwest“ herrscht, während in Deutschland die Tage kürzer und kälter werden. Nach einer langen Schiffsreise wird er „von einem Neger an Land getragen,“ (M:8), fühlt „die schwitzende schwarze Haut,“ (M:8) riecht „den sauren Schweiß.“ (M:8) Ekel ist sein erster Affekt, der von einem als fremd empfundenen „schwarzen“ Körperfluidum ausgelöst wird. „Gottschalk stand auf afrikanischem Boden. Er glaubte, der Boden schwanke unter seinen Füßen.“ (M:8) Seine Vorstellungen von Wetter und Landschaft werden am Anfang enttäuscht, nichtsdestotrotz trägt er in sein Tagebuch viele seiner Eindrücke von Bodenbeschaffenheit, Flora und Wetter ein. Das Tagebuch fungiert als sein textueller Gefühlsraum, dessen Grenzen möglicherweise seine preußisch-maskuline Affektkontrolle darstellen. Er möchte nicht nur „Herzensbildung“ von den Eingeborenen (M:153) übernehmen, sondern auch von der Landschaft etwas „lernen,“ nämlich ein neues Denken und Fühlen. Im Laufe der Zeit stellt sich heraus, dass er tatsächlich immer mehr auf Landschaft, Wetter und Mitgefühl mit den Opfern der Kolonisation als auf den preußischen Drill oder die Erfolge der Kolonialmacht setzt. Der koloniale Raum, in dem Gottschalk ankommt und in dem die Eingeborenen Hereros und Hottentotten verfolgt, ausgebeutet und getötet werden, lässt sich nicht als eine landschaftlich-klimatische Idylle wahrnehmen. Vielmehr ist es eine kontaminierte, eine morbide Atmosphäre: abgemagerte, verendende, tote Rinder, Gefangene, die wie Skelette aussehen und in einem „Konzentrationslager“ (M:23) zusammengedrängt sind. Gottschalk wird allmählich davon leiblich betroffen, er bekommt auch körperliche Reaktionen beim Anblick der Prügelstrafe an Eingeborenen: Brechreiz, Druck im Magen, Schmerzen. Der koloniale Ortsraum wird zu einem Raum leiblicher Resonanz, zu einem Gefühlsraum, der in seiner Totalität, inklusive Wetterdynamiken und Gefühlen wie Trauer, Zorn, Scham, Mitleid auf das wahrnehmende Subjekt einwirkt. Symptomatisch ist die Szene, in der Gottschalk beim Sich-Rasieren in eine Spiegelscherbe schaut und ein geradezu unheimliches „kühles Gefühl der Fremdheit“ empfindet: „Sein Erschrecken über die Fühllosigkeit, wenn er an das Geschehene dachte.“ (M:146) Immer mehr verabschiedet er die rationale, koloniale, europäische „Logik der Zwecke und Mittel,“ (M:341) die früher seine eigene war. Es ist nicht nur der reflexiv-intellektuelle Prozess, der sich in seinem Bewusstsein abspielt und ihn begreifen lässt, was bereits der Pionier der postcolonial studies wusste und in einem atmosphärischen Bild der (Nicht)Atembarkeit der Luft ausdrückte:

Das ist nicht ein besetztes Territorium mit unabhängigen Individuen. Das gesamte Land, seine Geschichte, wird angefochten, entstellt; man hofft auf seine endgültige Vernichtung. Unter diesen Umständen ist das Atmen eines Individuums ein beobachtetes, ein besetztes Atmen. Es ist ein kämpferisches Atmen. (Fanon 1969:45)

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An dieser „Erkenntnis“ ist durchaus Gottschalks leiblich-sinnlich-affektives Erleben beteiligt.

Gottschalk gilt als ein Träumer, was sich schwer mit dem militärischen Habitus der preußischen Armee verträgt. Er stammt aus einer Familie, die einen Kolonialwarenladen besaß und in der er bereits als Kind einen Hauch des Fremden kennenlernen konnte. Er erinnert sich oft an die Atmosphäre des Elternhauses, und vor allem des Ladens, in dem sich die Gerüche von verschiedenen Gewürzen (Zimt, Vanille, Muskat, Nelken) aus fernen exotischen Inseln mischten. „Dieses Wort: Gewürzinseln.“ (M:17) In bestimmten Wahrnehmungskontexten träumt Gottschalk von den Inseln, wo die Gewürznelken blühen, „süßschwer duftend,“ „umschwirrt von Paradiesvögeln“ (M:23) oder von dem Laden des Vaters, wo der fremde Zimtgeruch dominierte. Es ist für ihn eine Imagination vom vertrauten Raum des Elternhauses, der möglicherweise eine Illusion von Stabilität und Sicherheit vermittelt – in dem Sinn, in welchem Gaston Bachelard (1994:6) die erinnernden Imaginationen des Elternhauses als „memories of protection“ bezeichnet. Doch wie bereits betont: Diese Erinnerung des intimen Raums der Kindheit hat einen Hauch des Fremden. Die Konfrontation mit fremden Räumen hat für Gottschalk immer etwas Attraktives in sich. Er meldet sich einmal freiwillig zur Patrouille in einer Steinwüste, weil er endlich einen Fluss sehen, aber auch etwas Neues erleben will:

Sehnsucht nach dem Neuen, die aus seiner Kindheit zu kommen schien, nach einer Ferne; eine Neugierde, die alles Gewohnheitsmäßige, Erstarrte aufbrach, in der man sich plötzlich und überraschend als ein anderer wiederfand, in der die kühnsten Tagträume schaudervolles Leben annahmen, gewöhnliche Dinge sich jäh häuteten, fremd wurden und geheimnisvoll. Der Zimmergeruch im Laden seines Vaters. (M:140)

„ein ruhiges, behagliches Leben“

Gottschalks Wahrnehmung der Fremde ist nicht ganz spontan, sondern vorgeprägt. Mit Martina Löw verstehe ich unter Wahrnehmung die gleichzeitige Ausstrahlung von sozialen Gütern und / oder Menschen und die Wahrnehmungsaktivität der Körperempfindung. Es ist ein Prozess, der durch Bildung und Sozialisation5 vorstrukturiert ist. Durch Wahrnehmung erzeugen die Atmosphären Zugehörigkeits- und Fremdheitsgefühle. Sie können – in der Interaktion mit dem Habitus – sogar In- und Exklusionen realisieren, denn als sekundäre ideologische Realitäten schaffen sie ungleiche Möglichkeiten, Räume zu generieren und in Prozesse der Raumbildung eingebunden zu werden. (vgl. Löw 2019:216) Auch Jürgen Hasse (2017:41) macht darauf aufmerksam, dass es keine gleichsam „jungfräuliche“ Wahrnehmung geben kann. Vielmehr werden auch affektive Dispositionen gelernt, die das Wahrnehmen als leibliche Kommunikation im Raum von Enge und Weite ermöglichen.

Gottschalk hat einen Traum, der davon zeugt, dass er vom kolonialen Besitzdenken nicht frei ist. Insbesondere akzeptiert er die systematische Siedlungspolitik, der die Idee der Enteignung, wirtschaftlichen Entmachtung und Versklavung der Eingeborenen zugrunde liegt, auch wenn dieses Projekt in der ideologischen Begründungsrhetorik als „Zivilisierung des Wilden“ und die Kolonie als deutsches „Schutzgebiet“ beschrieben wird. In seinem Tagebuch finden sich Zeichnungen von Farmhäusern, denn: „Wonach ←17 | 18→Gottschalk Ausschau hielt, war Farmland, auf dem er in einigen Jahren, mit seinem ersparten Geld Rinder und Pferde züchten wollte.“ (M:19) Diese handfeste „Träumerei“ hat durchaus eine atmosphärische Dimension: Dazu gehören eine Frau und Kinder, eine Bibliothek, ein Wohnzimmer mit Klavier, schöne Abende mit Hausmusik im Familienkreis. An einer Stelle wird diese Vorstellung folgendermaßen geschildert:

[...] mit rotweiß gewürfelten Gardinen vor den Fenstern seines Farmhauses, mit weniger Alkohol und vor allem mit der abendlichen Hausmusik, […], die erleuchteten Fenster und in der nächtlichen Stille (sogar die Zikaden waren verstummt) die Sonata „La Buscha.“ Unabhängig und frei, ein ruhiges, behagliches Leben, durchaus arbeitsam. (M:141)

In den Raum der kolonialen Expansion wird eine Einsiedler-Imagination projiziert, die aus materiellen, geistigen und stimmungsmäßigen Attributen der Bürgerlichkeit als einer europäischen sozial-emotionalen Chiffre bzw. Gefühlskultur besteht. Dazu kommt allerdings das Projekt, die Hütten seiner eingeborenen Arbeiter in die nächste Nähe seines Hauses zu rücken und im Garten Laubbäume aus Europa neben einige Palmen einzupflanzen. Und Singvögel aus Europa – die Nachtigallen – würden diese hybride Stimmung klanglich bereichern. Ein anderes Mal imaginiert sich Gottschalk auf einer Veranda als Tierarzt in einem Dorf (wahrscheinlich desertiert): „Er müsste dann ein anderes Leben leben. Ein Leben, das in seiner Fremdheit etwas Erschreckendes, zugleich aber etwas Faszinierendes hatte.“ (M:291) Wie auch immer das private Siedlungsprojekt imaginiert wird, es könnte nur realisiert werden, wenn den Eingeborenen ihr Lebensraum geraubt wird. Gottschalk erblickt hier Raum im Gegensatz zu der „drückenden Enge der Kaserne“ – einem deprimierenden gefängnisähnlichen Gebäude, in dem er die vergangenen Jahre verbrachte und statt Raum nur „Platz, so weit die Ellenbogen reichten“ (M:141) zur Verfügung hatte. Die Farm ist ein Annexionsprojekt, das mit der durch die Hereros und Namas repräsentierten Friedfertigkeit, Ethik der Gabe und ihrem Verhältnis zu den Elementen im krassen Widerspruch steht. Mit Hajo Banzhaf (1993:101) lässt sich der Gedanke verallgemeinern: Die indigenen Völker, „die der ursprünglich ganzheitlichen Sicht noch nahestehen, erinnern sich, daß uns die Erde einst heilig war, und daß sie niemandem gehöre. Erst in patriarchaler Zeit wurde sie bis in den letzten Winkel erforscht, parzelliert, vermarktet“ – natürlich auch angeeignet, ausgenutzt, geraubt, kolonisiert.

Gottschalk rückt von seinem verklärten Traum, sich in Südwestafrika niederzulassen, ab. Diese Entscheidung lässt sich auf seinen Lernprozess zurückführen, der in der Forschung als Distanznahme zum Eigenen bzw. „Selbst-Alterisierung“ (Ott 2012:70) bezeichnet worden ist. Es sind aber auch atmosphärische Aspekte, die dazu beigetragen haben, dass er eines Tages, nass im Regen, auf einem Kamel reitend, mit einem Gefühl der Übelkeit im Magen, einen intensiven Wunsch verspürt, durch die Straßen seiner Heimatstadt Hamburg zu laufen: „Dort verloren zu dieser Zeit die Alleebäume ihr Laub, farbig. Der Gedanke, in diesem Lande eine Farm zu betreiben, kam ihm vor, als habe ihn ein anderer gedacht, als hätte man ihm davon erzählt.“ (M:347)

Der erlebte Kolonialkrieg ist anders, als Gottschalk sich ihn in seiner naiv-sentimentalen Vorstellung ausgemalt hatte. Er ist nicht „beschaulich und doch abwechslungsreich.“ (M:41) Die Soldaten und Offiziere sitzen nicht unbedingt abends bei einem Glas Rum zusammen und spielen abwechselnd Märsche oder Walzer. Vielmehr bekommt der Veterinär den militärischen Apparat hart am eigenen Leib zu spüren. Bestimmte Erfahrungen und konkrete Situationen im leiblichen Raum der Kolonie können Gottschalks ←18 | 19→Position zwischen Enge und Weite charakterisieren. Leiblich sein heißt nach Hermann Schmitz (1998:17):

[...] zwischen reiner Enge und reiner Weite irgendwo in der Mitte zu sein und weder von Enge noch von Weite ganz loszukommen, solange das bewusste Erleben dauert. Diese Mittellage beruht auf dem Ineinandergreifen zweier antagonistischer Tendenzen: der expandierenden Weitung […] und der zusammenhaltenden Engung.

Landschaft und Wetter fungieren dabei als Elemente, die eine Sphäre gespürter leiblicher Anwesenheit bilden, von der Gottschalk mehr oder weniger intensiv erfasst wird, wenn er in sie hineingerät. In seinem Tagebuch notiert er beispielsweise: „Die Landschaft öffnet sich dem Blick. Alles, was einen in den Städten bedrängt an sinnlichen Reizen, kommt hier zu einer weiten Ruhe.“ (M:43) Diese formlose Weite macht einen Eindruck, als würde man aus der stickigen Luft des militärisch-kolonialen Raumes ins Freie treten und sich von der „weiten Ruhe“ umhüllen lassen. So erscheint die Atmosphäre als ein „Effekt“ einer spezifischen Konfiguration von Eindruck, Empfindung, Umgebung, Augenblick, Erinnerung und Traum.

Gottschalks „unsoldatische“ Schwärmereien, seine Nähe zur Landschaft und dem „braunen Gesindel“ (M:151) (die Formulierung seiner Vorgesetzten) schließen auch die Aufmerksamkeit für das Leichte und Schwere, Trockene und Nasse, die Weite und Enge, für Wärme und Kälte sowie Anfälligkeit für solche affektiven Zustände wie Versunkenheit oder Schwermut ein. Das alles macht ihn in den Augen seiner Kameraden zu einem „Sonderling,“ der denjenigen, gegen die er kämpft, allmählich ähnlich wird. Zu seiner Protestgesinnung gehören affektive Reaktionen – zum Beispiel Wut, wenn er gezwungen wird, ordentlich die Uniform zu tragen und sich wie ein Soldat zu benehmen oder Mitleid mit den verfolgten Eingeborenen, mit denen er regelmäßig kommuniziert und sogar ihre Sprache lernt. Sein Protest umfasst aber auch intellektuelle Auseinandersetzung mit der kolonialen Ideologie, moralisch-ethische Reflexionen über Rassismus, Ausbeutung, Tötung, auch das Zurückgreifen auf Hölderlins Zeilen („So kommt! Daß wir das Offene schauen, / Daß ein Eigenes wir suchen, so weit es auch ist.“ M:347) oder sinnlich-körperliche Versuche, an das Fremde heranzukommen. In Keetmanshoop angekommen, findet er eine Atmosphäre wie in einer deutschen Kaserne vor, (vgl. M:291) und er verlässt den Ort mit Erleichterung. Er hat immer häufiger den Eindruck der Enge, schreckt tagsüber in seinem Zimmer hoch und glaubt, „man hatte ihn inzwischen eingesperrt.“ (M:298) Im Gegensatz dazu steht eine Phantasie, die einmal im Tagebuch emphatisch zum Ausdruck kommt: „Sich öffnen, öffnen, öffnen.“ (M:62) Man kann den Roman lesen als eine Geschichte, die um die Frage kreist, ob dieses Sich-für-das-Andere-Öffnen gelingen kann.6

Details

Seiten
306
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631895047
ISBN (ePUB)
9783631895054
ISBN (Paperback)
9783631894606
DOI
10.3726/b20483
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (März)
Schlagworte
Peter Handke Umwelt Unterricht von Deutsch/DaF Arnold Zweig Corona-Ansprachen DaF-Wörterbücher Deutsch-Südwestafrika Graphemisch-phonetische Interferenz Lexikalische Transferenz
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 306 S., 12 s/w Abb., 2 Tab.

Biographische Angaben

Cilliers van den Berg (Band-Herausgeber:in)

Cilliers van den Berg ist Associate Professor für Deutsch an der University of the Free State, Südafrika.

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Titel: Acta Germanica
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