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Außenseiterfiguren im Jugendfilm

Theorie – Geschichte – Analyse

von Frank Münschke (Autor:in)
©2023 Dissertation 336 Seiten

Zusammenfassung

Außenseiterfiguren sind in der Filmgeschichte omnipräsent, das gilt besonders für die Geschichte des Jugendfilms. Die Forschung hat sich mit diesem Phänomen bislang allerdings nur am Rande beschäftigt. Diese Lücke schließt das vorliegende Buch: Es arbeitet zunächst verschiedene Grundtypen von Außenseiterfiguren heraus. Darauf aufbauend wird ein (interdisziplinäres) Modell zur Analyse von Außenseiterfiguren im Film entwickelt, das schließlich auf ausgewählte deutsche Jugendfilme der Gegenwart angewandt wird. Der Band stellt heraus, dass Außenseiterfiguren im Jugendfilm als Störfiguren, (filmhistorische) Referenzfiguren, Symbolfiguren und Symptomfiguren fungieren.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • 1. Einführung: Soziale Außenseiter und ihre filmische Repräsentation
  • 2. Außenseitertum
  • 2.1 Definitorische Zugänge
  • 2.2 Außenseiterfiguren in der Forschung zur Kinder- und Jugendliteratur
  • 2.2.1 Forschungsarbeiten bis zur Jahrtausendwende: Kategorien zur Analyse von Außenseiterfiguren
  • 2.2.2 Forschungsarbeiten im neuen Jahrtausend: Außenseitertum im Kontext von Diversität
  • 3. Filmgruppen
  • 3.1 Kinder- und Jugendfilm
  • 3.2 Jugendfilm
  • 3.3 Coming-of-Age-Film
  • 4. Außenseiterfiguren in der Geschichte des Jugendfilms: Eine Typologie jugendlicher Außenseiterfiguren aus diachroner Perspektive
  • 4.1 Die 1950er-Jahre: Rebellische Außenseiterfiguren
  • 4.2 Die 1960er-Jahre: Revolutionäre Schüler:innen und eskapistische Außenseiterfiguren
  • 4.3 Die 1970er-Jahre: Konflikte unter Jugendlichen
  • 4.4 Die 1980er-Jahre: Rebellische Teenager und Außen-
seiterfiguren aufgrund des sozioökonomischen Status
  • 4.5 Die 1990er-Jahre: Freaks, Nerds und sexuelle Selbstfindung
  • 4.6 Die 2000er- und 2010er-Jahre: Sensible Außenseiterfiguren
  • 4.7 Außenseitergrundtypen: Primäre und sekundäre Außenseitermerkmale
  • 4.8 Ergebnisse: Außenseiterfiguren im Jugendfilm
  • 4.9 Außenseiter-Erzählmuster
  • 5. Methode: Entwicklung eines Analyseinstrumentariums
  • 5.1 Modell zur Analyse filmischer Figuren: Die Uhr der Figur
  • 5.2 Die Uhr der Figur und die Analyse unfreiwilliger Außenseiterfiguren im Jugendfilm
  • 5.3 Die vier Analysephasen: Analyseleitende Fragen für die Untersuchung unfreiwilliger Außenseiterfiguren im Jugendfilm
  • 6. Außenseiterfiguren im deutschen Jugendfilm der Gegenwart
  • 6.1 Der deutsche Jugendfilm der Gegenwart
  • 6.1.1 Themen und Schwerpunkte
  • 6.1.2 Außenseiterfiguren
  • 6.1.3 Außenseiterfiguren und Gewaltdarstellungen
  • 6.2 Beispielanalysen
  • 6.2.1 Beispielanalyse: Knallhart (2006) von Detlev Buck
  • 6.2.2 Beispielanalyse: Picco (2010) von Philip Koch
  • 6.2.3 Beispielanalyse: Homevideo (2011) von Kilian Riedhof
  • 6.2.4 Beispielanalyse: LenaLove (2016) von Florian Gaag
  • 6.3 Fazit zum deutschen Jugendfilm der Gegenwart: Dysfunktionale und krisenhafte Bilder der Jugend
  • 7. Fazit: Außenseiterfiguren als Symbolfiguren, Störfiguren, Modellfiguren und Symptomfiguren
  • 8. Quellenverzeichnis
  • 8.1 Film- und Serienverzeichnis
  • 8.2 Sekundärquellen
  • 9. Anhang: Filmprotokolle
  • Danksagung
  • Reihenübersicht

1. Einführung: Soziale Außenseiter und ihre filmische Repräsentation

Luca: You’re on the wrong side of the street, fat cat. Beat it!

Garfield: And you, Luca. You’re on the wrong side of the evolutionary curve.1

Soziales Außenseitertum ist eine anthropologische Konstante, die sich in heterogener Weise bzw. durch vielfältige Ausprägungen und Formen äußern kann. Außenseitertum ist dabei unter anderem eng verknüpft mit dem Prozess der (sozialen) Rollenfindung und der Ausbildung der eigenen Identität – also typischen Merkmalen des Jugendalters und der Adoleszenz.2 Heranwachsende testen neue Lebensweisen und ihre Grenzen aus, ihre sozialen Bezugsgruppen variieren. Das kann sowohl zu sozialer Abgrenzung (freiwilliges Außenseitertum: Abgrenzung von einer sozialen Gruppe) als auch zu sozialer Ausgrenzung (unfreiwilliges Außenseitertum: Ausgrenzung durch eine soziale Gruppe) führen.

Bei einem Blick auf die mediale Darstellung und Repräsentation von jugendlichen Außenseitern3 in Literatur und Film fällt auf, dass vor allem unfreiwillige Außenseiterfiguren omnipräsent sind (vgl. Kurwinkel / Schmerheim 2013: 32). In der Geschichte des Jugendfilms lassen sich dabei unterschiedliche Erscheinungsformen unfreiwilligen Außenseitertums nachweisen, zum Beispiel: In Kes (1969) von Ken Loach wird die introvertierte Hauptfigur Billy von ihrem sozialen Umfeld schikaniert. Als Folge dieser sozialen Ausgrenzung flieht Billy immer wieder in die angrenzenden Wälder der englischen Arbeiterstadt, in der er lebt, und kümmert sich um einen Falken. Carrie aus dem gleichnamigen Film (1976) von Brian de Palma wird von ihren Klassenkameradinnen unter anderem aufgrund ihres unsicheren Sozialverhaltens im schulischen Alltag gemobbt und es kommt zu nachdrücklichen Degradierungsritualen. In Welcome to the Dollhouse (1995) von Todd Solondz befindet sich Dawn Wiener in einer existentiellen Außenseitersituation: Sie wird sowohl von ihrer Peergroup, der Lehrer:innenschaft, als auch ihrer Familie sozial ausgegrenzt. Auch in aktuelleren Filmen finden sich unfreiwillige Außenseiterfiguren: Charlie aus dem Coming-of-Age-Jugendfilm The Perks of Being a Wallflower (2012) von Stephen Chbosky ist ein sensibler und kulturell interessierter Jugendlicher und bricht dadurch mit den gängigen Männlichkeitsidealen an seiner Highschool – es kommt zu institutionellem Mobbing durch die populären Schüler:innen.

Unfreiwillige Außenseiterfiguren sind offensichtlich erzählwürdiger, was unter anderem mit dramaturgischen Aspekten einhergeht: Die (jugendlichen) Figuren befinden sich durch eine erfolgte Ausgrenzung in sozialen Extrem- und persönlichen Krisensituationen, was mit einem größeren Konflikt- und Entwicklungspotenzial einhergeht. Anhand unfreiwilliger Außenseiterfiguren und dem Verhältnis zwischen Individuum und sozialer Gruppe lassen sich soziale Normen und Regeln beobachten bzw. beschreiben, die verhandelt, übertreten und sanktioniert werden.

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der medialen Repräsentation von Außenseitern bildet allerdings besonders im Feld der (deutschsprachigen) Filmwissenschaft ein Desiderat4: Es existiert kein wissenschaftlicher Diskurs zu Außenseiterfiguren im (deutschen) Film im Allgemeinen5 und im (deutschen) Jugendfilm im Speziellen6, dementsprechend liegen auch keine anschlussfähigen filmwissenschaftlichen Außenseiterkonzepte und Analysemodelle vor.

Erkenntnisinteresse: Außenseiterfiguren im deutschen Jugendfilm der Gegenwart

Die erwähnte Forschungslücke möchte diese Dissertation zumindest teilweise schließen und sich gezielt der Analyse von Außenseiterfiguren im deutschen Jugendfilm widmen. Hierbei ist vor allem der deutsche Jugendfilm der Gegenwart7 von besonderem Interesse. Jugendliche Außenseiterfiguren finden sich zwar auch in den Halbstarkenfilmen der 1950er-Jahre oder in den problemorientierten deutschen Jugendfilmen der 1970er-Jahre. Doch gerade seit Beginn der Nuller-Jahre des neuen Jahrtausends lässt sich eine Vielzahl an unfreiwilligen Außenseiterfiguren in deutschen Jugendfilmproduktionen nachweisen.

Eine Facette von Außenseitertum ist hierbei besonders dominant: Außenseitersituationen und soziale Ausgrenzungsprozesse, die mit der Anwendung psychischer und physischer Gewalt durch andere Jugendliche einhergehen. Dabei ist auffällig, dass vor allem sensible und introvertierte Figuren soziale Außenseiterpositionen einnehmen. Hierauf wird der Schwerpunkt innerhalb der Einzelanalysen (s. Kapitel 6.2) liegen und es werden vier Filme in den Blick genommen, die diese Verknüpfung zentral verhandeln: Knallhart (2006) von Detlev Buck, Picco (2010) von Philip Koch, Homevideo (2011) von Kilian Riedhof und LenaLove (2016) von Florian Gaag.8 Die ausgewählten Filme beschäftigen sich fokussiert mit dem Verhältnis von Außenseitertum und Jugendgewalt, wobei jeweils unterschiedliche Charakteristika von Gewalt filmisch inszeniert und reflektiert werden. So stehen in Knallhart und Picco vor allem physische Gewaltanwendungen im Zentrum, während in Homevideo und LenaLove Außenseitertum mit Mobbing bzw. Cybermobbing verknüpft ist.

Aus diesen ersten Vorüberlegungen und Beobachtungen leitet sich ein allgemeines Erkenntnisinteresse dieser Arbeit ab: Wie werden unfreiwillige Außenseiterfiguren im deutschen Jugendfilm der Gegenwart dargestellt? Durch die Fokussierung auf die Kombination von Außenseitertum und Gewaltdarstellungen in den Einzelanalysen ergibt sich zudem eine spezifische Fragestellung: Wie wird das Verhältnis zwischen Außenseitertum und Gewalt im deutschen Jugendfilm der Gegenwart dargestellt?

Diese Schwerpunktsetzungen implizieren übergeordnet ein filmsoziologisches Grundinteresse. Damit ist der Teil der Filmsoziologie gemeint, der sich für die filmische Repräsentation der Gesellschaft und des Sozialen interessiert.9 Das Medium Film kann nach diesem Verständnis „als Teil soziokultureller Prozesse“ verstanden werden, denn „[…] die Filmgeschichte [stellt sich] nicht als autonomer Prozess dar, sondern als Teil gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Zeitläufe, auf die Filme reagieren […]“ (Lüdeker 2012: 1). Filme repräsentieren und interpretieren also gesellschaftliche Wirklichkeit (vgl. Winter 1992: 35), etwa „[s]oziale Verhältnisse, gesellschaftliche Transformationen, Herrschaftsstrukturen, kulturelle und soziale Identitäten, Lebenszusammenhänge, Formen der privaten Lebensführung, kulturelle und soziale Distinktionen […]“ (Mikos 2019: 2). Filme und die vermittelten Bilder können für die Diagnose einer Gesellschaft deshalb durchaus fruchtbar gemacht werden und „[…] stellen eine stetig sprudelnde Quelle dar, um sich über den Zustand der Gesellschaft, ihre Krisen und Konflikte, ihre Werte und Moralvorstellungen Aufschluss zu verschaffen“ (Schroer 2008: 7). Filmische Repräsentationen des Gesellschaftlichen und des Sozialen sind hierbei jedoch nicht – im Sinne Kracauers (vgl. 1963: 280) – als Spiegelungen sozialer Wirklichkeit zu verstehen, sondern es handelt sich immer um Deutungen, Interpretationen, Inszenierungen und Pointierungen der außerfilmischen Realität und gesellschaftlicher bzw. sozialer Beobachtungen und Prozesse (vgl. Flicker / Zehenthofer 2018: 3; Schroer 2018: 11; Keppler / Peltzer 2019: 5). Die soziale Wirklichkeit wird in Spielfilmen also fiktionalisiert (vgl. Schroer 2008: 7; Heinze 2019: 7; Keppler / Peltzer 2019: 2; Mikos 2019: 2).10

Das heißt zusammengefasst für die Analyse des deutschen Jugendfilms seit der Jahrtausendwende: Die zu untersuchenden Gegenstände reflektieren, inszenieren und dramatisieren (reales) jugendliches Sozialverhalten, jugendliche Konflikte, jugendliches Außenseitertum und Jugendgewalt. Dadurch werden Bilder der Jugend und von jugendlichen Lebenswelten entworfen (vgl. dazu auch Heinze 2019: 8). Die Filme treffen also Aussagen über einen Ausschnitt der Gesellschaft und über den Zustand der Jugend in Deutschland des neuen Jahrtausends. Es stellt sich für diese Arbeit daher auch die Frage: Welche Bilder von Jugend im Allgemeinen und von jugendlichem Außenseitertum im Speziellen werden im deutschen Jugendfilm der Gegenwart anhand der Darstellung von Außenseitertum gezeichnet?

Als Basis für die Untersuchung von Außenseiterfiguren im deutschen Jugendfilm der Gegenwart ist zudem die Perspektive auf die filmhistorische Konzeption von Außenseiterfiguren grundlegend: In der Geschichte des internationalen und vor allem des amerikanischen (Coming-of-Age-)Jugendfilms sind verschiedene Außenseiterfiguren zentral angelegt, beispielsweise rebellische Außenseiterfiguren wie Jim Stark aus Rebel Without a Cause (1955) von Nicholas Ray oder John Bender aus The Breakfast Club (1985) von John Hughes, Nerdfiguren wie Napoleon Dynamite aus dem gleichnamigen Film (2004) von Jared Hess oder sensible Außenseiterfiguren wie Charlie aus dem bereits erwähnten The Perks of Being a Wallflower (2012). Diese Außenseitertypen bilden eine Vorlage für die Gestaltung von unfreiwilligen Außenseiterfiguren im deutschen Jugendfilm der Gegenwart.11 Neben dem fokussierten Blick auf die Konzeption von Außenseiterfiguren im deutschen Jugendfilm der Gegenwart werden die Filmgeschichte und die dort angelegten jugendlichen Außenseiterfiguren als Bezugspunkte daher von zentralem Interesse sein. Es eröffnen sich dementsprechend zwei weitere Untersuchungsfragen: Wie hat sich die Darstellung von Außenseiterfiguren filmhistorisch entwickelt? Welchen Einfluss liefert die Geschichte von filmischen Außenseiterfiguren für die Gestaltung von Außenseiterfiguren im deutschen Jugendfilm der Gegenwart?

Herangehensweise und Methodik

Für die Analyse unfreiwilliger filmischer Außenseiterfiguren im Jugendfilm wird ein Instrumentarium entwickelt, das zentrale Außenseiteraspekte aufgreift. Es stellt sich also die methodische Frage: Wie lassen sich unfreiwillige Außenseiterfiguren im Jugendfilm analysieren und identifizieren? In Ermangelung anschlussfähiger filmwissenschaftlicher Vorarbeiten stellt die Fokussierung auf die Geschichte von Außenseiterfiguren im (internationalen) Jugendfilm – unter besonderer Berücksichtigung des Coming-of-Age-Jugendfilms – eine Grundlage für die Entwicklung des Instrumentariums dar. Es werden verschiedene Kategorien und Erscheinungsformen jugendlichen Außenseitertums in der Filmgeschichte herausgearbeitet und repräsentative bzw. dominante Außenseitergrundtypen im Jugendfilm skizziert (s. Kapitel 4). Aus dieser Typenbildung leiten sich konkrete Außenseitermerkmale und Umgangsstrategien mit Außenseitertum ab.

Figurenmerkmale nehmen eine zentrale Stellung bei der Analyse von unfreiwilligen Außenseiterfiguren ein. Außenseitertum unterliegt allerdings immerzu der Aushandlung sozialer Prozesse. Das impliziert die Frage, wer festlegt, ob es zu einer sozialen Ausgrenzung kommt oder nicht. Es sind soziale Bezugssysteme bzw. soziale Gruppen, die Figuren etwa aufgrund spezifischer Charaktermerkmale, körperlicher Eigenschaften und/oder ihres (abweichenden) Verhaltens ausgrenzen oder an den sozialen Rand drängen. Unfreiwilliges Außenseitertum unterliegt daher immer einer (sozialen) Konstruktion, einer Zuschreibung durch andere. Neben dem konkreten Blick auf die jeweilige Außenseiterfigur stellt sich daher immer die Frage, welche soziale Gruppe in welchem sozialen Kontext12 eine Figur ausgrenzt, aus welchen Gründen dies geschieht und wie sich die soziale Ausgrenzung konkret äußert.

In Filmen über Außenseitertum werden soziale Prozesse und das Verhältnis zwischen Individuum und sozialer Gruppe verhandelt, dadurch ergeben sich vor allem soziologische Grundfragen. Im Sinne einer soziologischen Filmanalyse kommt es demnach zu einer Kombination aus filmanalytischem Grundwissen und soziologischem Fachwissen (vgl. Flicker / Zehenthofer 2018: 5). Für die Analyse von Außenseiterfiguren werden als theoretische Grundlage soziologische Zuschreibungstheorien herangezogen, die von der sozialen Konstruiertheit von Außenseitertum ausgehen. Gerade die Außenseitertheorien von Howard Saul Becker (Außenseiter. Zur Soziologie abweichenden Verhaltens; erstmals 1963 erschienen) und Erving Goffman (Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität; ebenfalls erstmals 1963 erschienen13) sind besonders dafür geeignet, um die sozialen Prozesse zwischen Individuum und sozialer Gruppe und die daran gekoppelten Ausgrenzungsmechanismen konkret beschreiben zu können (s. Kapitel 2.1), einhergehend mit aktuellen Theorien, die der Grundlogik der soziologischen Zuschreibungstheorien folgen, wie etwa dem Othering-Ansatz (s. Kapitel 2.2.2).

Aufgrund des fehlenden Diskurses zur Darstellung von Außenseitertum im Film werden zudem Forschungsarbeiten zur (Kinder- und) Jugendliteratur hinzugezogen: In (kinder- und) jugendliterarischen Texten kann bei der Analyse von Außenseiterfiguren inhaltlich das gleiche Kategoriensystem angelegt werden wie im (Kinder- und) Jugendfilm. Daher: Die Außenseitermerkmale und die Umgangsstrategien mit Außenseitertum überschneiden sich (s. Kapitel 2.2).

Die Darstellung von Außenseitertum im Film lässt sich durch einen genauen Blick auf filmische Figuren und ihre (sozialen) Kontexte untersuchen. Für die Entwicklung eines Modells zur Analyse unfreiwilliger Außenseiterfiguren im Film ist es daher zweckmäßig, grundlegende Aspekte der filmischen Figurenanalyse aufzugreifen und mit den spezifischen Außenseiteraspekten der Figur zusammenzuführen. Innerhalb der Filmwissenschaft gilt hier Jens Eders Die Figur im Film (erstmals veröffentlicht 2008) und sein Mehrebenenmodell der Uhr der Figur als Standardwerk, auf das auch in dieser Arbeit zurückgegriffen wird (s. Kapitel 5).

Es kann also festgehalten werden: Sowohl soziologische Zuschreibungstheorien, literaturwissenschaftliche Vorarbeiten, filmhistorische Beobachtungen als auch Aspekte der filmwissenschaftlichen Figurenanalyse fließen in einem Modell zur Analyse von unfreiwilligen Außenseiterfiguren im (Jugend-)Film zusammen. Unterschiedliche Methoden bzw. Herangehensweisen werden fruchtbar gemacht, um entsprechende Kategorien zur Analyse von filmischen Außenseiterfiguren zu bilden. Die Einzelanalysen (s. Kapitel 6.2) dienen daher auch der Evaluation des ausgearbeiteten Analyseinstrumentariums.

Insgesamt verortet sich die Arbeit primär im Feld der Kinder- und Jugendfilmforschung und möchte durch die aufgeführten Forschungsfragen eine Forschungslücke schließen bzw. zur weiteren Diskussion über Außenseitertum im Jugendfilm anregen.


1 Garfield: The Movie, R.: Peter Hewitt, USA 2004, TC: 05:32–05:34.

2 Die Begriffe Jugend und Adoleszenz beziehen sich hier und in der ganzen Arbeit auf einen modernen westlichen Kulturkreis. Das wird später noch detaillierter ausgeführt (s. vor allem Kapitel 3.2 und 3.3).

3 In der Arbeit wird grundsätzlich auf eine gendergerechte Sprache geachtet. Beim Begriff „Außenseiter“ in allgemeinster Form wird allerdings – aus Gründen der besseren Lesbarkeit – das generische Maskulinum verwendet, anknüpfend an die bisherigen Forschungsarbeiten zu Außenseitertum. Wenn in dieser Arbeit die Begriffe „Außenseiter“ und „Außenseiterfigur“ benutzt werden, dann beziehen sich diese zugleich auf männliche, weibliche und andere Geschlechteridentitäten.

4 Auf den Forschungsstand zu Außenseiterfiguren innerhalb der deutschsprachigen (Kinder- und) Jugendliteratur wird später noch eingegangen (s. Kapitel 2.2).

5 An dieser Stelle sei die Dissertation von Kurwinkel (2011) erwähnt, die sich der Darstellung von (apollinischem) Außenseitertum in einzelnen Verfilmungen Thomas Manns widmet. Kurwinkel entwickelt allerdings kein Analyse- bzw. Kategorienmodell, das für die Arbeit mit Außenseiterfiguren im Jugendfilm anschlussfähig wäre.

6 Auch die breit angelegten amerikanischen Studien zum Jugendfilm, etwa von Shary (2005; 2014), gehen nicht näher bzw. explizit auf Außenseitertum ein. Es liegen in der amerikanischen Jugendfilmforschung lediglich einzelne Aufsätze vor, die sich mit spezifischen Formen von Außenseitertum in einzelnen Werken beschäftigen (z.B. Lashley 2015; Tresca 2015).

7 Als Filme der Gegenwart werden hier filmische Werke ab der Jahrtausendwende kategorisiert. Dabei werden ausschließlich Realfilm-Produktionen in den Blick genommen.

Details

Seiten
336
Jahr
2023
ISBN (PDF)
9783631892268
ISBN (ePUB)
9783631892275
ISBN (Hardcover)
9783631892251
DOI
10.3726/b21229
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (Oktober)
Schlagworte
Außenseiter-figuren Jugendfilm Analysemodell Coming-of-Age-Film Außenseiter Figurenanalyse Filmgeschichte Gewalt Mobbing Münschke, Außenseiterfiguren im Jugendfilm
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2023. 336 S., 30 farb. Abb., 8 s/w Abb.

Biographische Angaben

Frank Münschke (Autor:in)

Frank Münschke studierte Germanistik und Soziologie an der Universität Kassel sowie Deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin, und er ist an der Universität zu Köln promoviert worden. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsche Sprache und Literatur II der Universität zu Köln.

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