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Haftung für hoch- und vollautomatisierte Kraftfahrzeuge

Der Einfluss der StVG-Novelle auf die Haftung von Fahrzeugführer und Fahrzeughalter

von Johannes Henke (Autor:in)
©2023 Dissertation 256 Seiten
Reihe: Zivilrechtliche Schriften, Band 85

Zusammenfassung

Durch das im Juni 2017 in Kraft getretene 8. ÄndG zum StVG wird es dem Fahrer eines hoch- oder vollautomatisierten Fahrzeugs erstmalig gestattet, sich vom Verkehrsgeschehen ab- und fahrfremden Nebentätigkeiten zuzuwenden. Vor dem Hintergrund des Zusammenwirkens von Fahrer und automatisierter Fahrzeugsteuerung, insbesondere der Pflicht des Fahrers zur Rückübernahme der Fahrzeugsteuerung, geht der Autor den zahlreichen Fragen zu den Sorgfaltsanforderungen des Fahrzeugführers und -halters und der Grenzziehung zwischen den Verantwortungsbereichen von Fahrer, Halter und Automobilhersteller nach. Dabei werden die neu eingeführten und zum großen Teil mit unbestimmten Rechtsbegriffen versehenen Vorschriften präzisiert und interpretiert, wodurch diese in der Praxis handhabbar werden.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Einleitung
  • Kapitel 1: Technische Grundlagen
  • A. Umfeldwahrnehmung
  • I. Sensortechnik
  • 1. Kamerasysteme
  • 2. Lidar-Sensoren
  • 3. Radar-Sensoren
  • 4. Ultraschallsensoren
  • 5. Raddrehzahlsensoren
  • 6. Interialsensoren
  • 7. GPS-Sensoren
  • 8. Zusammenspiel verschiedener Sensoren
  • II. Kartenmaterial
  • III. Vernetzung mit anderen Fahrzeugen und Infrastruktur
  • B. Datenanalyse (Interpretation und Schlussfolgerung)
  • C. Übertragung des errechneten Steuerungsbefehls auf Bedienelemente des Fahrzeugs
  • D. Status quo der technischen Entwicklung
  • Kapitel 2: Das 8. ÄndG zum StVG
  • A. Bestimmung der Automatisierungsgrade
  • I. Für das 8. ÄndG zum StVG relevante Nomenklaturen
  • II. Einteilung der Automatisierungsgrade durch das StVG
  • B. Die Regelungen des 8. ÄndG zum StVG im Überblick
  • I. § 1a StVG
  • 1. Betrieb eines hoch- und vollautomatisierten Fahrzeugs
  • 2. Definition hoch- und vollautomatisierter Fahrzeuge
  • 3. Verhältnis des § 1a Abs. 3 StVG zum Zulassungsrecht
  • a) Regelung in „internationalen Vorschriften“
  • aa) Stand der europäischen Zulassungsvorschriften
  • bb) Stand der völkerrechtlichen Zulassungsvorschriften
  • cc) Verhältnis zwischen europäischen und völkerrechtlichen Zulassungsvorschriften
  • b) „EG-Ausnahmetypgenehmigung nach Art. 20 der Richtlinie 2007/46/EG“
  • c) Zusammenfassung
  • 4. Fahrzeugführer
  • II. § 1b StVG
  • III. Evaluationsauftrag (§ 1c StVG)
  • IV. Verordnungsermächtigungen
  • V. Erhöhung der Haftungshöchstbeträge
  • 1. Kein Gleichlauf mit der Mindestversicherungssumme
  • 2. Gesetzgeberische Leitgedanken
  • 3. Anwendungsbereich der erhöhten Haftungshöchstbeträge
  • a) Auslegung anhand des Wortlauts
  • b) Teleologische Auslegung
  • c) Zwischenergebnis
  • 4. Auswirkung auf die Fahrzeughersteller
  • 5. Zusammenfassung
  • VI. Datenverarbeitung bei Kraftfahrzeugen mit hoch- oder vollautomatisierter Fahrfunktion (§ 63a StVG)
  • 1. In Kraftfahrzeugen potentiell zur Verfügung stehende Daten
  • a) Sensordaten
  • b) Umgebungsdaten
  • c) Ereignisbezogene Daten
  • 2. Regelungen des § 63a StVG
  • a) Speicherpflicht
  • b) Übermittlung der Daten an Behörden
  • c) Übermittlung der Daten an Unfallbeteiligte
  • d) Nutzung der Daten für die Unfallforschung
  • e) Löschung der Daten
  • 3. Verhältnis zum europäischen Zulassungsrecht
  • 4. Zusammenfassung
  • Kapitel 3: Haftung des Fahrzeugführers
  • A. Fahrzeugführer bei Verwendung der hoch- oder vollautomatisierten Fahrzeugsteuerung
  • I. Rechtsnatur des § 1 Abs. 4 StVG
  • 1. Auslegung anhand des Wortlauts
  • 2. Systematische Auslegung
  • a) Menschlicher Fahrzeugführer als gesetzgeberisches Leitbild
  • b) Systemwidrige Folgen bei Annahme der Fahrzeugführereigenschaft des Herstellers
  • 3. Teleologische Auslegung
  • 4. Zwischenergebnis
  • II. Anpassungsbedarf in der Rechtsprechung
  • B. Im Straßenverkehr geltender Sorgfaltsmaßstab
  • C. Sorgfaltsanforderungen an den Fahrzeugführer eines hoch- oder vollautomatisierten Fahrzeugs
  • I. Sorgfaltsanforderungen vor Fahrtantritt
  • II. Sorgfaltsanforderungen nach Fahrtantritt
  • 1. Keine Benutzungspflicht
  • 2. Bestimmungsgemäße Verwendung der hoch- oder vollautomatisierten Fahrzeugsteuerung
  • a) Regelung der bestimmungsgemäßen Verwendung durch den Hersteller
  • b) Aufklärung mit nach § 63a Abs. 1 StVG gespeicherten Daten
  • 3. Keine Kontrollpflicht
  • 4. Rückübernahmepflichten
  • a) Rückübernahmepflicht gem. § 1b Abs. 2 Nr. 1 StVG
  • aa) Unverzüglichkeit der Reaktion
  • bb) Aufklärung mit nach § 63a Abs. 1 StVG gespeicherten Daten
  • b) Rückübernahmepflicht gem. § 1b Abs. 2 Nr. 2 StVG
  • aa) „Auf Grund offensichtlicher Umstände Erkennenmüssen“ der fehlenden Voraussetzungen einer bestimmungsgemäßen Verwendung
  • bb) Kenntnis von den fehlenden Voraussetzungen einer bestimmungsgemäßen Verwendung
  • cc) Aufklärung mit nach § 63a Abs. 1 StVG gespeicherten Daten
  • dd) Reichweite der Verschuldensvermutung gem. § 18 Abs. 1 S. 2 StVG
  • c) Keine Rückübernahmepflicht aus § 1a Abs. 1 StVG
  • d) Zwischenergebnis
  • 5. Abwendungsbefugnis
  • 6. Pflicht zur Wahrnehmungsbereitschaft
  • a) Verhältnis zwischen Wahrnehmungsbereitschaft und Rückübernahmepflichten
  • b) Gleicher Regelungsgehalt von Wahrnehmungsbereitschaft und dem Kriterium „jederzeit“
  • 7. Grenzziehung im Spannungsverhältnis zwischen Abwendungsbefugnis und Wahrnehmungsbereitschaft
  • a) Auslegung anhand des Wortlauts
  • b) Systematische Auslegung
  • aa) Bedeutung der „ausreichenden Zeitreserve zur Übernahme der Fahrzeugsteuerung“
  • bb) Bedeutung des Hinweises auf eine bestimmungswidrige Verwendung
  • cc) Folgerungen aus der zulässigen Nutzung elektronischer Geräte
  • c) Teleologische Auslegung
  • d) Kein Rückgriff auf situationsabhängige Verhaltensanforderungen
  • e) Zwischenergebnis
  • f) Aufklärung mit nach § 63a Abs. 1 StVG gespeicherten Daten
  • III. Sorgfaltsanforderungen bei manueller Übersteuerung
  • 1. Sorgfaltsanforderungen bei Eingriff in die automatisierte Steuerung
  • 2. Kein Sorgfaltsverstoß bei Eingriff entgegen der Systembeschreibung
  • IV. Zusammenfassung
  • Kapitel 4: Haftung des Fahrzeughalters
  • A. Haftung des Fahrzeughalters gem. § 7 Abs. 1 StVG
  • I. Haftungsvoraussetzungen bei hoch- und vollautomatisierten Fahrzeugen
  • Kapitel 5: Zusammenfassung in Thesen
  • A. Stand der Technik und Zulassungsrecht
  • B. Haftung des Fahrzeugführers
  • I. Sorgfaltsanforderungen des Fahrzeugführers
  • II. Unfallrekonstruktion
  • C. Haftung des Fahrzeughalters
  • I. Eingreifen der Gefährdungshaftung
  • II. Beibehaltung der Gefährdungshaftung
  • III. Sorgfaltsanforderungen des Fahrzeughalters
  • Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

ACCAdaptive Cruise Control (Abstandsregeltempomat)
ACSFAutomatically commanded steering function
ALKSLane Keeping Assistance
ASRAntriebsschlupfregelung
DSSADData Storage System for Automated Systems
FSDFull Self Driving
FTÜGenfer Fahrzeugteileübereinkommen
HRNHamburger Rechtsnotizen
ITFInternational Transport Forum
LidarLight detection and ranging
NHTSANational Highway Traffic Safety Administration
OBDOn Board Diagnose
SAESociety of Automotive Engineers
TOFTime of Flight
UN-ECEUnited Nations Economic Commission for Europe
VDAVerband der Automobilindustrie
Wiener Übereinkommen über den Straßenverkehr
WPWorking Party

Es wird im Übrigen verwiesen auf Kirchner, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 9. Aufl., Berlin/Boston 2018.

Einleitung

Bei rund 67 % der Unfälle mit Personenschaden unter Beteiligung eines Personenkraftwagens ist ein menschliches Fehlverhalten die Ursache.1 Bei Betrachtung des gesamten Straßenverkehrsgeschehens einschließlich des Güterkraftverkehrs, der Motorräder, Fahrräder und Fußgänger, gehen knapp 90 % aller Unfälle auf menschliches Versagen zurück. Nur 0,72 % aller Unfälle mit Personenschaden werden durch technische Mängel am Fahrzeug verursacht.2 Bei 9,9 % sind umweltbedingte Einflüsse, also Glätte durch Regen, Schnee oder Eis, ursächlich.3 Diese Statistik sollte den rationalen Verkehrsteilnehmer zu mehr Demut veranlassen, denn er stellt im Gegensatz zur Technik ganz offenbar das Hauptrisiko für sich und andere dar. Mit zunehmender Automatisierung, mit der dem Fahrer die Fahrzeugsteuerung immer weiter abgenommen bzw. erleichtert wird, besteht die Hoffnung, die Anzahl der menschlichen Fehler zu reduzieren und so die Anzahl der Verkehrsunfälle insgesamt zu senken. Zentrales Anliegen der zunehmenden Automatisierung der Fahrzeuge ist dementsprechend die Verbesserung der Verkehrssicherheit.4 Dieses Anliegen liegt auch dem 8. Änderungsgesetz zum Straßenverkehrsgesetz (8. ÄndG zum StVG)5 zu Grunde, mit dem ein Rechtsrahmen für die Nutzung hoch- und vollautomatisierter Fahrzeuge geschaffen wurde.6

Bereits in den vergangenen 20 Jahren hat der zunehmende Einsatz von technischen Assistenzsystemen in Kraftfahrzeugen einen deutlichen Rückgang der Verkehrsunfallschäden bewirkt.7 Diese Erfolgsgeschichte soll mit dem hoch- und vollautomatisierten Fahren fortgeschrieben werden, gleichsam aber auch nur einen Zwischenschritt auf dem Weg zu einer Minimierung von Verkehrsunfällen („Vision-Zero“)8 darstellen.

Das Sicherheitspotential der Fahrzeugautomatisierung lässt sich anhand folgender menschlicher Schwächen leicht aufzeigen: Fahrsysteme kennen keinen Sekundenschlaf, keine Schrecksekunde, sie lassen sich nicht ablenken, trinken keinen Alkohol und nehmen keine Drogen.9 Außerdem reagieren Fahrsysteme im Allgemeinen10 und insbesondere in monotonen Unterforderungssituationen schneller als menschliche Fahrer.11

Dieses Sicherheitspotential wird bislang nicht ausgeschöpft. Das 8. ÄndG zum StVG gestattet die Verwendung der hoch- oder vollautomatisierten Fahrzeugsteuerung nur in spezifischen Situationen. Außerhalb dieser Situationen wird das Fahrzeug konventionell durch den menschlichen Fahrzeugführer gesteuert. Das Sicherheitspotential kann sich somit nicht verwirklichen. Die reale Erhöhung der Verkehrssicherheit hängt also vom Grad der Nutzung automatisierter Fahrzeugsteuerungen ab. Wird die hoch- oder vollautomatisierte Fahrzeugsteuerung nicht aktiviert, tritt auch keine Verbesserung der Verkehrssicherheit ein. Insoweit werden die Erwartungen einer verbesserten Verkehrssicherheit von vornherein gedämpft.

Das Sicherheitspotential der Automatisierung darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich beim Führen eines automatisierten Kraftfahrzeugs um eine gefährliche Tätigkeit handelt. Unvorhersehbare Gefahrensituationen stellen auch ein automatisiertes Fahrsystem aufgrund der physikalischen Gesetze vor Herausforderungen.12 Es wird also auch bei der Verwendung automatisierter Fahrzeuge zu Unfällen kommen. Aufgrund der Automatisierung ergeben sich sogar neue Risiken.13 Diese resultieren aus der Fehlbedienung des automatisierten Fahrzeugs durch den menschlichen Fahrzeugführer,14 der Interaktion zwischen Fahrzeug und Fahrer in Übergabesituationen15 sowie aus technischen Schwachstellen, etwa der fehlenden Antizipationsfähigkeit der Systeme16 oder der mangelnden Informationsaufnahme und deren Verarbeitung.17 Schließlich kann ein fehlerfreies Arbeiten der Systeme bislang aus technischer Sicht nicht sichergestellt werden.18

Die zu erwartende verbesserte Verkehrssicherheit wiegt die hinzukommenden Risiken allerdings mindestens auf. Dies gilt nach Modellierungen sowohl für die Anzahl der Verkehrsunfälle als auch für die Schwere der Unfälle.19 Verwirklichen sich Automatisierungsrisiken, haben diese in der Regel gegenüber einem konventionell gesteuerten Fahrzeug einen weniger schweren Unfall, meist im Bereich von Sachschäden, zur Folge.20 Zudem ist in Bezug auf die Schwerverletzten und Toten das Unfallvermeidungspotential durch Automatisierung rund dreimal so hoch wie die hinzukommenden Automatisierungsrisiken, sodass in der Bilanz das Potential zur Vermeidung von Unfällen deutlich überwiegt.21

Neben diesen gesellschaftspolitischen Aspekt tritt die rechtspolitische Dimension des hoch- und vollautomatisierten Fahrens. Bereits die Strategie der Bundesregierung „Automatisiertes und vernetztes Fahren“ hat sich zu den rechtlichen Fragestellungen des automatisierten Fahrens verhalten und dazu ein Handlungsfeld „Recht“ gebildet. Daran knüpft das 8. ÄndG zum StVG an. Allem voran steht die Bemühung, Rechtssicherheit zu schaffen.22 Rechtssicherheit für alle Beteiligten, egal ob Hersteller, Fahrzeughalter oder Fahrzeugführer, ist Voraussetzung dafür, dass hoch- und vollautomatisiertes Fahren in der Realität umgesetzt wird. Herstellerseitig wird die Entwicklung überhaupt nur angestoßen, wenn Klarheit über die technischen Anforderungen und – damit zusammenhängend – über die Haftungsgefahr besteht. Da Verkehrsunfälle zwar verringert, aber nicht ganz ausgeschlossen werden können,23 stellt sich die Frage nach der Haftungsverteilung zwischen Fahrzeugführer, Fahrzeughalter und Fahrzeughersteller weiterhin. Schließlich müssen solche Fahrzeuge auf dem Markt Zustimmung finden. Dies wiederum hängt zum einen von dem Vertrauen in die Technik und zum anderen von der Haftungsgefahr bei deren Nutzung ab. Voraussetzung zur Realisierung des Unfallvermeidungspotentials ist somit die Rechtssicherheit und als deren Teilbereich die Kenntnis der eigenen Haftungsrisiken. In diesem Sinne muss auf einer rechtlichen Ebene das Fundament für eine verbesserte Verkehrssicherheit gelegt werden.

Dass dieses Ziel durch das 8. ÄndG zum StVG erreicht wurde, wird in der Literatur wegen der häufigen Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe vielfach bestritten.24 Es ist jedoch festzustellen, dass allein die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe nicht notwendigerweise zu Rechtsunsicherheit führt. Rechtsklarheit kann auch erreicht werden, indem unbestimmten aber bestimmbaren Rechtsbegriffen Konturen gegeben werden.

Dies haben bislang weder Rechtsprechung noch Rechtswissenschaft geschafft. Es existiert keine Rechtsprechung zum hoch- oder vollautomatisierten Fahren. Dagegen finden sich lediglich vereinzelte Urteile von Instanzgerichten, die sich mit Sorgfaltspflichten des Fahrers bei der Nutzung von Fahrerassistenzsystemen, also dem assistierten oder teilautomatisierten Fahren, beschäftigen. Diese Rechtsprechung ist aber, wie zu zeigen sein wird, nicht auf das hoch- und vollautomatisierte Fahren übertragbar und kann daher für die Arbeit nicht fruchtbar gemacht werden.25 Die Kommentierungen zum Straßenverkehrsgesetz halten sich, in Bezug auf die durch das 8. ÄndG zum StVG neu eingeführten Vorschriften, kurz.26 Es besteht daher besonderer Bedarf für eine wissenschaftliche Analyse des Gesetzestextes.

Diese Aufgabe zu bewältigen hat sich die vorliegende Arbeit zum Ziel gesetzt. Das Ziel soll erreicht werden, indem Inhalt und Reichweite der jeweiligen Regelung des 8. ÄndG zum StVG ausgehend von dem Gesetzestext anhand der juristischen Auslegungsmethoden bestimmt werden. Der Blick ist dabei auf das bestehende Haftungsmodell aus der Haftung des Fahrzeugführers für vermutetes Verschulden gem. § 18 Abs. 1 StVG, der Gefährdungshaftung des Fahrzeughalters nach § 7 Abs. 1 StVG und der verschuldensabhängigen Haftung des Fahrzeugherstellers aus § 1 Abs. 1 ProdHaftG sowie aus § 823 Abs. 1 BGB (Produzentenhaftung) gerichtet. Davon ausgehend wird untersucht, ob und inwieweit die mit dem 8. ÄndG zum StVG eingeführten Vorschriften die Haftung des Fahrzeugführers und des Fahrzeughalters beeinflussen.

Nicht thematisiert werden in dieser Arbeit die im Nachgang zum 8. ÄndG zum StVG mit dem Vierten Gesetz zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und anderer straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften (4. StVGuaÄndG) vom 12. Juli 2021 eingeführten Regelungen der §§ 1d–1l StVG zum „autonomen Fahren“, bei dem das Fahrzeug lediglich in einem festgelegten Betriebsbereich ohne fahrzeugführende Person auskommt.27 Vielmehr geht es nachfolgend ausschließlich um Fahrzeuge, in denen ein übernahmebereiter Fahrer im Fahrzeug anwesend sein muss, also ein arbeitsteiliges Zusammenwirken hinsichtlich der Fahraufgabe zwischen Fahrzeugführer und Fahrsystem verlangt wird.28

Die Auswirkungen des 8. ÄndG zum StVG auf die Haftung des Automobilherstellers und dessen Zulieferer werden in dieser Arbeit nicht untersucht. Die Behandlung dieses produkthaftungsrechtlichen Gebiets würde den Rahmen der Bearbeitung sprengen.

Zu Beginn der Arbeit werden die technischen Grundlagen zur Funktionsweise eines hoch- und vollautomatisierten Fahrzeugs (Kapitel 1) sowie die Begriffe der hoch- und vollautomatisierten Fahrzeugsteuerung i.S.d. Straßenverkehrsgesetzes (StVG) geklärt. Sodann werden die einzelnen fragestellungsrelevanten Vorschriften des 8. ÄndG zum StVG vorgestellt und deren Regelungsgehalt umrissen (Kapitel 2).

In Kapitel 3 werden die Sorgfaltsanforderungen des Fahrzeugführers eines hoch- oder vollautomatisierten Fahrzeugs dargestellt. Neben der zulässigen bestimmungsgemäßen Verwendung der hoch- oder vollautomatisierten Fahrfunktion gem. § 1a Abs. 1 StVG, also der Öffnung des Gesetzes für die Verwendung dieser Technik, ist hier die Regelung des § 1b Abs. 1 HS. 1 StVG von zentraler Bedeutung. Diese gestattet es dem Fahrer erstmalig, sich vom Verkehrsgeschehen ab- und fahrfremden Nebentätigkeiten zuzuwenden, während die hoch- oder vollautomatisierte Fahrzeugsteuerung aktiviert ist. Begrenzt wird die Abwendungsbefugnis des Fahrers durch die Pflicht zur Wahrnehmungsbereitschaft, § 1b Abs. 1 HS. 2 StVG, die verlangt, dass der Fahrer so wahrnehmungsbereit bleiben muss, dass er die Rückübernahmepflichten des § 1b Abs. 2 StVG jederzeit erfüllen kann. Im Spannungsverhältnis zur Abwendungsbefugnis stehen ebenso die Rückübernahmepflichten selbst, die vom Fahrer verlangen, dass er die Fahrzeugsteuerung unverzüglich übernimmt, wenn er vom System dazu aufgefordert wird (§ 1b Abs. 2 Nr. 1 StVG), oder er erkennt oder aufgrund offensichtlicher Umstände erkennen muss, dass die Voraussetzungen einer bestimmungsgemäßen Verwendung der hoch- oder vollautomatisierten Fahrfunktion nicht mehr vorliegen (§ 1b Abs. 2 Nr. 2 StVG). Hier wird der Frage nachgegangen, welche Sorgfaltsanforderungen sich aus den §§ 1a, 1b StVG für den Fahrzeugführer im Einzelnen ergeben, insbesondere wie sich die Abwendungsbefugnis gem. § 1b Abs. 1 HS. 1 StVG zu der Pflicht zur Wahrnehmungsbereitschaft i.S.d. § 1b Abs. 1 HS. 2 StVG, den Rückübernahmepflichten gem. § 1b Abs. 2 Nr. 1 und 2 StVG und der „ausreichenden Zeitreserve“ nach § 1a Abs. 2 S. 1 Nr. 5 StVG verhält.

§ 63a StVG enthält eine Regelung zur Speicherung und Verarbeitung von Daten, konkret von Positions- und Zeitangaben, wenn ein Wechsel der Fahrzeugsteuerung zwischen Fahrzeugführer und dem hoch- oder vollautomatisierten System erfolgt oder der Fahrzeugführer durch das System aufgefordert wird, die Fahrzeugsteuerung zu übernehmen oder eine technische Störung des Systems auftritt. Mit dieser Regelung soll einerseits verhindert werden, dass sich der Fahrzeugführer unberechtigterweise auf ein Versagen des Fahrsystems berufen kann, obwohl er selbst für den Unfall verantwortlich ist, und es soll andererseits dem Fahrzeugführer ermöglicht werden, einen gegen ihn erhobenen Schuldvorwurf zu entkräften, wenn er das Fahrzeug zum Unfallzeitpunkt tatsächlich nicht gesteuert hat und auch nicht steuern musste.29 Anknüpfend an die jeweilige Sorgfaltspflicht wird daher untersucht, ob mit Hilfe der nach § 63a Abs. 1 StVG gespeicherten Daten ein Verstoß gegen diese Sorgfaltspflicht tatsächlich belegt bzw. der Vorwurf der Missachtung der entsprechenden Sorgfaltspflicht widerlegt werden kann.

Kapitel 4 widmet sich der Haftung des Fahrzeughalters. Es steht die Frage im Zentrum, ob die Gefährdungshaftung nach § 7 Abs. 1 StVG im Falle eines Unfalls mit Beteiligung eines hoch- oder vollautomatisierten Fahrzeugs weiterhin eingreift. Nachdem dies bejaht wird, wird der Frage nachgegangen, ob diese weitreichende Haftung noch gerechtfertigt ist. Neben dem Abgleich neuer Sachverhaltskonstellationen mit den Grundlagen der Gefährdungshaftung des Fahrzeughalters wird hierbei anhand von rechtsökonomischen Kriterien diskutiert, ob das Haftungsmodell in dieser Form optimale Anreize zur Prävention, also zur Verbesserung der Verkehrssicherheit, bietet oder ob es dafür einer Erweiterung der Haftung des Herstellers bedarf.

Schließlich werden die einzelnen Sorgfaltspflichten des Fahrzeughalters speziell bei der Unterhaltung und dem Betrieb hoch- und vollautomatisierter Fahrzeuge herausgearbeitet.

Kapitel 5 fasst zum Schluss die wesentlichen Ergebnisse in Form von Thesen zusammen, und zwar hinsichtlich des Standes der Technik und des Zulassungsrechts, der Haftung des Fahrzeugführers sowie des Fahrzeughalters.


1 Statistisches Bundesamt, Verkehrsunfälle – Zeitreihen 2020. Zeitreihen der wichtigsten Merkmale aus der Straßenverkehrsunfallstatistik, 07. Juli 2021, 15 („673 von 1.000“), 
abrufbar unter: https://www.desta​tis.de/DE/The​men/Gesel​lsch​aft-Umw​elt/Verke​hrsu​nfae​lle/Publik​atio​nen/Downlo​ads-Verke​hrsu​nfae​lle/verkehrsunfaelle-zeitreihen-pdf-5462403.pdf;jsessionid =8B93D77E855195745B07F1D6F72FE98A. live732?__blob= publicationFile (zuletzt abgerufen am 15. November 2022).

2 Statistisches Bundesamt, Verkehrsunfälle – Zeitreihen 2020. Zeitreihen der wichtigsten Merkmale aus der Straßenverkehrsunfallstatistik, 07. Juli 2021, 15 („7,2 von 1.000“), abrufbar unter: https://www.desta​tis.de/DE/The​men/Gesel​lsch​aft-Umw​elt/Verke​hrsu​nfae​lle/Publik​atio​nen/Downlo​ads-Verke​hrsu​nfae​lle/verke​hrsu​nfae​lle-zei​trei​hen-pdf-5462​403.pdf;jse​ssio​nid=8B93D​77E8​5519​5745​B07F​1D6F​72FE​98A.

live732?__blob= publicationFile (zuletzt abgerufen am 15. November 2022).

3 Statistisches Bundesamt, Verkehrsunfälle – Zeitreihen 2020. Zeitreihen der wichtigsten Merkmale aus der Straßenverkehrsunfallstatistik, 07. Juli 2021, 15, abrufbar unter: https://www.desta​tis.de/DE/The​men/Gesel​lsch​aft-Umw​elt/Verke​hrsu​nfae​lle/Publik​atio​nen/Downlo​ads-Verke​hrsu​nfae​lle/verke​hrsu​nfae​lle-zei​trei​hen-pdf-5462​403.pdf;jse​ssio​nid=8B93D​77E8​5519​5745​B07F​1D6F​72FE​98A.

live732?__blob= publicationFile (zuletzt abgerufen am 15. November 2022).

4 Jänich/Schrader/Reck, NZV 2015, 313; Bartels/To/Simon/Weiser, ATZ 2011, 652 (653); Bewersdorf, NZV 2003, 266.

5 Veröffentlicht in BGBl. 2017, Teil I, Nr. 38, 1648–1650.

6 Begründung des Regierungsentwurfs für ein Gesetz zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes, BT-Drs. 18/11300, 13; zum Teil wird in der Literatur auf BR-Drs. 69/17 verwiesen, wodurch sich aber keine Unterschiede ergeben, da BT-Drs. 18/11300 und BR-Drs. 69/17 inhaltlich übereinstimmen; die unterschiedliche Bezeichnung beruht auf der Zuleitung des Entwurfes an den Bundesrat bzw. an den Bundestag; im Folgenden wird auf BT-Drs. 18/11300 Bezug genommen; Nehm, JZ 2018, 398, der darauf hinweist, dass die Ethik-Kommission diesem Unfallvermeidungspotential nicht im Wege stehen wollte; Lange, NZV 2017, 345 (346); König, NZV 2017, 123; Schlanstein, VD 2015, 131 (132); Klindt/Schucht, PHi 2013, 122 (123).

Details

Seiten
256
Jahr
2023
ISBN (PDF)
9783631900789
ISBN (ePUB)
9783631900796
ISBN (Hardcover)
9783631898369
DOI
10.3726/b20950
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (Juni)
Schlagworte
Automotive technology Vehicle drivers and owners Traffic and Transport law
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2023. 256 S.

Biographische Angaben

Johannes Henke (Autor:in)

Johannes Henke studierte Rechtswissenschaften in Konstanz und Freiburg. Im Jahr 2017 legte er das Erste Juristische Staatsexamen ab. Sein Referendariat und das Zweite Juristische Staatsexamen absolvierte er in Karlsruhe. Nach einer Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei einem Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof ist er seit 2021 als Anwalt in einer mittelständischen Wirtschaftskanzlei in Pforzheim im Bereich des Handels- und Gesellschaftsrechts tätig.

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