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Das Unrecht der versuchten Tat

Rekonstruktion der Eindruckstheorie auf der Grundlage der diskursiven Rechtstheorie

von Bei-Shen Lin (Autor:in)
©2023 Dissertation 224 Seiten

Zusammenfassung

Diese Arbeit bemüht sich um die Rekonstruktion der Eindruckstheorie der strafrechtlichen Versuchslehre auf der Grundlage der diskursiven Rechtstheorie. Strafrechtlich unrecht ist eine Handlung, die durch das lebensweltliche Deutungsschema von Handlungen in einem fair instituierten Strafprozess als rechtsverletzend beurteilt wird. Der Strafprozess ist nur insofern fair, als dem Täter die Chance gegeben wird, die Deutung seiner Handlung zu verändern. Dies führt weiterhin zu dogmatischen Folgen der versuchten Tat, dass ein prozessabhängiges lebensweltliches Kriterium in das Urteil des subjektiven und des objektiven Tatbestands des Versuchs eingeführt werden sollte. Das „Tat“-Merkmal beim subjektiven und das „Tatbestandsverwirklichung“-Merkmal beim objektiven Tatbestand des § 22 StGB richten sich auf rechtliche Angelegenheiten, die nicht völlig durch die Vorstellung des Täters oder eine Ex-post-Beobachtung ersetzt werden können.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhalt
  • Einleitung
  • Erster Teil Kritische Untersuchung der Versuchslehren
  • I. Besteht das Versuchsunrecht in der Verletzung wechselseitiger Anerkennungsverhältnisse?
  • 1. Kants Selbstbewusstseinsverständnis als Ausgangspunkt und der Anfang der Divergenz
  • A. Rekonstruktion der theoretischen Philosophie Kants und der Selbstbewusstseinsbegriff
  • B. Der Autonomiebegriff und diesbezügliche Kritiken bei Kant
  • C. Die Rechtsbegründung bei Kant
  • 2. Fichtes Rezeption und Reaktion auf Kants Philosophie
  • A. Wissenschaftslehre als Fichtes Ausgangspunkt und seine Auseinandersetzung gegen Kant
  • B. Fichtes Rechtslehre in der Grundlage des Naturrechts
  • 3. Der materiale Unrechtsbegriff der Wolff‘schen Schule und seine Übertragung auf die Versuchslehre in Bezug auf den Rechtsbegriff von Kant und Fichte
  • A. Der materiale Unrechtsbegriff der Wolff‘schen Schule
  • B. Versuch als Verletzung wechselseitiger Anerkennungsverhältnisse bei Zaczyk
  • C. Kritik
  • II. Versuch als Normgeltungsschaden oder Mitwirkungspflichtverletzung des Bürgers?
  • 1. Jakobs Auffassung im Anschluss an Luhmanns Systemtheorie
  • A. Jakobs‘ Grundgedanke im Aufsatz: „Der strafrechtliche Handlungsbegriff“
  • B. Weiterentwicklung in: „Das Strafrecht zwischen Funktionalismus und „alteuropäischem“ Prinzipiendenken“
  • C. Die Versuchslehre bei Jakobs und ihre Kritik
  • 2. Versuch als eine Mitwirkungspflichtverletzung des Bürgers
  • A. Pawliks Strafrechtstheorie
  • B. Wachters Auffassung zum strafrechtlichen Versuch
  • C. Neuere Argumentationen zum Unrechtsbegriff Pawliks
  • D. Kritik
  • III. Zwischenbetrachtung
  • Zweiter Teil Die Grundlage der Diskursiven Rechtstheorie
  • I. Selbstbewusstsein durch Vergesellschaftung – Habermas‘ Rezeption und Rekonstruktion von Mead
  • 1. Rezeption: ihr Kontext und Argumente
  • 2. Habermas‘ Kritik an Mead und seine Erweiterung
  • II. Kommunikative Rationalität – ein formalpragmatischer Ansatz
  • 1. Kommunikatives Handeln und kommunikative Rationalität
  • 2. Der formalpragmatische Ansatz des Verständigungsprozesses
  • 3. Zur Diskursethik
  • 4. Zum Lebensweltbegriff
  • III. Diskurstheorie des Rechts
  • Dritter Teil Rekonsruktion der Eindruckstheorie Auf der Grundlage der Diskursiven Rechtstheorie
  • I. Die sogenannte(n) Eindruckstheorie(n)
  • 1. Die Eindruckstheorie im Originell (von Gemmingen)
  • 2. Die Weiterentwicklung der Eindruckstheorie – eine Sanktionsnorm-Variante
  • A. Verhaltensnormen und Sanktionsnormen
  • B. Das Eindrucksmoment in Bezug auf die Sanktionsnorm
  • C. Kritik
  • 3. Sonstige Begründungsmöglichkeiten der Eindruckstheorie
  • A. Eindruck als böses Beispiel
  • B. Eindruck als das erregte Vergeltungsbedürfnis
  • II. Der strafrechtliche Unrechtsbegriff aus der Sicht der Diskurstheorie des Rechts
  • 1. Strafrecht im Rahmen der diskursiven Rechtstheorie
  • 2. Der diskursive Unrechtsbegriff
  • III. Das Unrecht der versuchten Tat–eine neue Interpretation der Eindruckstheorie (allgemeine Erklärung)
  • IV. Die subjektive Zurechnung der versuchten Tat
  • 1. Sinn der subjektiven Zurechnung im diskursiven Unrechtsverständnis
  • 2. Tatentschluss als subjektiver Tatbestand der versuchten Tat
  • 3. Untauglicher Versuch und seine grob unverständige Variante
  • A. Die Inspirationen der subjektiven Versuchslehre
  • B. Die Inspirationen der objektiven Versuchslehre
  • 4. Abergläubiger Versuch
  • 5. Wahndelikt und seine Grenzziehung vom untauglichen Versuch
  • V. Unmittelbares Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung
  • Zusammenfassung
  • Literaturverzeichnis

←10 | 11→

Einleitung

Die Hauptaufgabe der vorliegenden Arbeit besteht in der Begründung des Versuchsunrechts im Strafrecht. Dieses Thema hatte seit Langem zu einem der umstrittensten Bereiche in der Strafrechtswissenschaft gehört, reflektiert jedoch dessen überbrückende Stellung innerhalb der strafrechtstheoretischen Systembildung. Zum einen muss es auf das Verständnis verschiedener Unrechtstheorien zurückgreifen, damit vermieden werden kann, das Unrecht der versuchten Tat in einer willkürlichen Weise zu begründen. Eine Unrechtstheorie kann aber ohne Gedanken an den wesentlichen Zusammenhang zwischen (Rechts-)Person und (Rechts-)Norm nicht zur Geltung gelangen. Kurz gesagt: Die Begründung des Versuchsunrechts und der Zusammenhang zwischen (Rechts-)Person und (Rechts-)Norm sind mitzudenken. Zum anderen müssen sich die theoretischen Diskussionen über das Versuchsunrecht auf dogmatische Interpretationen auswirken und diese auch konkretisieren. So betrachtet, soll eine vollständige Theorie des Unrechts der versuchten Tat in der Lage sein, angemessene Erläuterungen über die Vorschriften hinsichtlich des Versuchsunrechts im geltenden Strafrecht in Bezug auf die theoretische Ebene zu bieten. Man muss beispielsweise Antworten auf die folgenden Fragen finden können: Wie sind „nach seiner Vorstellung von der Tat“, „zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar ansetzt“ und „aus grobem Unverstand“ in §§ 22 sowie 23 Absatz 3 StGB dogmatisch zu erfassen? Wie kann man eine Grenze zwischen Wahndelikt und untauglichem Versuch ziehen?1

Bei einem Blick auf die Literatur, die von demselben Thema wie die vorliegende Arbeit handelt, scheint sich eine „Tradition“ darzustellen. Es verhält sich so, als müsste man zunächst eine Reihe von Versuchstheorien nennen, die sich, grob gefasst, in subjektive, objektive sowie sub- und objektiv gemischte teilen, bevor folgende Analysen durchgesetzt werden können.2 Hierbei wird in dieser Arbeit aus zwei Gründen dieser Tradition nicht gefolgt. Erstens geht es bei dieser ←11 | 12→Untersuchung eher um eine eigene Theoriebildung statt um eine Beschreibung verschiedener Auffassungen. Das hat zur Folge, dass nur die Meinungen, die für den hier vertretenen Begründungsgang relevant und aufschlussreich sind, berücksichtigt werden sollen. Zahlreiche Vorgänger hatten sich darüber hinaus schon ehrwürdige Mühe gegeben, Versuchstheorien chronikalisch zu erläutern.3 So weit ist der Grund bezogen auf die methodische Ebene. Auf der anderen Seite ist ein der Strafrechtstheorie immanenter Grund zu nennen. Seit der Entwicklung der Theorie der objektiven Zurechnung hat die eindimensionale Betrachtung des Unrechts ihre Bedeutung verloren,4 geschweige denn, dass aufgrund der Handlungsstruktur per se das rein subjektive Unrechtsverständnis so unplausibel wäre wie das rein objektive. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass in der Gegenwart trotz aller möglichen Verschiedenheiten beim Umgang mit dieser Problematik eine Gemeinsamkeit zum Vorschein kommt: Sowohl die subjektive/innere als auch die objektive/soziale/gesellschaftliche Seite der Handlung beziehungsweise des Unrechts müssen gleichzeitig in Betrachtung kommen. Keine davon darf sich aufeinander reduzieren.5 Dementsprechend ist dies einer der wesentlichen Standards für die vorliegende Arbeit, um die in die Diskussion eingebrachten Versuchstheorien auszuwählen.

Der andere Maßstab bezieht sich auf den theoretischen Ausgangspunkt und Begründungsgang dieser Untersuchung. Der Standpunkt dieser Arbeit läuft zunächst einem Verständnis für das Strafrecht zuwider, das aus dem transzendentalen Idealismus entstand und sodann auf das (Straf-)Recht übertragen ←12 | 13→wurde. E. A. Wolff6 und seine Nachfolger – insbesondere sind Michael Köhler7, Michael Kahlo8 und Rainer Zaczyk zu nennen – mögen die repräsentativsten Vertreter dieser Richtung sein, auch wenn in Einzelheiten je nach eigenen Auffassungen Heterogenität besteht. Für diese Abhandlung ist Rainer Zaczyks Habilitationsschrift Das Unrecht der versuchten Tat von besonderer Bedeutung – nicht nur deshalb, weil er das gleiche Thema wie das dieser Arbeit behandelt hat, sondern weil er dort demonstrierte, wie die Errungenschaften der Subjekt- oder Bewusstseinsphilosophie (im Habermas’schen Terminus verwendet),9 hierfür vor allem die Kerngedanken von Kant und Fichte, im strafrechtlichen Feld innerhalb seiner Theorie kohärent um- und angewendet werden können. Ungeachtet des unterschiedlichen Standpunkts ist dieser Gedankengang, die Interpretationen der jeweiligen Rechtsbegriffe von der Legitimität des Rechts abhängig zu machen, zustimmungswürdig.

Entlang dieser bewusstseinsphilosophischen Traditionslinie soll die Jakobs’sche Schule10 zur Erörterung kommen. Im Vergleich zur Wolff’schen Schule stehen in der Systembildung der Jakobs’schen die Überlegungen von Luhmann und Hegel im Mittelpunkt.11 Die Erben der zwei großartigen Theoretiker bringen sich in zwei Grundideen zum Ausdruck: Einerseits wird das Strafrecht als ein entschlossenes System angesehen und auf die kommunikative Ebene reduziert;12 anderseits steht das Strafrecht für eine staatliche Institution, die mit der personalen „Mitwirkungspflicht“ an die Teilnahme an dem gemeinsamen Freiheitsprojekt gebunden sei.13 Die vorliegende Arbeit wird im Folgenden versuchen, die in den oben erwähnten zwei Theorie-Verwandtschaften versteckte Gegenüberstellung des Subjekts und der Gemeinschaft durch eine diskursiv rekonstruierte Theorie ←13 | 14→aufzulösen14 und zugleich die daraus folgenden Ergebnisse für die Begründung sowie die Anwendung des Unrechts der versuchten Tat nützlich zu machen.

Den anderen Weg ist die herrschende Lehre gegangen. Sie hat einen Kontrast zu den Auffassungen gebildet, die sich auf der Bewusstseinsphilosophie gegründet haben.15 Philosophie transzendiere offenbar schon den Bereich der Politik. Durch eine klare Einstellung gegen sie wird die Lehre solcherart gezeichnet: Sie halte das Strafrecht überhaupt für ein sich an den Nachvollzug der politischen Aufgaben orientierendes Mittel – um durch die rechtsgutschützende Funktion des Strafrechts das Ziel der gemeinschaftlichen Kontrolle zu erreichen. Zuerst wird das dieser Art Theorie immanente Defizit beiseitegeschoben und in ihrem Kontext verblieben. So ist es möglich, ohne große Schwierigkeiten herausfinden, dass diese Lehre eine Leseart der Zusammenhänge zwischen Begriffen wie Verfassung, Menschenrechte und Verhältnismäßigkeitsprinzip darstellt. Die Strafe ist als eine Art von grundrechtlichen Eingriffen gegen den Bürger zu begreifen und daher legitimationsbedürftig.16 Aufgrund der Staatsaufgabe des Schutzes der Daseins- und Entfaltungsbedingungen der Bürger darf sie gerechtfertigt werden.17 In diesem Rahmen ist freilich die Verfassung immer mitzudenken, soweit in ihr die Konkretisierung jener Aufgaben des Staats und die zur Erfüllung solcher Aufgaben angemessenen Mittel erscheinen sollen, die überhaupt durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auszuwählen sind. Ein zweckrationaler Zusammenhang18 zwischen dem Staat, dem als eines seiner Instrumente fungierenden Strafrecht und den Bürgern ist dementsprechend zur Geltung gebracht. Das Strafrecht samt seiner Rechtsfolge Strafe ist vom Staat eingerichtet, ←14 | 15→um die Daseins- und Entfaltungsbedingungen der Bürger – oder, strafrechtlich umschrieben, Rechtsgüter – vor den möglichen Verletzungen anderer zu schützen. Eine Auffassung solcher Art wird in der Gegenwart häufig mit dem generalpräventiven Strafgedanken in Verbindung gebracht. Es ist nutzlos, den Täter wegen der von ihm verursachten, aber vergangenen Rechtsgutsverletzung zu bestrafen. Das betreffende Rechtsgut ist dadurch nicht zu retten. Das Strafrecht würde demzufolge für ein gesamtes Programm stehen, damit das Rechtsbefolgungsbewusstsein aller rechtsgemeinschaftlichen Mitglieder auf der einen Seite und die Normgeltung auf der anderen Seite zu stabilisieren sind.19

Die oben Genannten haben nur das notwendige Hintergrundwissen für den Kontext erwiesen, in den das zu behandelnde Thema eingeordnet wird. Im nächsten Schritt wird sich den Einflüssen zugewandt, die sich aus jenen Strafrechtsverständnissen ergeben haben: auf die Versuchstheorien.

„Versuch als Übergang eines Konstituenten des Rechtsguts zur Verletzung.“20 „Das Unrecht des Versuchs besteht darin, daß eine Person entschlossen und wirkmächtig zum künftig vollendeten Verletzen übergeht, mithin schon im objektiv tatbestandlichen Handlungsansatz das interpersonale Rechtsverhältnis verletzt.“21 Diese zwei Zitate haben im Grunde hinreichende Hinweise auf die Meinungen über das Versuchsunrecht aus der Sicht der Wolff’schen Schule gegeben. Zaczyks Argumentationsgang geht vom subjektiven Selbstbewusstsein aus, das von Anfang an mit anderen verbunden ist. Sodann läuft er über das Handlungsvermögen jedes Subjekts, sich mit anderen nach einem allgemeinen Gesetz zu verhalten, und lässt dies auf den äußeren Bereich der allgemeinen Freiheitssphäre des Subjekts als den Rechtsbereich übertragen. Daraus werden die Konsequenzen gezogen, dass der Rechtszustand ein durch die intersubjektiv richtige Handlung des selbstbestimmten Subjekts konstituierter Zustand ist. Umgekehrt ist dieser positive Zustand verletzt. Merkmale des Rechtszustands – wie Handlung, Intersubjektivität sowie die Struktur und der Inhalt jeweiliger Rechtsgüter – spielen deshalb eine bedeutende Rolle bei der Beurteilung des Versuchs.

„Strafgrund des Versuchs ist das Expressiv-Werden eines Normbruchs.“22 „Im Folgenden werden die Regeln zur Ermittlung der Verhaltenssemantik erarbeitet […, die] Ermittlung derjenigen Versuchskonstellationen, in denen der Einzelne seine Pflicht zur Mitwirkung an einem Zustand der Freiheitlichkeit bricht.“23 ←15 | 16→„[… Die] Ausführung einer Handlung, die […] ein Risiko begründet, dass nach dem normativen Konsens der beurteilenden Gesellschaft als illegitim zu veranschlagen ist.“24 Das erste Zitat wurde von Jakobs selbst geschrieben, während die letzteren zwei einer Dissertation, die von seinem Schüler Pawlik betreut wurde, entnommen wurden. Eine Gesamtheit hat sich schon in diesem Zusammenhang dargestellt, auch wenn einige Gedankenabweichungen gewissermaßen bleiben. Diejenige Gesamtheit besteht in der Gesellschaftsbezogenheit bei dem Beurteilungskriterium des (Versuchs-)Unrechts, was eben bedeutet, Versuchsunrecht liegt nur insofern vor, als von dem Aspekt der Gesellschaft ein kommunikativer Gegenentwurf einer geltenden Rechtsnorm interpretiert werden könnte beziehungsweise von demselben Aspekt ein unerlaubtes Risiko, das gleichzeitig einen Widerspruch gegen die Mitwirkungspflicht jedes Bürgers zum Ausdruck bringt, erzeugt wird. Bei der Jakobs’schen Unrechtslehre, die Luhmanns soziale Systemtheorie mit der Hegel’schen Philosophie kombiniert, steht das auf das subjektive Selbstbewusstsein zurückführende Kant’sche Verallgemeinerbarkeitskriterium nicht mehr im Zentrum. Entscheidend ist vielmehr der Anspruch auf jedes einzelne Individuum von der Gemeinschaft, zu einer Rechtsperson (Jakobs) oder einem Bürger (Pawlik) zu werden, der die allgemeine Fähigkeit hat, sich in die Gemeinschaft zu integrieren. Doch die Mitbestimmung, welche Fähigkeiten zu beanspruchen sind, steht dem Einzelnen nicht zur Disposition. Durch diese Skizze kann darauf hingewiesen werden, dass, obwohl die Errungenschaft aus der Bewusstseinsphilosophie geteilt wird, jene beiden Schulen sich wegen verschiedenen Basisgedanken zum Freiheitbegriff im Recht voneinander unterscheiden.

Im Rahmen der geläufigen verfassungsrechtlich-generalpräventiven Meinung wäre eine Straftat, darunter eine Versuchstat, als ein Normwiderspruch verstanden, der die Normgeltung beschädigen und schwächen würde. Auf dieser Grundannahme gegründet, würde die Eindruckstheorie beim Versuchsunrecht besagen, dass der Normwiderspruch zugleich einen dadurch erschütternden Eindruck für die Rechtsgemeinschaft herbeiführen würde. Die Normgeltung wäre danach in Zweifel gezogen. Das Befolgungsbewusstsein der Allgemeinen wäre beeinträchtigt, falls keine Strafe als eine angemessene Reaktion durchzusetzen wäre.25

Mittels der Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit den erwähnten drei Gruppen von Strafrechttheorien sowie durch ihre Anwendungen auf ←16 | 17→das Verständnis und die Auslegung des Versuchs könnten der Gedankengang und die Eigenschaft dieser Arbeit hervorgehoben werden. Ausgehend von der Grundidee des nachmetaphysischen Denkens in dieser Untersuchung gerät zunächst die Basis der Bewusstseinsphilosophie in Zweifel.26 Mehr oder weniger wird die Überzeugungskraft der Begründung bewusstseinsphilosophischer Art und Weise entkräftet, sei es eine auf dem im Bewusstsein bestehenden Faktum der Vernunft beruhende Begründung (Kant, Fichte), sei es eine der Logik der Bewusstseinsentwicklung entsprechende Darstellung (Hegel). Darüber hinaus hat eine „kommunikative“ Leseart der Strafrechtslehre, die sich nur an der Luhmann’schen Systemtheorie orientiert, übersehen, dass Kommunikationen für die Gesellschaft entscheidend sind – nicht nur deshalb, weil durch das Kontinuum der Kommunikationen ihre Stabilität gehalten werden könnte. Das durch Kommunikationen (möglich) erzeugende intersubjektive Einverständnis spielt vielmehr eine bedeutungsvolle Rolle. Für die geläufige Lehre, der die generalpräventive und normgeltungsstabilisierende Funktion der Strafe zugrunde liegt, lässt sich grundsätzlich dieselbe Problematik geltend machen. Zielte das Strafrecht auf eine andauernd gesellschaftliche Stabilität ab,27 wären Argumentationen jenseits von Luhmann’schem Funktionalismus und zweckrationaler Theoriebildung unverzichtbar. Nach den oben beschriebenen Einwänden gegen die Grundlagen wären alle drei Ansätze über das Versuchsunrecht nicht mehr völlig plausibel.

In diesem Stadium sind der Ausgangpunkt und die Kerngedanken dieser Arbeit deutlich zu machen: eine allgemeine, jenseits Funktionalismus und Zweckrationalität begründete, aber gleichzeitig nichtbewusstseinsphilosophische Auffassung des Strafrechts. Nicht im Selbstbewusstsein, sondern im notwendig vorausgesetzt universalpragmatischen Rahmen im alltäglichen Leben, ohne den die einverständnisorientierte Kommunikation unmöglich ist, versteckt sich die Allgemeinheit.28 Auf diese Weise könnte die hier vertretene Ansicht besondere Überzeugungskraft gewinnen in dieser komplexen modernen Welt und dadurch die zweckrationalen und funktionalistischen Behauptungen über ←17 | 18→die Handlungskoordination ersetzen. Das Strafrecht im Ganzen versteht sich nicht bloß als ein Mittel, um ein kontingentes Ziel zu erreichen, sondern auch als ein Ergebnis aus der rechtlichen Diskursprozedur heraus. Daher lässt es sich als legitim ansehen. So wäre – noch weiterzuentwickeln – eine Handlung auf der strafrechtlichen Ebene insofern unerlaubt, als der Täter in einem strafrechtlichen Diskurs notfalls keine guten Gründe dafür geben könnte, dass seine Tat als eine intersubjektiv richtige, Verhältnisse herstellende akzeptiert werden könnte. Wie ist eine auf dieses diskursive Strafrechtsverständnis gegründete Eindruckstheorie der Versuchslehre möglich? Das ist die Hauptaufgabe der vorliegenden Arbeit.

Um die Aufgabe zu erfüllen, ist diese Untersuchung in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil werden die ersteren zwei der drei Gruppen von Versuchslehren in allen Einzelheiten kritisch untersucht, damit erhellt werden kann, inwiefern sie aufschlussreich für die folgende Rekonstruktion sind und welches theoretische Defizit zu vermeiden ist. Der zweite Teil bezieht sich auf die theoretische Grundlage der hierfür als Anhaltspunkt funktionierenden, diskursiven Rechtstheorie. Im dritten Teil dieser Arbeit wird zunächst eine ausführliche Analyse der Eindruckstheorie verschiedener Varianten vorgenommen. Damit werden ihre Grundannahmen, zusätzlich ihre argumentativen Defizite enthüllt. Danach werden die hier zu entwickelnde, diskursive Unrechtstheorie und die darauf gegründete Eindruckstheorie des Versuchs in den Vordergrund gerückt. Schließlich werden die Fragen erörtert, wie wesentliche dogmatische Probleme auf ihrer Basis zu lösen sind.


1 Zur Problematik beim Versuch im Allgemeinen vgl. vor allem Kindhäuser, AT, 8. Aufl., 30 / 1 ff.; Jakobs, AT, 2. Aufl., 25 / 1 ff.,; Roxin, AT II, 29 / 1 ff.; NK - Zaczyk, 5. Aufl., § 22 Rn. 1 ff.

2 Dies bedeutet freilich nicht, dass eine notwendige detaillierte Analyse der Auffassungen keinen Sinn hat. Die ausgeübte Kritik gilt nur für eine Behandlungsweise, mit der eine wissenschaftliche Monografie für nichts anderes gehalten würde als für ein angereichtes Lehrbuch oder ein hilfreiches Kommentar.

3 Jüngst siehe zum Beispiel Wachter, Das Unrecht der versuchten Tat, S. 7 ff.; Grupp, Das Verhältnis von Unrechtsbegründung und Unrechtsaufhebung bei der versuchten Tat, S. 91 ff.

4 Die Entwicklung der Theorie der objektiven Zurechnung vgl. insbesondere Roxin, AT I, 4. Aufl., 11 / 1 ff. Neuerdings Hübner, Die Entwicklung der objektiven Zurechnung.

5 Eine recht repräsentative Aussage von Spendel (Zur Neubegründung der objektiven Versuchstheorie, FS - Stock, S. 94) in den 1960er Jahren hat damals bereits ein Indiz dafür geboten: „Wie der Subjektivismus nicht das objektive Moment völlig eliminieren kann und vor den letzten Konsequenzen zurückschreckt, so darf der Objektivismus nicht den subjektiven Faktor ignorieren und muß sich vor doktrinärer Einseitigkeit hüten.“ Natürlich hat dies auch mit dem Wortlaut des geltenden Rechts zu tun, aber wenn man die Literatur näher betrachtet, liegt die Schlussfolgerung auf der Hand, dass weder rein subjektive noch rein objektive Versuchslehren durch überzeugende Argumente gestützt werden. Diese Tendenz wird auch in den folgend zur Diskussion stehenden Abhandlungen zum Ausdruck gebracht.

6 Wolff, Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen, in: Hassemer (Hrsg.), Strafrechtspolitik, S. 137 ff.; ders., Das neuere Verständnis von Generalprävention und seine Tauglichkeit für eine Antwort auf Kriminalität, ZStW 97 (1985), S. 786 ff.

7 Köhler, AT, S. 9 ff.; ders., Bewußte Fahrlässigkeit.

8 Kahlo, Die Handlungsform der Unterlassung als Kriminaldelikt.

9 Vgl. beispielerweise Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, 4. Aufl., S. 344 ff.; ders,, Motive nachmetaphysischen Denkens, in: ders., Nachmetaphysisches Denken, S. 21, 38 usw.

10 Neben Günther Jakobs selbst ist auch Michael Pawlik zu erwähnen.

Details

Seiten
224
Jahr
2023
ISBN (PDF)
9783631901144
ISBN (ePUB)
9783631901151
ISBN (Hardcover)
9783631860779
DOI
10.3726/b20768
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (März)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2023. 224 S.

Biographische Angaben

Bei-Shen Lin (Autor:in)

Bei-Shen Lin studierte Rechtswissenschaft an der National Taiwan University (Bachelor of Laws, 2008-2012; Master of Laws, 2012–2016). Anschließend absolvierte er ein durch den Deutschen Akademischen Austauschdienst gefördertes Promotionsstudium am Fachbereich Rechtswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main, das er im Mai 2021 mit der Verleihung des Doktortitels abschloss. Derzeit ist er Assistant Professor an der Fu-Jen University in Taiwan.

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