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Zur Künstlichkeit in der Literatur

von Francesca Goll (Band-Herausgeber:in) Linda Puccioni (Band-Herausgeber:in)
©2023 Sammelband 130 Seiten

Zusammenfassung

Ausgehend von der Rolle der Technologie in der heutigen Gesellschaft und der Effekte, die sie auf die Entwicklungen der Individuen hat, widmet sich dieser Band dem Verhältnis von Natur und Künstlichkeit im Rahmen literarischer Schaffensprozesse. Mit dem Ziel, dem Problem des Künstlichen theoretisch näher zu kommen, geht der vorliegende Band dem Wechselverhältnis von Natur und Kunst in der Literatur nach und spannt dabei einen weiten Bogen, der von Heinrich von Kleist bis Martin Mosebach reicht, über Robert Musil, Max Bense und viele andere. Etablierte und junge WissenschaftlerInnen gehen gemeinsam der Frage nach, wie Künstlichkeit im Kunstwerk und im Verhältnis zur Natur zu fassen ist und zeigen neue Perspektiven und Zugänge auf, die gerade im Hinblick auf die zunehmend digitalisierten Gesellschaften von großer Relevanz sind. Der Aufbruch der starren Gegensätzlichkeit zwischen Natur und Künstlichkeit, das Umdenken ihres Verhältnisses sowie eine positive Konnotation des Künstlichkeitsbegriffs eröffnen Denkszenarien, die sich auch für zukünftige Studien als wegweisend herausstellen werden.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • Das Künstliche denken. Vorüberlegungen zu einer Theoriegeschichte der Artifizialität (Stephan Kammer)
  • Künstlichkeit oder Naturwissenschaft? Eine Analyse am Beispiel von Musils Variationskreisel (Linda Puccioni)
  • ‚Techno-Literatur‘ zwischen Kunst und Handwerk. Reflexionen zur Künstlichkeit von algorithmisch generierter Literatur (Julia Nantke)
  • Die widerwärtigen Modernitäten der Kunigunde. Körper und Künstlichkeit in Heinrich von Kleists Das Käthchen von Heilbronn (1808) (Francesca Goll)
  • Unkreatives Malen: Die Landschaft und ihre technische Reproduzierbarkeit in Kellers Grünem Heinrich (Simone Costagli)
  • Kunstlicht und magischer Schatten. Künstlichkeitsverdunkelungen in Zaubertexten der Gegenwart (Kay Wolfinger)
  • „ein Sein im ‚vor‘ und ‚nach‘“. Die negentropische Wirkung des Künstlichen in der Lyrik Max Benses (Rosa Coppola)
  • Einmal kurz in die digitale Welt und zurück. Zur Nachahmung digitaler Künstlichkeit in Bot. Gespräch ohne Autor (2018) von Clemens J. Setz und QualityLand (2017) von Marc-Uwe Kling (Alessandra Goggio)

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Das Künstliche denken. Vorüberlegungen zu einer Theoriegeschichte der Artifizialität7

Stephan Kammer

I.

Angesichts seiner eminenten Bedeutung und Allgegenwart in sämtlichen Lebensbereichen menschlicher Kulturen gibt es verblüffend wenige Versuche, dem Problem des Künstlichen theoretisch näher zu kommen. Zwar pflegt man sich über die technischen, politischen, ethischen oder ökologischen Konsequenzen zahlreicher Sachzusammenhänge Gedanken zu machen, in denen künstlich als qualifizierendes Beiwort auftritt – was aber jeweils dieses Beiwort genau bezeichne und welchen Anteil dieses Verständnis möglicherweise an den betreffenden Debatten habe oder haben müsse, bleibt dabei meist außer Acht. In bemerkenswertem Kontrast zu diesem schlecht ausgeleuchteten, unscharfen Bedeutungsspektrum, das den Versuch einer Begriffsgeschichte des Künstlichen vor große Herausforderungen stellte, steht die semantische Vielfalt des Terms. Überraschenderweise gilt das ganz besonders für die Periode vor dem scheinbar unaufhaltsamen, kaum einen Bereich aussparenden Siegeszug des Künstlichen auf dem Weg in die technische Hochmoderne. Und so kann man als Ausgangsbefund und gleichzeitig als Hypothese festhalten: Ein erster Problemhorizont für den Versuch, das Künstliche zu denken, eröffnet sich bereits in seiner Wortgeschichte.

←11 | 12→»Das wort birgt […] gewiss noch manche falte und schattierung seines begriffes, die […] im vorigen keineswegs erschöpft sind«8 (2714), liest man beispielsweise am Ende von fast vier eng bedruckten Lexikonspalten, die das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm den Verwendungen des »zu kunst« (2711) gehörigen Adjektivs »künstlich« gewidmet hat. Seit dem Mittelhochdeutschen gebräuchlich, hat das Wort eine Bandbreite von Bedeutungen, Bedeutungsnuancen und Verwendungsweisen, die auf den ersten Blick wohl überrascht. Nicht weniger als vier weitgespannte und in ihrem Profil höchst unterschiedliche Grundbedeutungen zählt das Lexikon auf. So gehöre das Adjektiv erstens »zu kunst in der ältesten bed[eutung], d.i. wissenschaft« (2711). Es gelte also »künstlich gleich wissenschaftlich« (ebd.), welch letzteres sich erst im Lauf des 18. Jahrhunderts herausbilde.9 Zweitens bilde künstlich das Adjektiv zu Kunst im Sinne von Geschicklichkeit. Was künstlich heißen darf, ist so gefertigt oder verrichtet, »wie es nicht jeder kann« beziehungsweise »wozu besondere kunst gehört« (2712); und nicht nur für die fraglichen Gegenstände und Praktiken kommt das Beiwort in Betracht, sondern auch für deren Urheber oder Akteure. Drittens beziehe sich das Adjektiv »ausdrücklich auch [auf] schön[e]‌ kunst« (2713), wiederum ebenso für die »kunstarbeit selber« (2713) und deren »werkzeug[e]« (ebd.) wie für den Künstler. Diesem Bedeutungsspektrum, dem Beispiele und Kommentare des Wörterbuchartikels eine unübersehbare Drift ins Historische geben, wird eine vierte Grundbedeutung hinzugefügt, die mit einer bemerkenswerten Aktualitätsdeixis einsetzt: »Jetzt gilt es wesentlich, einseitig zu kunst in ihrem gegensatze zu natur«, hält das Deutsche Wörterbuch fest (2714). Diese Deixis wird sich im anschließenden Lemma »Künstlichkeit« wiederholen, das dem Eintrag zufolge »jetzt mehr tadelnd« verwendet werde.10

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II.

Zwei Beobachtungen gilt es angesichts dieser Revue der Bedeutungen und der daraus zu rekonstruierenden Bedeutungsgeschichte zu unterstreichen. Erstens ist leicht zu erkennen, dass sich die Bezugshorizonte dieser vier Grundbedeutungen massiv verschoben haben. Zunächst im Zuständigkeitsbereich der Epistemologie und der Kulturtechniken allgemein sowie in der Spezifizierung der schönen Künste angesiedelt, ist das Wort »jetzt« in die Ontologie gewandert. In seinen ersten drei, seinen historischen Bedeutungen also hat künstlich als mögliche Antwort dienen können, wenn es Handelnde, Praktiken oder Verfahrensweisen sowie deren Erzeugnisse und Werkzeuge auf die Systemreferenz zum Wissen, zu einer zugehörigen Fertigkeit oder zu Akten und Produkten einer Formgebung zu befragen gegolten hat. In der vierten, aktuellen Verwendung attribuiert künstlich eine Seinszugehörigkeit, die derjenigen des Natürlichen entgegengestellt wird. Und zweitens gewinnt sie offensichtlich nur noch aus dieser Gegenüberstellung ihr Profil, und zwar auf eine ganz bestimmte Weise: Die aktuellen Definitionen des Künstlichen, ihre Implikationen und ihr Gebrauch sind ausschließlich negativ gehalten, wogegen die historisch vorangehenden Bedeutungen allesamt die Positivität eines Wissens, einer Fertigkeit oder einer Verfertigung herausgestellt haben.

Details

Seiten
130
Jahr
2023
ISBN (PDF)
9782875746689
ISBN (ePUB)
9782875746696
ISBN (Paperback)
9782875746672
DOI
10.3726/b20066
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (April)
Erschienen
Bruxelles, Berlin, Bern, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2023. 130 S., 3 s/w Abb.

Biographische Angaben

Francesca Goll (Band-Herausgeber:in) Linda Puccioni (Band-Herausgeber:in)

Francesca Goll arbeitet am Dipartimento di Lingue, Letterature e Culture Straniere der Università degli Studi di Bergamo und war zuvor Forschungsstipendiatin der Alexander von Humboldt-Sti ung und am Institut für Philologie der LMU in München. Sie hat zahlreiche Publikationen zur Nachkriegsliteratur, zur Raumtheorie und zum Verhältnis von Literatur und Gesellschaft verfasst. Gegenwärtig beschäftigt sie sich mit der Literatur der Frühaufklärung. Linda Puccioni arbeitet am Dipartimento di Filologia e Critica delle Letterature Antiche e Moderne der Universität Siena. Sie hat zahlreiche Publikationen zu Hugo von Hofmannsthal, zur Literatur der Jahrhundertwende sowie zu deren Beziehung zur bildenden Kunst und zur sinnlichen Wahrnehmung verfasst. Darüber hinaus forscht sie über österreichische Autorinnen der Nachkriegszeit.

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