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Macht und Ohnmacht

Hohe Polizei und lokale Herrschaftspraxis im Königreich Westphalen (1807-1813)

von Maike Bartsch (Autor:in)
©2023 Dissertation 776 Seiten

Zusammenfassung

Die Existenz einer politischen, teilweise im Geheimen agierenden Polizei war in nachträglichen Bewertungen des napoleonischen „Modellstaats“ auf deutschem Boden für ehemalige Untertanen besonders relevant. Von der Forschung wurde zwar bisher die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit der französischen Politik im Satellitenstaat ausgiebig bedacht, nicht aber die Rolle der staatlichen Polizei. Bei der vorliegenden Studie stehen die Akteure im napoleonisch regierten, aber selbstverwalteten Königreich Westphalen im Fokus – und damit das Aufeinandertreffen der Untertanen und Machtvollzieher im lokalen Raum. Zwang und Eigeninteresse, soziale Hintergründe, nationale Zugehörigkeit und Geschlecht prägten die Herrschaftsverhältnisse und Herrschaftspraktiken und deren emotionale Aufladung.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • I Einleitung
  • 1. Thema und Fragestellungen
  • 2. Herrschaft vor Ort: Macht, Emotionen, Alltag
  • 3. Forschungsstand
  • 4. Quellen
  • 5. Begrifflichkeiten
  • 6. Gliederung
  • II Die Polizeibehörde: Aufbau, Strukturen, Veränderungen
  • 1. Die Institutionen der Polizei zu Beginn der Regierungszeit
  • 1. Polizeileutnant und Polizeipräfektur
  • 2. Militärische Unterstützung
  • 3. Polizei und Justiz
  • 2. Die Polizei unter Bercagny (September 1808–Oktober 1809)
  • 1. Die Einrichtung einer hohen Polizei
  • 2. Prägungen der Generaldirektion durch Bercagny und die Prämissen der Regierung
  • 3. Machtverlust und Absetzung Bercagnys
  • 3. Die Polizei unter Siméon (Oktober 1809–April 1811)
  • 1. „Une bonne Police […] n’inquiète point les Citoyens“. Die Richtlinien unter Siméon
  • 2. Reduzierung von Kontrolle und Überwachung
  • 3. Das Jahr 1810 als Wendepunkt
  • 4. Die Polizei unter Bongars (April 1811–1813)
  • 1. Die Wiedereinführung einer zentral gesteuerten hohen Polizei
  • 2. „Stets aufgeregtes Mißtrauen und Furcht vor Empörung“. Die Stimmung der Bevölkerung und Ängste der Regenten
  • 3. Regulierung und Lenkung durch die Staatsleitung
  • III Der offizielle Sektor der hohen Polizei
  • 1. Die Akteure: Kommissare und Generalkommissare
  • 1. Visualisierte Staatsmacht
  • 2. Ausbildung und Berufserfahrung
  • 3. Persönliche Eignung für den Polizeidienst: Die Bewerbung des Tuchfabrikanten Schüssler
  • 4. Nationalität, Alter, Äußeres
  • 5. Attraktivität der Kommissarstellen
  • 6. Kontrolle, Zurechtweisungen, Strafen
  • 7. Vertrauen und Misstrauen in der Verflechtung mit der lokalen Gemeinschaft: Das Fallbeispiel des Kommissars Mertens
  • 8. „Nicht allein als Beamter, sondern auch als Mensch gerechtfertigt“. Persönliche Ausfüllung des Amtes, Entscheidungsmacht und nachträgliche Deutungsmuster
  • 9. Frontenbildung vor Ort
  • 2. Techniken, Methoden und Vorgehen
  • 1. Die hohe Polizei als Wissensgenerator: Systematische Datenerfassung
  • 2. „Remonter à la source“. Die Verfolgung von Gerüchten
  • 3. Nutzung bestehender Netzwerke: Das Beispiel der Freimaurer
  • 3. Die hohe Polizei und Interaktion: Der staatliche Umgang mit Denunziationen
  • 1. Denunziation als alltäglicher Akt
  • 2. Ein Fallbeispiel: Die Denunziation Friedrich Murhards gegen Ludwig Völkel
  • 3. „Nicht Patriotismus, nicht Rechtlichkeit, nicht innere Überzeugung“. Der Umgang mit persönlich motivierter Denunziation
  • IV „Der ungeheure Giftbaum der französischen geheimen Polizei“. Verzweigungen mit anderen Behörden.
  • 1. Beamte und Administratoren als Akteure der Polizei
  • 1. Das Netzwerk der Verwaltung
  • 2. Verordnungen und Aufgabenbeschreibungen
  • 3. Sicherheitsrelevante Tätigkeiten und Stellenwert der Verwalter für die Polizei
  • 2. Überschneidungen in den Zuständigkeitsbereichen
  • 1. „Verwirrung der Grentzen“
  • 2. Konkurrenz und Konflikte
  • 3. Vorteile und Nachteile der unklaren Zuständigkeitsgrenzen
  • 3. Verschleierung in den Zuständigkeiten
  • 1. Die Akteure selbst verkennen die Systematik der Zusammenarbeit
  • 2. Momente der Transparenz
  • 4. Einbindung in das Kontrollsystem: Überwachung der lokalen Staatsvertreter
  • 1. Anleitung und Kontrolle
  • 2. Überwachung und Druck von oben
  • 5. Zwischen den Fronten: Die Mittlerrolle der Verwalter zwischen den Machthabern und der Bevölkerung
  • 1. Erwartungshaltungen von unten
  • 2. Engagement für den Staat und Machtbewusstsein
  • 3. Antriebskräfte der Verwalter vor Ort
  • 6. Der Maire als „König im Kleinen“: Macht, Eigensinn und Machtmissbrauch
  • 1. Entscheidungsbefugnisse vor Ort
  • 2. „Einheit der Absicht“: Das Ein-Mann-System
  • 3. „Gewissenhafte Berufstreue“: Das Fallbeispiel des Maires Wiesand
  • V Der geheime Sektor
  • 1. „Knechte und Mägde, Marqueure und Perückenmacher“. Berufsprofil und Sozialstatus
  • 1. Patentabhängige Berufe
  • 2. Berufsfelder mit vielversprechendem Kundenkontakt
  • 3. Netzwerke und Berufsfelder im öffentlichen und privaten Raum
  • 2. Gehalt und Lohn
  • 1. Agenten als Geringverdiener
  • 2. Höherklassige Agenten
  • 3. Zahlungsmodalitäten
  • 4. Probleme mit finanziell abhängigen Agenten
  • 5. Bringschuld
  • 6. Der geheimpolizeiliche Dienst als Durchgangsstation
  • 3. Auswahl und Rekrutierung
  • 1. Aktives Anwerben
  • 2. Rückgriff auf kooperationswillige Untertanen
  • 3. Abhängigkeiten vom System
  • 4. Raffinesse vor moralischer Unbescholtenheit
  • 5. Anwerbung als mühsames Geschäft
  • 6. Nationalität der Agenten
  • 4. Ein „Heer von heimlichen Anklägern“? Die Größenordnung des geheimen Sektors
  • 1. Permanente Vergrößerung
  • 2. Anwerbestopp: Die hohe Polizei unter der Leitung Siméons
  • 3. Versuch einer Quantifizierung der Agentenzahlen
  • 5. Frauen und die hohe Polizei
  • 1. Frauen als Staatsfeinde
  • 2. Geheimagentinnen
  • 3. Frauen als Opfer des Polizeisystems
  • 6. Die Geheimhaltung des inoffiziellen Polizeisektors
  • 1. „Sich selbst einen Diener der G. P.“ nennen: Agenten verraten sich mutwillig
  • 2. Geheimhaltungsinteressen der Agenten
  • 3. Geheimpolizei oder demonstrativer Machtapparat? Der Umgang des Staates mit dem inoffiziellen Polizeisektor
  • VI Schlussbetrachtung
  • 1. Erfolg und Misserfolg
  • 2. Drohmacht
  • 3. Akteure
  • 4. Modellstaat
  • Anhang
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Quellen- und Literaturverzeichnis
  • Ungedruckte Quellen
  • Gedruckte Quellen
  • Periodika
  • Literatur
  • Personen-Glossar
  • Ortsregister

←12 | 13→

I Einleitung

1. Thema und Fragestellungen

„La Westphalie ouverte de tous côtés, en contact avec l’Angleterre, en observation avec les souverains qu’elle a dépouillés […], composée de peuples divers, qui ne sont d’accord que sur un seul point, celui d’une haine concentrée aux Français, à leurs institutions et à leur Dynastie, la Westphalie est par toutes ces raisons, le paїs ou l’on peut le moins se passer de haute Police.“1

Diese Einschätzung findet sich in einer Denkschrift, die ausführlich und detailreich den Zustand des Königreichs Westphalen im November 1810 schildert. Die Gefahren, die hier angesprochen werden, waren alle real und fraglos ernst zu nehmen. Das von Napoleon im Anschluss an den Frieden von Tilsit aus vielen Einzelterritorien zusammengefügte neue Staatsgebilde grenzte in der Tat an diverse große und kleine Nachbarstaaten und verfügte im besagten Zeitraum sogar über Zugänge zum Meer. Zu Beginn des Jahres 1810 waren die Gebiete des ehemaligen „Kurhannovers“ zum Königreich hinzugekommen, dessen über fast zwei Jahrhunderte bestehende Personalunion zum großbritannischen Königshaus einen direkten Kontakt zu Napoleons Erzfeind mit sich brachte. Auch die Interessen der nach den Verträgen von Tilsit abgesetzten oder zumindest in ihrer Einflusssphäre erheblich beschränkten Landesherren der Vorgängerstaaten, nämlich insbesondere die Regenten des Kurfürstentums Hessen-Kassel, des Herzogtums Braunschweig-Wolfenbüttel, Preußens und der Fürstbistümer Hildesheim, Paderborn und Osnabrück,2 stellten zweifelsohne eine Gefährdung für die neue Ordnung dar. Selbst mit ←13 | 14→der Loyalität der Untertanen des Kunststaates, die Kaiser Napoleon aus der Unterjochung feudaler Strukturen hatte befreien und mit den Errungenschaften der Französischen Revolution hatte beglücken wollen, schien drei Jahre nach Staatsgründung nicht mehr unbedingt zu rechnen zu sein. Eine strenge, für die Aufrechterhaltung der Ordnung sorgende und Gefahren abwehrende Staatspolizei schien von diesem Blickwinkel aus in dem traditionslosen, von fremden Herrschern mit militärischer Macht begründeten Königreich Westphalen also unerlässlich.

Drei Jahre zuvor hatte der französische Kaiser das Wohlwollen der westphälischen „Citoyens“ nicht mit Druck und Überwachung erzwingen, sondern durch Überzeugung gewinnen wollen. Jérôme Bonaparte, der zum König des neugeschaffenen Staates gekürte jüngste Bruder Napoleons, hatte am 15. November 1807 die Verfassung seines Königreichs überbracht bekommen und war über ein zusätzliches persönliches Schreiben des Bruders in dessen grundsätzliche Ideen und Absichten eingeweiht worden. Ihm liege viel am Glück der neuen Untertanen, hatte der mächtige Herrscher mitgeteilt, nicht nur, um den Ruhm der Dynastie zu vergrößern, sondern um das europäische Staatensystem zu sichern.3

Die Zementierung der französischen Hegemonialstellung gegenüber anderen Großmächten wie dem soeben erst vernichtend geschlagenen Preußen und dessen Nachbarstaat Russland gehörte offenkundig zu den übergeordneten Interessen bei der Gründung des Königreichs Westphalen, das letztlich als Schutzwall zwischen Frankreich und dem östlichen Europa dienen sollte.4 Über die räumliche ←14 | 15→Komponente hinaus sollte eine Politik der „moralischen Eroberung“ einen Beitrag zur Sicherung der napoleonischen Vormacht auf dem europäischen Kontinent leisten. Das Königreich Westphalen war zum Modellstaat bestimmt,5 dessen liberale, moderne Verfassung auf die eigene Bevölkerung wirken und über diesen Weg auch die Nachbarländer von der Attraktivität napoleonischer Herrschaft überzeugen sollte. In seinem Brief hatte Napoleon dem Bruder geraten, im Einvernehmen mit den Untertanen zu regieren und ein guter, konstitutioneller König6 zu sein:

„N’écoutez point ceux qui vous disent que vos peuples, accoutumés à la servitude, recevront avec ingratitude vos bienfaits. On est plus éclairé dans le royaume de Westphalie qu’on ne voudrait vous le persuader; et votre trône ne sera véritablement fondé que sur la confiance et l’amour de la population. Ce que désirent avec impatience les peuples d’Allemagne, c’est que les individus qui ne sont point nobles et qui ont des talents aient un égal droit à votre considération et aux emplois; c’est que toute espèce de servage et de liens intermédiaires entre le souverain et la dernière classe du peuple soit entièrement abolie. […] Il faut que vos peuples jouissent d’une liberté, d’une égalité, d’un bien-être inconnus aux peuples de la Germanie, et que ce gouvernement libéral produise, d’une manière ou d’(une) autre, les changements les plus salutaires au système de la Confédération et à la puissance de votre monarchie. Cette manière de gouverner sera une barrière plus puissante, pour vous séparer de la Prusse, que l’Elbe, que les places fortes et que la protection de la France. Quel peuple voudra retourner sous le gouvernement arbitraire prussien, quand il aura goûté des bienfaits d’une administration sage et libérale ?“7

Der feste Glaube an die Wirkmacht der revolutionären Errungenschaften und das tiefe Vertrauen in ein einvernehmliches Miteinander mit den neuen Untertanen ←15 | 16→werden hier übermittelt.8 Es handelt sich nicht um bloße Legitimationsrhetorik, denn tatsächlich entstand in Folge ein „mustergültig“ moderner Staat, gespeist von den Idealen der Französischen Revolution. Zu den bahnbrechenden Neuerungen gehörten die Abschaffung der Leibeigenschaft, die bürgerliche Gleichstellung aller Untertanen, die Einführung eines Zivilgesetzbuches und des Prinzips der Gewaltenteilung, Toleranz der Religionen, Abschaffung der Zünfte und die Einführung von Gewerbefreiheit.

Dass Napoleon sich gleichwohl mit dem wortreich beschworenen „Vertrauen“ und der „Liebe“ der westphälischen Bevölkerung nicht zufrieden gab, zeigt der frühe Einsatz einer politischen Polizei, die sich um die Entdeckung äußerer und innerer Feinde gleichermaßen bemühen sollte. Nicht also erst im Laufe der Zeit und mit zunehmendem Auseinanderdriften von politischem Ideal und kriegsbedingter Wirklichkeit, zu der unter anderem enorme Konskriptionsforderungen und immer höherer Steuerdruck gehörten, empfanden die Dirigenten aus Frankreich eine mit geheimen Mitteln operierende Kontrolle der westphälischen Bevölkerung für angebracht.

Dabei scheint eine Konsensbildung zwischen Herrschern und Beherrschten anfangs durchaus möglich gewesen zu sein. Zwar bestanden in einigen der eroberten Gebieten noch große Anhänglichkeiten zu den vertriebenen Landesfürsten. Unter den Intellektuellen des neuen Staates fanden sich dagegen viele, die das Ideengut der Aufklärung mittrugen und die den aufgezwungenen Neuerungen erwartungsvoll entgegensahen. Verwaltungsbeamte, Richter und Anwälte, Professoren und Lehrer, ebenso wie das Hofpersonal wechselten mit nur wenigen Ausnahmen willig und nicht zuletzt mit gewisser Selbstverständlichkeit in die Dienste des neuen Souveräns, auch weil die vertriebenen Landesherren ihr bisheriges Personal in den meisten Fällen offiziell aller Treueeide und Verpflichtungen entbunden hatten. Zustimmung zu den „fremde[n], freie[n] Sitten“ stellte sich durchaus ein, wie ein seinerseits eher reaktionär denkender Heiligenstädter Staatsangestellter schon im August 1808 konstatierte: „Die guten Bürger fangen bereits an, alles das […] charmant zu finden.“9 Selbst die Einrichtung eines starken Polizeiapparates scheint nicht grundsätzlich verurteilt worden zu sein, denn das Bedürfnis nach Sicherheit und Ruhe war nicht unerheblich, die Angst vor revolutionären Zuständen weit verbreitet.10 Im Nachgang zur Französischen Revolution verstärkte sich in ←16 | 17→nahezu allen europäischen Staaten die Polizeiaufsicht, durchaus mit Zuspruch der Untertanen und insbesondere der höheren, um den Erhalt der Ordnung besorgten gesellschaftlichen Schichten.11 Ohnehin war die Polizei in einigen Vorgängerstaaten um die Jahrhundertwende als schlecht, rückständig und verbesserungsbedürftig beschrieben worden.12 Auch führten die Erfahrungswerte mit der napoleonisch geprägten westphälischen Polizei keineswegs dazu, dass nach 1813 die ehemals streng überwachte Bevölkerung für eine Eingrenzung der staatlichen Zugriffsmöglichkeiten plädierte.13

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Die Sattelzeit als Phase großer struktureller Veränderungen und als Kulminationspunkt von voranschreitender Ereignisgeschichte, eingebettet im langlebigen, traditionellen Rahmen, gerät hier in ihrer spezifischen Ausformung im Königreich Westphalen also über die übliche, insbesondere von Reinhard Koselleck beschriebene „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“14 im Sinne eines Zusammenspiels von Alt und Neu hinaus in ein Modell grundsätzlicher Ambivalenzen. Die machtpolitischen Interessen Frankreichs verstärkten die Rolle des Königreichs Westphalen als „Satellitenstaat“ und ließen daneben seine Funktion als Modellstaat verblassen: das „Musterkönigreich“ wurde zunehmend zum Geld- und Truppenreservoir für die napoleonische Expansionspolitik.15 Die Abschaffung der alten feudalistischen Ordnung befreite das Individuum von überkommenen Zwängen, unterwarf es aber gleichzeitig einem starken staatlichen Gewaltmonopol: Der säkulare, bürokratische Staat wirkte direkt und ohne Zwischengewalten wie Zünfte, Gutsherren oder die Kirche auf alle Lebensbereiche seiner Untertanen und hatte über seine straff zentralistische, effiziente Verwaltung Zugriff auf jeden einzelnen Bürger. Die Ausbildung moderner Staatlichkeit und der napoleonische Machtanspruch bedienten sich dabei gegenseitig.16 Das System aus einer alles erfassenden, streng hierarchisch gegliederten Verwaltung wie auch und insbesondere die hohe Polizei mit ihrem geheimen Spitzelapparat zählen damit zu den Schattenseiten von ←18 | 19→bürokratischer Effizienz und Rationalität.17 Die versprochenen bürgerlichen Rechte und Freiheiten wurden neben dem zunehmenden Polizeizugriff und ständiger geheimer Überwachung zur Farce, ganz abgesehen davon, dass zu ihrer Kehrseite auch Pflichtengleichheit gehörte.18 Gerade im Modellstaat, der mit öffentlicher Gesetzgebung, Rechtspflege und einem öffentlichen Staatshaushalt warb19 und damit Einvernehmen zwischen Herrschern und Beherrschten voraussetzte, wog das Bekanntwerden geheimer Spionage schwer. So gehört es zu den Grundannahmen der voliegenden Arbeit, dass nicht nur die wachsende Schere zwischen Ideal und Wirklichkeit das Vertrauen zwischen Obrigkeit und Untertanen außer Kraft setzte, sondern dass die sehr zeitig zum Einsatz gebrachte geheime Kontrolle und Bespitzelung die guten Absichten der neuen Regenten früh desavouierte.20 Die „Tendenz zum diktatorischen Unrechtsstaat“, die Thomas Nipperdey dem Königreich Westphalen attestierte,21 war für die meisten Zeitgenossen vermutlich spürbarer als der wohlmeinende Modellstaat. Ganz in diesem Sinne dokumentierte im Jahr 1815 Karl Venturini, engagierter Chronist und Pfarrer zu Hordorf im Distrikt Halberstadt, dass „all das wenige Gute“, das er während der westphälischen Regierungszeit beobachten konnte, „vor dem Grausen und Abscheu erregenden ←19 | 20→Gespenste der niederträchtigen geheimen Polizei“ wieder zunichte gemacht worden sei.22 Im Nachgang zu den Jahren der Regierungszeit König Jérômes in Kassel machten viele Autoren explizit darauf aufmerksam, dass es nicht allein die materiellen Lasten waren, die als bedrückend und zunehmend unerträglicher wirkten.

„Nicht der vorübergehende Druck der Einquartierung und der Kriegssteuern, nicht der Waffendienst und die gesetzwidrige Verstärkung des westfälischen Heeres für eine französische Weltherrschaft, nicht die Erschöpfung und liderliche Verschleuderung der Staatseinkünfte und Staatsdomänen war es allein, welches den deutschen Vaterlandsfreund mit bangen Besorgnissen für die Zukunft erfüllte“,

schrieb der Marburger Professor Christoph von Rommel in seinen Lebenserinnerungen.23 Zu den mental wirkenden Lasten rechnete der Gelehrte auch den „Despotismus und die geheimen Denunciationen der von inländischen und ausländischen Spionen bedienten Polizei“.24 In der Gesamtsituation, in der sich niemand in der Öffentlichkeit unbefangen zu äußern wagte, in der jeder im anderen einen Verräter sehen musste und man angeblich sogar in Familienkreisen erst die Wände darauf ansehen musste, „ob sie keine Ohren hätten“, wie aus der Rückbetrachtung der Untertan Friedrich Gottlieb Nagel aus dem Distrikt Halberstadt notierte,25 war es gerade die hohe Polizei als Verursacherin des allgemeinen Misstrauens und der allumfassenden Stimmung von Unsicherheit und permanenter Bedrohung, die Hass und Verachtung auf sich zog.26 Die „furchtbare geheime ←20 | 21→Polizei“27 hatte offenbar auf der Liste der empfundenen Bedrückungen einen oberen Platz eingenommen. Bedeutung und Wirkmächtigkeit der Behörde stritten die meisten Zeitgenossen daher nicht ab. Im Anschluss an die militärischen Niederlagen Napoleons, den Einzug der Russen in Kassel und den Untergang des Modellstaates schoben die bisherigen westphälischen Untertanen es auch auf „die bleierne Furcht vor der höllischen, geheimen Polizei“, dass es nicht schon früher und ohne militärische Hilfe von außen zu einer großen Bewegung der Massen und Umstürzen gekommen war.28

Die angeblich „alles erspähende Polizei“29 muss aber hinsichtlich ihrer realen Leistungen und Erfolge näher untersucht werden. Mit ihrem weitverzweigten, gut vernetzten Apparat, der mit einem erheblichen Kostenaufwand einhergegangen sein muss, war sie einerseits dem Anschein nach omnipräsent, allwissend und absolut prägend für jedes noch so alltägliche Geschehen. Andererseits scheint sie aber oft auch „ohnmächtig“ gewesen zu sein und auf Willkürhandlungen angewiesen, wenn sich mit rechtsstaatlichen Mitteln die gewünschte Ordnung nicht herstellen ließ.30 Die Frage ist also, inwieweit tatsächlich soziale und politische Kontrolle ←21 | 22→ausgeübt wurde und inwieweit es vorrangig um die Präsenz der Staatsmacht ging. Die hohe Polizei wäre dann stärker demonstrativer Machtapparat als geheimer Protektor des Staates gewesen. Untersucht werden müssen also Rationalität und Irrationalität in den eher fluide wirkenden, nur jeweils individuell bestimmbaren Kräfteverteilungen der hohen Polizei ebenso wie die Reaktionen der die obere Verantwortung tragenden Ministerien auf diesen Sachverhalt. Ohnmacht spielt im Kontext der hohen Polizei auch deshalb eine große Rolle, weil die eigentliche Wirkung der möglichst präventiv agierenden Behörde wenig greif- und nachweisbar ist. Misserfolge der Polizei – also jedes öffentlich werdende Gerede gegen die Staatsmacht, aber auch die Aufstände, die sich 1809 an verschiedenen Orten des Königreichs ereigneten – waren dagegen sichtbar und wurden den Kontrollinstanzen unumgänglich angelastet.

Neben den Strukturen und Hierarchien der Polizeibehörde und deren mehrfachen Umgestaltungen im Verlauf der sechsjährigen westphälischen Herrschaft sollen auch die offiziellen und inoffiziellen Akteure des Apparates beleuchtet werden. Gesellschaftliche Stellung und soziale Herkunft interessieren hier ebenso wie die Motivationen für den Dienst am französischen Kontrollsystem. Dort, wo es die Quellen zulassen, soll der Anteil von Zwang und Eigenantrieb ermittelt werden.

Dass auch niedere Funktionsträger im Königreich Westphalen Entscheidungsmacht hatten, gilt es nachzuweisen. Im Rahmen eines Kommunikationsprozesses unter Ungleichen stellten die lokalen Amtmänner Informationen zur Verfügung, durch die die napoleonische Regierungsmaschinerie erst handlungsfähig wurde. Das betraf Informationen für die Besteuerung und die Einziehung kriegsrelevanter Abgaben ebenso wie die Preisgabe von personenbezogenen Daten, die eine flächendeckende, kontrollierte Einberufung armeetauglicher Männer ermöglichte und die Aufsichtsbehörden über staatsfeindliches Geschehen vor Ort in Kenntnis setzte. Inwiefern hier tatsächlich ein regelrechtes „Aushandeln von Herrschaft“31 ←22 | 23→zu beobachten ist und wie stark lokale Verwalter in diesem Sinne zu Teilhabern an den von Frankreich ausgehenden Machtstrukturen wurden, soll im Rahmen dieser Arbeit untersucht werden.

2. Herrschaft vor Ort: Macht, Emotionen, Alltag

Die schon seit Längerem diskutierte Forschungsfrage nach der Spannung zwischen Polizei- und Modellstaat soll in der vorliegenden Arbeit aus neuer Perspektive beleuchtet werden.32 Von besonderem Interesse ist hier die „Übersetzung“ der von oben diktierten Machtansprüche vor Ort, die die Polizei in ihrer Funktion als „Definitionselement staatlicher Herrschaft“33 ausübte. Das Funktionieren des innerstaatlichen Gewaltmonopols soll dabei einerseits in seinen behördeninternen ←23 | 24→Strukturen untersucht werden, andererseits geht es um das Interaktionsverhältnis zwischen Herrschenden, Herrschaftsvertretern und -übersetzern und Beherrschten. Dabei gilt es zu hinterfragen, wo es den französischen Machthabern gelang, mittels Bürokratisierung und Rationalisierung Handlungsabläufe zu straffen, zu uniformieren und zu „entmenschlichen“, und wo im Gegenteil die Kontrollmöglichkeiten der Staatsleitung versagten und das Machtgefüge sich insofern umkehrte, als die Regenten auf das Wissen im lokalen Bereich angewiesen waren und damit vom sozialen Gefüge vor Ort abhingen. Es liegt daher zweifelsohne ein soziales Kräftefeld vor, dessen Strukturen auch noch auf den unteren Akteursrängen verhandelbar waren.34 „Herrschaft als soziale Praxis“ ist hier also die analytische Kategorie, mit der das Aufeinandertreffen von vermeintlich allmächtigen „Besatzern“, mehr noch aber von deren willigen Helfern und den als beobachtungswürdig eingestuften Untertanen untersucht werden soll. Herrschaftsstrukturen verlaufen in diesem Zusammenhang nicht eindimensional, sondern unterliegen vielseitigen Impulsen der unteren Hierarchieebenen.

Michel Foucaults Machtanalyse ist in ihren Kernthesen dabei ein willkommener Deutungsrahmen. Seine Überlegungen zu der Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen und komplizierten Machtbeziehungen, die nicht mehr eingleisig zwischen Souverän und Volk verlaufen und sich vielmehr gegenseitig in komplexen sozialen Netzwerken bedienen, sind auf die empirischen Befunde aus den königlich-westphälischen Zeiten anwendbar. Ebenso zielgenau passt Foucaults Zusammendenken von Wissen und Macht auf die napoleonischen Verhältnisse:35 Die von der Polizeiapparatur generierten Informationen zu allen Untertanen und die systematische Dokumentation und Zusammenführung derselben trug hier erheblich zu der staatlichen Verfügungsgewalt über das Individuum bei und schuf neue, systematische Überwachungsstrukturen. Die Leitideen dieser Arbeit werden also in Kenntnis und mit Rückbesinnung auf diese Konzepte ausgetragen. Letztlich hat es sich für das empirische Interesse der vorliegenden Studie aber nicht als reizvoll erwiesen, Foucaults Machttheorien als enge analytische Schablone zu nutzen.36

←24 | 25→

Die Arbeit versucht einesteils, die großen Strukturen des Überwachungsapparates zu ergründen, gerade auch in Bezug auf die Vorgaben, Bedingungen und Prämissen aus Frankreich. Dagegen ist die Analyse der Interaktionen im Alltag zwischen Polizei und „Polizierten“37 zwangsläufig mikrohistorisch angelegt. Sie hinterfragt das kleinteilige lokale Geflecht von Herrschaft und Selbstbehauptung und legt den Fokus dabei insbesondere auf die lokalen Amtsträger als Repräsentanten der („Fremd-“) Herrschaft und als Mittelsmänner zwischen Bevölkerung und Obrigkeit.

Die Tatsache, dass auf lokaler Ebene keine französischen Funktionäre, sondern örtlich verankerte Personen eingesetzt wurden, begründet die besondere Brisanz im Aufeinandertreffen von staatlichen Akteuren und dem beaufsichtigten und kontrollierten Individuum. Die in den Polizeistand erhobenen Mitglieder der lokalen Gemeinschaft operierten nicht im luftleeren Raum, sondern auf der Basis ihrer ganz eigenen Vergangenheit und Zugehörigkeit. Insbesondere dann, wenn durch die neue Machtposition alte Familienzwiste, politische Streitereien und andere zwischenmenschliche Zusammenstöße neu ausgetragen werden konnten, mussten die französischen Machthaber dem „Eigensinn“ ihrer lokalen Angestellten unumgänglich Rechnung tragen.38 Die Studie zur politischen Polizei im Königreich Westphalen muss also konsequenterweise gewichten, ob die Akteure der unteren und mittleren Hierarchieebenen der Kontrollbehörde ernst zu nehmende Mittler waren zwischen Regierung und ohnmächtigem Volk oder bloße Sachwalter von Herrschaft. Hinterfragt werden soll daher, welche gesellschaftlichen Prozesse in Gang kamen, wenn sich Untertanen und Machtvollzieher von Angesicht zu Angesicht begegneten. Im lokalen Kontext ging es offenbar nicht nur um die Durchsetzung von Vorschriften, sondern um Netzwerke und Beziehungen und auch um die emotionale Aufladung von Herrschaftsverhältnissen.39 Ein distanzbewusstes ←25 | 26→Aushandeln40 von Herrschaft durch die Staatsvertreter der verschiedenen Hierarchieebenen gemäß den reinen, nüchternen Anweisungen von oben scheint weit weniger gewährleistet gewesen zu sein, als die Regenten es sich wünschten. Inwieweit der von Max Weber in seinen Grundmustern und besonderen Merkmalen dargestellte bürokratisierte moderne Staat41 in diesem frühen Stadium und in der spezifischen Ausformung des Königreichs Westphalen also als durchrationalisiert im Sinne von „entmenschlicht“ verstanden werden kann, gehört zu den kritischen Fragestellungen dieser Arbeit. Untersucht werden muss auch, ob die Machthaber und ihre Repräsentanten von vornherein Emotionen einkalkulierten und nutzten, beispielsweise, indem sie das Drohpotenzial der geheimen – oder eben nur vermeintlich geheimen – Polizei ausreizten. Hintergrund dieser Frage ist die vom französischen Polizeichef Joseph Fouché nachträglich veröffentlichte Erklärung, er habe seine Behörde stärker als ein Imperium aus Vorstellungen und Befürchtungen geleitet, als über dichte Kontrolle und Zwang.42 Bei der Deutung ←26 | 27→des Verhältnisses zwischen den Vertretern der Staatsmacht und der Bevölkerung soll daher auch die Wirkmächtigkeit von Gefühlen einbezogen werden, handelt es sich hier doch offenkundig um einen wichtigen Aspekt der Herrschaftspraxis.43 Emotionen wie Empörung, Stolz, Ehrgefühl, Hass, Neid, Empathie und Solidarität, die sich vielfältig in den Quellen niederschlugen, spielten eine nicht zu unterschätzende Rolle in den Deutungsmustern der „Polizierten“ und führten ihrerseits zu sozialer Dynamik, Gegenwehr und dem Zusammenfinden realer oder ideeller (Leidens-)Gemeinschaften.44 Gerade auch in den kurz nach 1813 verfassten Schriften über die hohe Polizei des Königreichs wird die immense Bedeutung dieser „gefühlten“ Ebene deutlich. Beispielhaft genannt sei hier ein „Beytrag zur Charakteristik der geheimen Polizey“ des Pfarrers Karl Christian von Gehren, der seine während des westphälischen Königreichs „erlittene dreimalige Verhaftung und Exportation“ für ein größeres Publikum beschreibt. Gleich auf den ersten Seiten macht von Gehren deutlich, dass es ihm nicht allein um eine „trockene Erzählung des bloß Geschichtlichen“ geht, sondern darum, die Leser zu „Theilnehmern der verschiedenen Gefühle zu machen“, die er selbst erleiden musste.45 Ziel dieses „Opfers“ ←27 | 28→der hohen Polizei war es zu zeigen, wie „lieblos“ und vor allem „ungerecht“ mit ihm verfahren wurde.46 Von der tief empfundenen Demütigung und der Bedeutung der Gefühlsebene im Zusammenhang mit der politischen Verfolgung zeugen auch die mit rhetorischem Bedacht gewählten Titel einiger Kapitel in von Gehrens Abhandlung: „Stunden der Freude und des tiefsten Schmerzes in Marburg“, „Finstere Gemüthsstimmung. Unerwartete Aufheiterung“, „Krankheit des Leibes und des Gemüthes“.

Vor allem die Wechselwirkungen der Emotionen gilt es in diesem Zusammenhang in den Blick zu nehmen: Auf der einen Seite, der Seite von der Regierung und ihrer Vertreter, standen Furcht vor Ungehorsam und Aufständen, Misstrauen in die Untertanen und das Bemühen, Angst und Unsicherheit zu erzeugen, um Kontrolle zu legitimieren. Auf der Seite der Bevölkerung standen tatsächlich Angst vor der Obrigkeit, Argwohn gegenüber dem eigenen Umfeld, dem man im Wissen um omnipräsente Spitzelnetzwerke nicht mehr vertrauen konnte und zunehmend wohl Hass und Abscheu auf die Beamten und ein generelles Gefühl der Unsicherheit, das sich mit wachsenden Repressionen verschärfte. Letztlich gesellte sich dazu noch die Erniedrigung aus der Erkenntnis, von Landsleuten, Mitbürgern, Kollegen, Nachbarn oder sogar Familienmitgliedern47 abgehört, verfolgt, verraten und der „fremden“ Staatsmacht ausgeliefert worden zu sein. Dabei scheint die Gefühlsebene durchaus nicht nur Teil interessengeleiteter Rhetorik, sondern Basis nachhaltiger politischer Prägung und Handlung gewesen zu sein.

Zweifelsohne ist es jedoch Aufgabe der Analyse, die in Sprache gefassten Gefühle48 aus den bewussten Selbstzeugnissen wie Rechtfertigungs- und Anklageschriften ebenso wie aus eher unfreiwillig der Nachwelt überlieferten leiblichen und emotionalen Zustandsbekundungen aus den Polizeikorrespondenzen zu dekodieren: Die individuelle Erwartungshaltung des angesprochenen Gegenübers, soziale Konventionen49 und zielorientierte Platzierung von Emotionen – etwa die tiefe Betrübtheit über geschehenes Unrecht in Rechtfertigungsschreiben – gilt es zu bedenken.

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Obgleich sie zu der Kategorie scheinbar sachlicher, nüchterner Verwaltungspapiere gehören, erlauben die Polizeiakten beachtliche Einblicke in die „Gefühlswelten“ von Opfern der hohen Polizei ebenso wie von ausführenden Agenten. Dazu zählen zum Beispiel die durchaus entschlüsselbaren Ängste der „Franzosenfreunde“ vor Rache im alltäglichen Geschehen – etwa im Fall des zu Schmalkalden tätigen Polizeikommissars Mertens, der es im Bewusstsein sehr realer Feindschaften vor Ort und aus Angst vor einem „Assassinat“ bald nicht mehr wagte, seine regelmäßigen Nachtpatrouillen allein auszuüben50 – oder vor allgemeiner Verfolgung nach der politischen Wende51 und dem Verlust von Ehre und gesellschaftlicher Anerkennung.52 Die Rolle von Emotionen, ebenso wie das Menschliche, Individuelle und Persönliche im vermeintlich rationalen Verwaltungshandeln werden hier greifbar.

Auch jenseits des gesellschaftlichen Zusammenspiels im lokalen Raum sind Gefühle für die Thematik der Arbeit prägend, gehörte es doch schon zu den wichtigsten Aufgaben der westphälischen hohen Polizei selbst, politische Haltung, Gemütsverfassung und Stimmung der Untertanen zu erforschen. Die Polizeioffizianten genau so wie die von ihnen kontrollierte Bevölkerung waren sich der Bedeutung großer „Gefühlsstürme“ ihrer Epoche sehr bewusst53 und machten sie intendiert zum Thema. Viele spätere Interpreten der Stimmungslage im Königreich Westphalen wollten eine hochgekochte Atmosphäre, wütende Rachegefühle und aus anhaltender Unterdrückung entstandene Revolutionslust als hervorstechend definieren. Dass aber wirklich „alle Gefühle vaterländischer Gesinnung aufs Kräftigste und Nachhaltigste in allen Kreisen aufgeregt“ gewesen wären,54 lässt sich ←29 | 30→auf der Basis der zwischen 1807 und 1813/14 entstandenen Schriftstücke so nicht bestätigen. Im Gegenteil dokumentierten Zeitgenossen Verunsicherungen durch die alles umwälzenden Bewegungen in der Welt und vor Ort, Sorge vor Krieg und wirtschaftlichem Niedergang und nicht zuletzt ein träges Abwarten und Kriegsmüdigkeit.55 „Unmännliche Bangigkeit, Furcht vor jedem Schmerz, jeder Gefahr, jeder Entbehrung“, die der in den Fokus der hohen Polizei geratene Helmstedter Geschichtsprofessor Gottfried Gabriel Bredow in seinem Umfeld als typisch definierte,56 kamen den Kontrollbehörden in jedem Fall zugute. Kollektive Befindlichkeiten und Gemütslagen wurden von der hohen Polizei registriert, dokumentiert und als handlungsleitendes Kriterium benutzt. In der Bändigung und Einhegung dieser Gefühle maß sich schließlich ihr Erfolg.

Für diese Arbeit war es entscheidend, möglichst umfängliches Wissen über Einzelpersonen zu generieren, um damit die in den Polizeiakten überlieferten Bruchstücke in einen Gesamtkontext einbetten zu können. Die über die staatlichen Kanäle berichteten Episoden von Aufbegehren gegen die Ordnungsmacht, von zwischenmenschlichen Zusammenstößen vor politischem Hintergrund oder auch Berichte über regimekonformes Verhalten einiger unterer Staatsdiener gegen das andersdenkende Plenum der örtlichen Gemeinde lassen sich oftmals erst verstehen und einordnen, wenn die Agierenden als Individuen beschrieben und in ihren routinierten beruflichen und privaten Lebenswelten verortet werden können. Eine ←30 | 31→alltagsgeschichtliche Perspektive ergibt sich in der Untersuchung damit gewissermaßen zwangsläufig. Untersuchungen zur Wahrnehmung alltäglicher Erfahrung und zum Erleben von Machtstrukturen und Repressionen jenseits der großen politischen Bühne begünstigen Einblicke in die Verhältnisse vor Ort, das heißt in Lebenswelten, in denen die „Innenseite“ von Machtverhältnissen, also von Machterwerb und Durchsetzung der regimeobersten Machtinteressen, sichtbar wird. Das Geschehen im begrenzten lokalen Raum ist dabei von besonderem Interesse, weil sich hier der Abstand zwischen Herrschenden und Beherrschten verringert und der Konflikt zwischen Machtverwaltern und Untergebenen „greifbar“ wird.57 Dabei muss durchaus auch der gängigen, bereits als „traditionell“ zu bezeichnenden Kritik an alltagsgeschichtlicher Perspektive Rechnung getragen werden, die allen voran Hans-Ulrich Wehler schon in den 1980er Jahren formulierte. Zwar besteht zum aktuellen Zeitpunkt wohl kaum mehr die Gefahr, das „Fähnlein“ allzu „flink in den lauen Wind der Alltagsgeschichte“58 zu hängen und damit einer Modeerscheinung aufzusitzen. Eine Gefährdung besteht gerade im weiten Themenfeld der westphälischen Polizeiakten aber tatsächlich darin, sich in der „Schilderung pittoresker Details“59 und im Anekdotischen des Einzelfalls zu verlieren. Die Sicht auf die Konstellationen „vor Ort“ und auf das alltägliche Zusammenleben von Machthabern, Machtlosen und Menschen, die sich in den Abstufungen zwischen diesen Polen einordnen lassen, bleibt jedoch unumgänglich, um das Wirkpotenzial der hohen Polizei im napoleonischen Modellstaat zu erschließen. Es wird dafür Sorge getragen, dass Makroperspektive und übergeordnete Fragestellungen auch in Detailschilderungen und Fallstudien nicht aus dem Auge verloren gehen. Die Vergrößerung des Untersuchungsmaßstabs60 und das Herauszoomen vom kleinteiligen Untersuchungsbereich des Einzelfalls auf übergreifende Verwaltungs- und Disziplinierungsideale und auf die großen Kräftefelder zwischen Herrschern und (vermeintlich) Beherrschten sind Teil der Vorgehensweise der Studie.

3. Forschungsstand

Im Rahmen des aufkommenden deutschen Nationalismus nach 1814, aber auch noch bis weit in das 20. Jahrhundert hinein galt das von Napoleon geschaffene ←31 | 32→Königreich Westphalen als Beispiel durchgängig negativ konnotierter Fremdherrschaft.61 In diesem Sinne hat sich die Historiographie lange Zeit insbesondere den repressiven Seiten der napoleonischen Politik in den Rheinbundstaaten zugewandt. Machtpolitische Phänomene und die Herrschaftssicherung der Sieger in den verschiedenen Territorien bekamen hier große Aufmerksamkeit. Anders als zu erwarten sind in diesem Zusammenhang die Polizeistrukturen der französisch dominierten Staaten jedoch kaum jemals dezidiert untersucht worden. Grund dafür war wohl einerseits die scheinbare Gewissheit, ein alles dominierendes, mit großer Personalstärke, vielen finanziellen Mitteln und unbeirrbarer Macht agierendes Polizeisystem im Großen und Ganzen bereits durchschaut zu haben, daneben aber sicherlich auch die schlechte Quellenlage. Die Polizeiakten galten als verschollen. Während vermeintliche Selbstverständlichkeiten im Wissen um die Unterdrückungsapparate Napoleons auf deutschem Boden – etwa die Dominanz französischer Spione im Netzwerk der Polizei und die enorme Zahl besoldeter Agenten – auch in der modernen wissenschaftlichen Literatur immer wieder übernommen worden sind, findet sich im Grunde keine Studie, die nach den wirklichen Strukturen der Behörden fragt oder auch nur die „empfundenen“ Wahrheiten aus Opfer- und Zeugenberichten der parteiischen und emotional voreingenommenen Zeitgenossen mit anderen Quellen abgleicht. Bezogen auf das Königreich Westphalen sind es immerhin einige Autoren, die im Rahmen kleinerer Kapitel oder Aufsätze Grundsätzliches zu den von Kassel aus operierenden Polizeiinstitutionen erarbeitet haben. Der Hannoveraner Naturwissenschaftler und Pädagoge Adolf Tellkampf, der als Jugendlicher selbst an den antinapoleonischen Befreiungskriegen teilgenommen hatte, veröffentlichte 1860 einen Beitrag über „Die französische geheime Polizei“, bei dem er sich ganz auf das Königreich Westphalen konzentrierte, weil die Institution sich dort mit „besonderem Erfolge entfaltet“ habe.62 In seiner Studie über die französische „Fremdherrschaft im Herzen Deutschlands“ widmete der Archivar Rudolf Goecke seinerseits dem westphälischen Polizeisystem einige Seiten, nachdem er Korrespondenzregister der Präfektur zu Kassel und ←32 | 33→der Generaldirektion der hohen Polizei gesichtet hatte, die noch heute im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin lagern.63 In den Jahren 1893 bis 1895 folgten Arthur Kleinschmidt64 und Friedrich Thimme,65 deren allgemeine Überblicksdarstellungen zum Königreich Westphalen – im Fall Thimmes mit regionalem Schwerpunkt – noch heute als Standardwerke zu sehen sind und in denen unter vielen anderen Themenbereichen auch die hohe Polizei eine Rolle spielte. „Neue Mittheilungen zur Geschichte der hohen und geheimen Polizei des Königreichs Westfalen“ veröffentlichte Thimme wenig später ergänzend dazu, nachdem er eine aus dem Jahr 1814 stammende Denkschrift zu der Polizeitätigkeit unter König Jérôme im Hannoveraner Archiv und Korrespondenzen des für die Departements der Aller und der Oder zuständigen Generalkommissars Guntz gefunden hatte.66 Eine wortwörtliche Wiedergabe der Denkschrift integrierte Thimme in seine Abhandlung. Der nächste Ansatz zu einer Erforschung der westphälischen Polizei erfolgte 1913 mit einem vierseitigen Beitrag des Wolfenbütteler Archivars und Historikers Paul Zimmermann, der zwar kondensiert die bisherigen Ansichten und Erkenntnisse zusammenführte, jedoch wenig neues Material und kaum neue Einsichten brachte.67 Die ältere Literatur zum Königreich Westphalen ist insgesamt stark emotionalisiert und parteiisch und spiegelt häufig sehr deutlich die jeweiligen politischen Verhältnisse in den deutsch-französischen Beziehungen im Publikationszeitraum. Aussagen über den repressiven Charakter der „Fremdherrschaft“68 sind hier daher mit Vorsicht zu behandeln.

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Seit den 1970er Jahren69 und mit neuen Akzenten besonders seit dem 200jährigen Jubiläum der westphälischen Staatsgründung in den Jahren 2007 und 2008, das Anlass für eine Vielzahl von Tagungen, Ausstellungen und neuen Publikationen war,70 sind die bis dahin weitestgehend einseitigen Darstellungen König Jérômes in Kassel als „eines bloßen Gewaltherrschers“71 ebenso wie standardisierte Schwarz-Weiß-Muster des deutsch-französischen Miteinanders aufgebrochen und ←34 | 35→neu beleuchtet worden.72 Auch wenn weitsichtige Autoren wie Arthur Kleinschmidt schon sehr viel früher darauf verwiesen hatten, dass es „bei allen Fehlern und Schatten“ im Königreich Westphalen „aber doch nicht ganz an Licht“ gefehlt habe,73 so hatte die systematische ideologische Wende in der Historiographie bis hierher auf sich warten lassen und wurde nun insofern intensiv betrieben, als jetzt gerade die kulturellen und gesellschaftlichen Gemengelagen in den Fokus rückten. Insbesondere der modernisierende Charakter des Rheinbundes fand nun Beachtung.74

Der repressive Polizeiapparat des Königreichs Westphalen dürfte in den letzten Jahrzehnten auch deshalb von der Wissenschaft vernachlässigt worden sein, weil er dem historiographischen Trend entgegen zu gehen schien und wohl keine anderen Ergebnisse erwartet wurden, als die alten Muster von einer starken französischen Besatzungsmacht und nahezu hilflos ausgelieferten Untertanen. Die Unterschlagung der politischen Polizei in den neueren, der Modernisierungsdebatte verschriebenen Auswertungen ist jedoch gerade deshalb problematisch, weil es sich hier um einen den positiven Reformen an Gewichtigkeit ebenbürtigen Anteil des Verfassungs- und Rechtsexports aus Frankreich handelt.

Gleichwohl haben sich einzelne Arbeiten mit der Polizei im Königreich Westphalen beschäftigt. Insbesondere der seit den 2010er Jahren online einsehbaren, an der Freien Universität Berlin entstandenen Magisterarbeit der französischen Historikerin Claudie Paye aus dem Jahr 1999 verdankt sich die ausführliche und sorgfältige Bündelung vieler Aussagen und Wertungen über die westphälische ←35 | 36→Polizei aus zeitgenössischen ebenso wie späteren Veröffentlichungen, des Weiteren eine gute erste Datenakquise zu bestimmten Persönlichkeiten, die der Polizei angehörten oder zuarbeiteten.75 Dem Rahmen der Arbeit entsprechend konnten hier jedoch keine Quellen der Kontrollbehörden als Korrektiv gegen die hochemotionalisierten Opferberichte und Anklageschriften gesetzt werden, so dass die Studie diese wenig kritisch hinterfragt und den komplizierten Verhältnissen zwischen Machthabern und vermeintlich Beherrschten kaum nachzuspüren vermochte.76 Bei Anika Bethans Dissertationsschrift zu den Erinnerungskulturen des Königreichs Westphalen, die der hohen Polizei ein eigenes Kapitel widmet und damit der Grundannahme der vorliegenden Arbeit Rechnung trägt, dass die Kon- trollebehörde die Gesamtbewertung über das „Musterkönigreich“ entscheidend mitbestimmte, liegt der Fokus bewusst und der Fragestellung angemessen auf den Wertungen und Deutungsmustern von Zeitgenossen und Nachfahren.77 Ein kritisches Hinterfragen der gefühlsstarken „Schmähschriften“ der Jahre nach 1813 und ein Abgleich mit den realen Konstellationen gehört hier also erwartungsgemäß nicht zum Programm.

Die polizeistaatlichen Entwicklungen im kleinen Territorium Jérôme Bonapartes lassen sich sicherlich nicht separieren von den Bewegungen im französischen Mutterland und anderswo. Im Gegenteil ist der Aufbau einer starken Polizei im Königreich Westphalen zeittypisch und Teil einer weitläufigen Tendenz. Die Ausbildung eines wirksamen staatlichen Gewaltmonopols und das Erstarken von Behörden und Institutionen, die nicht nur den eigenen Staat nach außen sichern sollten, sondern auch eine starke Kontrolle auf die eigenen Untertanen ausübten, lässt sich im Anschluss an die Französische Revolution nicht nur in den napoleonischen Staaten, sondern zum Beispiel auch in Preußen beobachten.78 Wolfgang Krieger hat die Verbindung von geheimdienstlicher Tätigkeit, Revolution und Kriegsführung in diesem Sinne als das Kennzeichen der Epoche zwischen 1789 ←36 | 37→und der Neuordnung Europas 1814/15 bezeichnet.79 Dessen ungeachtet liegt im Königreich Westphalen die Besonderheit vor, dass ein personell relativ schlecht bestücktes Team aus „Besatzern“ die einheimische Bevölkerung dazu animieren musste, sich selbst zu beobachten und zu kontrollieren. Studien zu anderen Staaten in ähnlichen Konstellationen stehen noch aus.

Diverse große Forschungsarbeiten zu Napoleons Polizeisystem in Frankreich, etwa von Ernest d’Hauterive80 und Jean Rigotard,81 geben wichtige Grundkenntnisse für das Verständnis des nachrevolutionären Repressionsapparates. Sie kümmern sich allerdings verhältnismäßig wenig um die Verschränkungen von staatlicher Überwachung und Selbstkontrolle der Bürger und der Durchsetzung von Herrschaft auf den verschiedenen hierarchischen Ebenen von Staat und Gesellschaft.82 In der Forschung zu der Geheimpolizei Napoleons wurden bis zuletzt übergeordnete Strukturen vernachlässigt. Der Blick ist hier allzu oft auf herausragende Persönlichkeiten gelenkt worden, wobei einerseits einzelne, besonders grenzübergreifend agierende Agenten eine Rolle spielten,83 andererseits die obersten Polizeidirigenten.84 Als Gruppe sind die Akteure der (Geheim-)Polizei kaum ←37 | 38→untersucht worden. Fragen zu sozialer, politischer und nationaler Zugehörigkeit, zu Beweggründen und Motiven der Spione, zum Verhältnis von Eigeninteressen und Zwang, wurden dabei kaum gestellt. Auch ist der Fokus auf Paris selten aufgelöst worden.85 Neuere Tagungsberichte und Sammelbände lassen erkennen, dass das Feld der Polizei unter Napoleon aktuell wieder neu bestellt wird.86

Angetreten, um sich der besagten Forschungslücke zu widmen, ist auch Jeanne-Laure Le Quang, deren Dissertation zum Thema „Haute police, surveillance politique et contrôle social sous le Consulat et le Premier Empire (1799–1814)“ demnächst veröffentlicht wird.87 Le Quang interessiert sich für viele Themen, die für die vorliegende Arbeit Relevanz haben, darunter das Verhältnis zwischen realer polizeilicher Effizienz und der mit Bedacht heraufbeschworenen „légende dorée“ einer vermeintlich omnipräsenten Kontrolle. Sie klassifiziert darüber hinaus die Verfolgungsmotive der Pariser Polizei und untersucht die Dimension der Gesetzesüberschreitungen durch „mesures de haute police“.88

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Wichtig für die vorliegende Arbeit waren nicht zuletzt Recherchen zu der öffentlichen Meinung und zum Revolutionspotenzial unter Jérôme Bonaparte,89 darunter all jene Schriften, die die Glorifizierung der jeweiligen nationalen Widerstandskräfte von Preußen, Hannoveranern, Braunschweigern, Hessen usw. zum Anliegen hatten.90

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4. Quellen

Die zentrale Quellenbasis für die Beantwortung der oben dargelegten Fragestellungen bildet ein bislang wenig beachteter Bestand aus Akten und Korrespondenzen der königlich westphälischen Polizei, die sich heute in der Handschriftenabteilung der Russischen Nationalbibliothek Sankt Petersburg befinden. Hier sind sie Teil der umfänglichen Handschriftensammlung des Ingenieurgenerals Pjotr Kornilevič Suchtelen91 und werden bezeichnet als „Westfälisches Archiv“. Im Alter von 31 Jahren war Suchtelen in die Dienste der Kaiserlich Russischen Armee eingetreten. Nach seiner Teilnahme am Russisch-Schwedischen Krieg von 1808 bis 1809 und im Nachgang zu den Friedensverträgen avancierte er zum Chef der diplomatischen Mission in Stockholm. 1813 stand er an der Spitze der russischen Militärmission im Gefolge des Führungsstabs der Nordarmee unter Jean Baptiste Bernadotte, der 1810 zum Kronprinzen von Schweden ernannt worden war. In dieser Position nahm Suchtelen auch an der militärischen Einnahme der Hauptstadt des Königreichs Westphalen teil. Fakt ist, dass Suchtelen schon damals als leidenschaftlicher Sammler von Handschriften und Büchern, aber auch Stichen, Medaillen und anderem bekannt war. Fakt ist ebenfalls, dass sich die westphälischen Akten heute in seinem Nachlass befinden, der nach seinem Tod im Januar 1836 von Schweden nach Russland verschifft und noch im selben Jahr an den russischen Staat übergeben wurde.92 Das Aktenkonvolut, das heute das „Westfälische Archiv“ in Sankt Petersburg bildet, dürfte eigentlich aber eher für die antinapoleonischen Mächte und ihre Akteure von Interesse gewesen sein, nicht für einen bibliophilen Sammler. An dieser Stelle bleibt die Überlieferung rätselhaft. Die Unterlagen der hohen Polizei hatten Brisanz und dürften daher neben anderen Themenbereichen im Zentrum des Interesses der Kosaken gestanden haben, die Kassel eroberten und die sicherlich nicht nur Kunstschätze, Wertsachen und Waffen mitnahmen,93 sondern auch ←40 | 41→Unterlagen, mit denen die Regierungsgeschäfte und Zuständigkeiten rekapituliert werden konnten.94 Suchtelen dagegen wird an wertvollen Autographen interessiert gewesen sein, mit denen die besagte Sammlung gerade nicht dienen konnte, schließlich handelte es sich beim Personal der westphälischen Polizei nicht um berühmte Persönlichkeiten. Wahrscheinlich ist, dass Suchtelen im Nachgang zu den Eroberungen sehr große Bestände übernommen hatte95 und die Polizeikorres- pondenzen eher zufälligerweise zu diesem großen Konvolut gehörten. In seinem Nachlass in Sankt Petersburg machen die Polizeiakten zumindest nur einen sehr kleinen Anteil aus. Gleichwohl es keine Dokumentation über eine Schenkung oder einen Kauf gibt, wäre es doch nicht unwahrscheinlich, dass General Alexander Iwanowitsch Czernicheff, der das Kommando über die Kosakeneinheiten geführt hatte, die Kassel überfielen, die von seinen Soldaten mitgenommenen Papiere nach Sichtung weitergab – zumal er Suchtelen persönlich gekannt haben muss.96

Die westphälischen Polizeiakten galten schon 1813 als verloren. Rachegelüste einerseits, aber auch das Bedürfnis, Verräter ausfindig zu machen und von neuen Posten auszuschließen, trieben Privatpersonen, aber eben auch die Vertreter aller Nachfolgerstaaten des westphälischen Königreichs regelrecht um.97 Im lokalen Raum kursierten Listen mit den Namen der Personen, die man für Täter und Mittäter der geheimen Sicherheitsbehörden hielt.98 Dabei ging es zweifelsohne auch ←41 | 42→darum, der neu entstehenden Macht der öffentlichen Meinung Rechenschaft zu zollen.99 Mittäterschaften oberer Größenordnung sollten öffentlich nachvollziehbar gemacht werden. Für eine Neueinstellung in relevante Ämter braucht es im erstarkten politischen Bewusstsein des Jahres 1813 nicht nur den Segen der einstellenden Regierung, sondern auch das Vertrauen der Untertanen. Die Mutmaßungen, wo sich die begehrten Aufzeichnungen befinden könnten, gingen in alle Richtungen. Friedrich Franz Dietrich von Bremer beispielsweise, der spätere Außen- und Finanzminister des noch zu konsolidierenden neuen Königreichs Hannover, beschäftigte sich im Auftrag der neu entstehenden Übergangsregierung nach der Niederlage der Franzosen noch von seinem Exil in Schwerin aus mit der Frage, wo die Papiere der westphälischen Geheimpolizei zu finden seien: „Es sind nemlich bei der ersten occupation von Cassel durch den Gen. Czernitzew von demselben viele Acten des Geheimen Polizey Bureau des Generals u. GeneralIinspectors der Polizey Bongars erbeutet u. nach Berlin geschickt worden,“ so von Bremers Überzeugung im November 1813.100 Offenbar war man ursprünglich nicht davon ausgegangen, dass die russischen Truppen sich selbst für die Papiere interessierten und sie für mitführenswürdig erachteten. Sieben Wochen später galt die Information der Mitnahme der Dokumente durch die Kosaken als verbürgt. In einem „Pro Memoria wegen der Papiere der Casselschen geheimen Polizey“ war es vermutlich wieder Bremer, der bilanzierte: „Es hat keinen Zweifel, daß General Chernichew obige Papiere, und in specie ein Verzeichnis der Mitglieder Agenten der geh. Polizey in Cassel erhalten hat: es wird dieses ganz allgemein gesagt, er soll es selbst gesagt haben.“101 Eine Kontaktaufnahme mit Preußen und Nachforschungen in den Berliner Beständen hatten die gewünschten Unterlagen aber hier nicht zu Tage gebracht.102 In dem „Pro memoria“ zum Verbleib der Polizeiakten ist ←42 | 43→weiter von einem unbestätigten Gerücht die Rede, dass die gesuchten Unterlagen in Weimar zu wissen meinte.103 Der Schreiber des Memorandums selbst wiederum vermutete, dass das besagte Agentenverzeichnis, um das allein es ihm letztlich ging, „an den Kronprinzen v[on] Schweden“ abgeliefert worden sei.104

Direkt nach der Aufhebung der napoleonischen Herrschaft auf deutschen Territorien scheint es allgemein bekannt gewesen zu sein, dass besonders die leichten Truppen im Vormarsch der alliierten Armeen nach Regierungsakten Ausschau gehalten hatten. „On sait que les Cosaques ont un talent particulier pour ce genre de captures, et que surtout le celèbre Général Czernicheff, avant de devenir le quartier-maître général de l’ Empéreur Napoléon dans sa retraite de Leipsick jusqu’à Mayence, s’était déjà constitué son archiviste“, heißt es im Vorwort einer im Jahr 1814 herausgegebenen Quellensammlung, die 51 ausgewählte Briefe abbildet, deren größter Teil einer einzigen umfangreichen, wohl von französischen Militärs wieder abgefangenen Stafette entstammt.105 Vor diesem Hintergrund müsste wirklich davon ausgegangen werden, dass insgesamt sehr große Mengen an Papier von Kassel ebenso wie aus anderen Hauptstädten, die die Kosaken einnahmen, nach Russland gebracht wurden.

All diese Vermutungen und Teilinformationen führen also tatsächlich auch auf die Spur der heute in Sankt Petersburg bewahrten Papiere. Umso erstaunlicher ist es daher, dass es über ein Jahrhundert dauerte, bis die damals schon so intensiv gesuchten und begehrten Zeugnisse wieder Beachtung fanden.

Ausgewertet wurden die Akten erstmals 1938 in einer kleinen Studie von dem russischen Forscher K. Ratkewitsch über den „Krieg des Jahres 1812 und die öffentliche Meinung im Königreich Westphalen“,106 die lange Jahre weder in Deutschland noch in Frankreich bekannt war. In eine größere Recherche eingebettet wurden die ←43 | 44→Dokumente des „Westphälischen Archivs“ dann erstmals in den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts durch den ostdeutschen Historiker Heinz Heitzer, der sich für die Aufstandsbewegungen und die Bevölkerungsmeinung im Königreich Westphalen interessierte.107 Zu bedauern ist es, dass Heitzer für seine Analysen dann aber nur selten auf die gesichteten Dokumente zurückgreift,108 denn die Sankt Petersburger Papiere stellen für den von ihm untersuchten Themenbereich hervorragende Quellen dar: Einerseits dokumentieren sie über die Beobachtungen der Kommissare und Geheimagenten die Stimmungen in den verschiedenen Ortschaften insbesondere im Verlauf der letzten beiden Regierungsjahre und zeigen des Weiteren, welche Revolutionsherde die westphälischen Überwachungsmächte am meisten beunruhigten und welche Akteure sie am stärksten fürchteten. Zwangsläufig spielen diese Themenkomplexe auch in die vorliegende Arbeit hi- nein, gehören sie doch untrennbar zu den Alltagswelten der Polizeibediensteten. Im Jahr 1978 erschien in Russland ein wenige Seiten umfassender Aufsatz über Russische Flugblätter im Königreich Westphalen des Sankt Petersburger Historikers Sergej Nikolaevič Iskjul, der seine Erkenntnisse explizit aus dem „Westfälischen Archiv“ der Russischen Nationalbibliothek schöpfte. 1986 legte Iskjul eine deutsche Übersetzung dieses Beitrags vor,109 1989 folgte eine weitere Studie über Soldatenbriefe, die von der westphälischen hohen Polizei abgefangen worden waren.110 Iskjul hatte zuvor im Auftrag der Russischen Nationalbibliothek die Bestände aus Kassel sorgfältig gesichtet und klassifiziert. Ihm verdankt sich auch eine Beschreibung des gesamten Fundus.111

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In neuerer Zeit haben sich vor allem Claudie Paye und Nicola-Peter Todorov mit den besagten Akten beschäftigt, erstere für eine Analyse der westphälischen Sprachpolitik und des kommunikativen Verhaltens zwischen Deutschen und Franzosen in der Ära König Jérômes, Todorov im Zusammenhang mit seiner Studie über die westphälische Verwaltung im Departement der Elbe.112 Als Auskunftgeber über die Behörde der hohen Polizei im Königreich Westphalen sind die Akten bisher nie genutzt worden.

Das „Westfälische Archiv“ in der Handschriftenabteilung der Russischen Nationalbibliothek wird in 22 großen Kartons aufbewahrt, die nach Berechnungen Sergej Nikolaevič Iskjuls insgesamt mehr als 13 000 Aktenstücke beinhalten. Des Weiteren gibt es einige wenige gebundene Ordner, die sich dem Kartonsystem entziehen, darunter Korrespondenzregister der Polizeileitung mit Dienstanweisungen, innerbehördlichen Nachrichten- und Befehlsweitergaben an die untergeordneten Kommissare sowie Absprachen mit den Militärbehörden. Die Kartons enthalten Meldungen und Korrespondenzen der unterschiedlichsten Hierarchieebenen der Polizei, meistens aber zwischen den Generalkommissaren und der Polizeileitung oder den Präfekten. Verhandlungsprotokolle, Agentenberichte, konfiszierte Briefe und Pamphlete, Datenerfassungen aus der Feder niederer Angestellter und Stellungnahmen zu bestimmten Sachverhalten von den Staatsvertretern vor Ort existieren lediglich in Form von Beilagen zu den genannten Korrespondenzen.

Diese in gewisser Weise einseitige Überlieferung ist durchaus erklärbar. Viele Staatsangestellte werden ihre persönlichen Korrespondenzen und Dienstpapiere aus eigenen Stücken vernichtet haben, als sich ein Umbruch der Verhältnisse abzeichnete, oftmals wahrscheinlich ohne gehörige Überlegung darüber, ob die Daten nicht auch zu ihren Gunsten hätten aussagen können.113 In jedem Fall ist jenseits der Zentralbehörden davon auszugehen, dass sich die Dienstpapiere im Besitz des jeweiligen Staatsdieners befanden und nach Niedergang der napoleonischen Herrschaft nicht zwangsläufig dem Staat übergeben wurden. Es sind Einzelfälle überliefert, in denen bisherige westphälische Staatsbeamte die neu einberufenen Regierungskommissionen der Übergangszeit bewusst um Einsicht und Beurteilung ihrer Dienstunterlagen baten, um so für die eigene Amtszeit und das persönliche Verhalten rehabilitiert zu werden.114 Polizeikommissar Lüntzel ←45 | 46→beispielsweise, unter der Regentschaft König Jérômes zuständig für die Stadt Hildesheim, bat offensiv um die Untersuchung seines Betragens und der Ausführung seiner „Amts-Verrichtungen als Westphälischer Polizey-Commissair“ und bot dazu an, seine „Briefschaften und Correspondenz“ mit dem ihm vorgesetzten Generalkommissar Guntz „jederzeit vollständig im Original“ vorlegen zu können.115 Dass er die Unterlagen nach Einsichtnahme der Untersuchungskommission zurückbekam, empfand er als selbstverständlich.116 Auch Generalkommissar von Wolff war noch im April 1814 im Besitz seiner „Komptabilität“, also seiner Rechnungsbücher und -belege aus westphälischer Zeit.117

Die Tatsache, dass die Petersburger Aktenbestände hauptsächlich die oberste Hierarchieebene des Polizeiapparates repräsentieren, liegt daher nicht unbedingt an einer bewussten Auswahl, die die Kosaken in Kassel im Eifer des Gefechts möglicherweise gar nicht hätten treffen können. Vielmehr werden die russischen Militäreinheiten keinen Zugriff gehabt haben auf die Unterlagen der rangtie- feren Angestellten. Entsprechend finden sich auch in den anderen Archiven, die zur Erforschung der westphälischen Polizeistrukturen konsultiert worden sind, immer nur Korrespondenzen der Generalkommissare und der Direktionsebenen in gebündelter Form. Die hierarchisch darunter stehenden Kommissare dagegen haben nur dann Spuren hinterlassen, wenn sich ihre Schreiben in den Papieren der höhergestellten Korrespondenzpartner bewahrt haben.

Einer bewussten Wahl der Kosaken in Kassel könnte es dagegen geschuldet sein, dass die Papiere in Sankt Petersburg hauptsächlich aus den Jahren 1812 und 1813 stammen, schließlich waren die gegnerischen Mächte an aktuellen Erkenntnissen ←46 | 47→interessiert. Die Aufschrift der Kartons, in denen die Akten bewahrt werden – „Collection de papiers concernant l’administration du Royaume de Westphalie/1805–1814“ – ist demzufolge falsch.118

Ein weiteres Ungleichgewicht betrifft die regionalen Schwerpunkte. Die Generalkommissare sind in dem Sankt Petersburger Konvolut nicht gleichwertig vertreten. So liegen von dem Marburger Generalkommissar von Wolff ungleich mehr Berichte vor als von seinen Kollegen Georg Wilhelm Böhmer aus Heiligenstadt oder dem Generalkommissar Mertens, der erst als einfacher Kommissar in Hannover, dann als Zuständiger für das Leine- und das Harzdepartement wirkte.

Eine wichtige weitere Quellenbasis für die vorliegende Arbeit waren die das Königreich Westphalen betreffenden Unterlagen, die die Archives Nationales und die Archives diplomatiques du Ministère français des Affaires étrangères in Paris aufbewahren. Kontrollfunktionen und Überwachungsstrukturen der französischen Instanzen über die westphälische Polizeiinstitution konnten hier nachvollzogen werden, ebenso die Prämissen und Leitlinien der obersten Dirigenten des Königreichs Westphalen in Korrespondenz mit den letztlichen Entscheidungsträgern in Frankreich.

Die Überlieferungen der westphälischen Unter- und Mittelbehörden sind verhältnismäßig unübersichtlich über diverse deutsche Archive verteilt. Die Verwaltungsakten der Mairien und der Distrikts- und Departementsebenen wurden mit der Abwicklung des Königreichs Westphalen im Jahr 1813 aufgeteilt, den verschiedenen Nachfolgerstaaten zugesprochen und entsprechend in die Registratursystematik Preußens, Hannovers, Kurhessens und Braunschweigs eingegliedert. Die Überlieferungen höherer Hierarchien dagegen, also der Generaldirektionen und Ministerien, wurden vorerst gebündelt an das Preußische Geheime Staatsarchiv übergeben, bevor sie im 19. Jahrhundert wieder aufgegliedert und nun doch nach regionalen Gesichtspunkten verteilt wurden. Nur ein auch hier noch als unteilbar definierter Rest aus departementsübergreifenden Generalakten blieb in Berlin.119 Dieser Bestand, der nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Territorium der DDR verblieb und hier als Teil des Deutschen Zentralarchivs Zweigstelle Merseburg geführt wurde, bekam in den 1970er Jahren noch einmal Zuwachs durch weitere Verzeichniseinheiten aus westphälischen Zentralbehörden des Elbe-, Saale- und Harz-Departements, die bislang in Magdeburg gelagert worden waren.120

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Für die vorliegende Arbeit konnten also zumindest die Überlieferungen der Generaldirektion der hohen Polizei in relativ gebündelter Form im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin-Dahlem gesichtet werden. Hier finden sich insbesondere die Korrespondenzen der jeweiligen Leitungsebenen der hohen Polizei mit den diensteigenen Untergebenen, vor allem mit den Generalkommissaren, aber auch mit anderen höherrangigen Staatsdienern wie zum Beispiel den Präfekten, Ministern, Richtern und Offizieren, teilweise in Form von Briefkopierbüchern.121

Besonderen Wert für die Untersuchung hatten darüber hinaus aber die Dokumente der untersten Hierarchieebenen, die häufig nur über Beilagen der anderen Akten rekapitulierbar waren. Dazu zählen Beschwerdebriefe der Untertanen, Gerichts- und polizeiliche Verhörprotokolle und Datensammlungen, Personenbeurteilungen und Stimmungsberichte der lokalen Staatsdiener. Dort, wo dem Historiker oftmals nur die reinen Fakten überliefert werden – zum Beispiel Verbrechen, Verbrechensstatistiken und Strafurteile122 –, eröffnet sich hier nahezu immer die Möglichkeit, die menschlichen Belange hinter den Daten zu vergegenwärtigen. Das liegt auch daran, dass die hohe Polizei niemals nur den nackten Tatbestand einer strafbaren Handlung dokumentierte, wie noch zu zeigen sein wird, sondern ihre lokalen Helfer ausschickte, um Hintergründe der Tat, die politische Dimension derselben aus Sicht des Verursachers und anderer Beteiligter wie auch unbeteiligter Zeugen, die soziale Stellung des Täters, seine allgemeine politische Haltung, seine finanziellen Mittel und seinen Ruf im lokalen Raum zu ermitteln. Konsultiert wurden dazu das Hessische Staatsarchiv Marburg, das Landesarchiv NRW Abteilung Westfalen in Münster, das Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Außenstelle Wernigerode (mittlerweile werden ebendiese Akten am Standort Magdeburg verwahrt) und das Niedersächsische Landesarchiv mit den Standorten Wolfenbüttel und Hannover bzw. Pattensen.123

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Personelle Zusammenhänge über Polizeikommissare, Geheimagenten und andere Akteure ließen sich im Rahmen der Recherchen teilweise mit Versatzstücken aus den verschiedenen Archiven wieder zusammenführen. Letztlich ist dadurch auch noch einmal bestätigt, dass die Loslösung der heute „russischen“ Akten aus den restlichen Beständen nicht nach inhaltlichen Kriterien geschehen sein kann – denkbar wäre etwa ein bewusster Fokus auf die Hauptstadt Kassel oder auf hochrangige Akteure gewesen –, sondern willkürlich vorgenommen worden sein muss. Weder regionale Bezüge noch die Dokumentation persönlicher Schicksale sind an einem Ort gebündelt geblieben.

Als problematisch erwies sich bei der Quellenarbeit, dass die Korrespondenzen der westphälischen Behörden nur in Ausnahmefällen Vornamen nennen, die Zusammengehörigkeit einzelner Personalakten also nahezu immer über andere Vergleichskriterien ermittelt werden musste. Die oft uneinheitliche Schreibweise eines Namens erschwerte zusätzlich die Identifikation einzelner Akteure. Beispielhaft zu nennen ist hier der Generalkommissar Schultze, Schulze oder Schulz, der ab 1812 in Magdeburg tätig war, vorher als einfacher Kommissar in Osnabrück. In diesem Fall lässt sich trotz immer uneinheitlicher Schreibweise nachvollziehen, dass es sich um die gleiche Person handelt, weil eindeutig zuweisbare zeitgenössische Beschreibungen zu dem Wirken des deutschen Polizeiakteurs existieren.124 Hilfreich waren dafür in einem ersten Schritt häufig der ab 1810 verlegte Almanach royal de Westphalie, in dem die Angestellten der unterschiedlichen Departements und Städte nach Fachgruppen – Militär, Verwaltung, Gerichtswesen, Kultus, Universitäten, usw. – gelistet sind, und das Hof- und Staatshandbuch des Königreichs Westphalen, die um den kalendarischen Teil erleichterte, nur in den Jahren 1811 und 1812 publizierte deutschsprachige Fassung des Almanachs.125 Beide Publikationen waren als Hilfsmittel und Handbücher für die Staatsdiener gedacht. Über diese Listen lassen sich zumindest Dienstorte, Rang und genaue Position im Amt ←49 | 50→gut bestimmen. Leider aber liefern die Jahreschroniken nur die Familiennamen der Angestellten, so dass sie noch keine eindeutige Zuordnung gewähren. Handelte es sich bei den im Fokus stehenden Personen um höhere Staatsangestellte, Adelige oder Wissenschaftler, Richter und Geistliche von einiger Bedeutung, erwiesen sich biographische Lexika wie etwa der „Neue Nekrolog der Deutschen“ oder das „Neue allgemeine deutsche Adels-Lexicon“ in einem zweiten Schritt weiterführend.

Viel schwerwiegender ist für eine erfolgreiche Kontextuierung der einzelnen Quellen jedoch, dass in den Polizeikorrespondenzen häufig Verschlüsselungen und Abkürzungen benutzt wurden, die etwaigen zeitgenössischen Mitlesern die Identifikation der gemeinten Personen erschweren sollten und die den heutigen Leser natürlich um so härter treffen. Typisch sind Abkürzungen der folgenden Art: „Auch äußerte H v. M., daß H Frieds. R v. D. in Treisa unglaublich frevelhafte Discourse führe […].“126 In diesem Fall lassen sich die Personalien der beobachteten Personen relativ gut ergründen, zumal es sich bei einer Person um einen in öffentlichen Papieren gelisteten Staatsdiener handelt: Für den Kanton Treysa ist ein Friedensrichter namens von Drechsel nachweisbar.127 Die Einordnung des Herrn von M. als Spitzel, den der Generalkommissar erst vor Kurzem hatte „bekehren“ und als regelmäßigen Mitarbeiter gewinnen können,128 gelingt dagegen durch den Einbezug des Kontextes diverser anderer Schreiben und verschiedener Agentenberichte, die mit der Initiale „M“ unterzeichnet sind.129 Kriminalistischer Entschlüsselungswille war insgesamt also nötig, um die Zusammenhänge in den Polizeiakten rekapitulierbar zu machen. Geheimschriften dagegen, die sich durchaus immer wieder in den Papieren der westphälischen Polizei finden, konnten nur dann überhaupt bearbeitet werden, wenn die Empfänger der Papiere die Auflösungen bereits notiert hatten.130

←50 | 51→

In den offiziellen und offiziösen Periodika des Königreichs und in diversen Lebensbeschreibungen westphälischer Staatsangestellter finden sich Hinweise auf Vorfälle zwischen Polizeiangestellten und den „Polizierten“, auf öffentliche Ärgernisse, Verhaftungen sowie auf Denunziationsverhalten. Noch ergiebiger sind die Druckerzeugnisse, die direkt nach der Auflösung des Königreichs Westphalen zumeist anonym publiziert wurden und die noch unter dem Eindruck der Ereignisse Zustände und bestimmte Gegebenheiten anprangerten. Einerseits sind hier Flugblätter und Pamphlete von Interesse, die erlebte Leiden schildern, Schuldige brandmarken, vor allem aber den Geist der rachedurstigen Umbruchszeit transportieren.131 Letzteres ist ebenfalls bei den meist längeren Schriften der Fall, die sich oft zu diversen Dingen äußern, teilweise aber auch ausgewählte Behörden, einzelne Akteure und bestimmte Herrschaftsstrukturen zur Zielscheibe nehmen.132 Vielversprechend ist hier die Möglichkeit, die Anklageschriften mit entsprechenden Verteidigungen zu konfrontieren, mit denen die angegriffenen Staatsdiener auf die Vorwürfe reagierten.133 Die schriftlichen Angriffe ebenso wie die ←51 | 52→„Rechtfertigungsliteratur“134 sind sicherlich extrem tendenziös und parteiisch, sie tragen gerade deshalb aber erheblich zum Verständnis zeitgenössischer Sichtweisen auf die hohe Polizei bei und geben Einblicke in die menschlichen Verhältnisse zwischen „Tätern“ und „Opfern“, in individuelle Konflikte und Schicksale sowie in persönliche Autoritätsausnutzungen.

Von besonderem Wert für diese Arbeit ist die anonyme Schrift „Die entlarvte hohe und geheime Polizei des zerstörten Königreichs Westphalen“.135 Auch wenn sich der Autor nicht ermitteln lässt, wird doch deutlich, dass es sich um jemanden gehandelt haben muss, der die Konstellationen der westphälischen Polizei über mehrere Jahre beobachten konnte, persönliche Bekanntschaften hatte und der wahrscheinlich in der Hauptstadt des Königreichs zu Hause war.136 Übertreibungen und Überzeichnungen im Sinne der franzosenfeindlichen, nationalistisch aufgeladenen Stimmung sind hier eindeutig. Zudem ist es wohl der schlagfertigen, bissigen Art des Autors und seinem fast romanesken Schreibtalent geschuldet,137 dass die exakte Wahrheit und die Genauigkeit der berichteten Fakten hier nicht den ersten Stellenwert des Schreibinteresses einnehmen. Ebenso wie in diesem Fall müssen sämtliche Quellen dieser Art kritisch hinterfragt werden und sind auch dann wohl meistens keine nüchtern dokumentierenden Wissensmultiplikatoren, wenn sie vorgeben selbiges zu sein. So kommen beispielsweise bei den offenbar wortwörtlich wiedergegebenen „Vertraute[n] Briefe[n] eines ehemaligen Staatsdieners die geheimen Verhältnisse einiger hohen Verwaltungsbehörden im aufgelösten Königreich Westphalen betreffend“ Zweifel daran auf, ob es sich wirklich, wie vorgegeben, um die originalen, vor allem aber unausgeschmückten Briefe eines ←52 | 53→„bedeutende[n] westphälische[n] Hof- und Staatsmann[es]“138 handelt, von dessen geschäftstüchtigem Sekretär der Verfasser sie nach Absetzung des Posteninhabers abgekauft haben will. Zumindest macht der stellenweise auffällig burschikose Stil der Briefe hellhörig, die allzu sehr von dem höflichen und letztlich immer sachlich bleibenden Duktus abweichen, den die echten, überlieferten Aktenstücke aus der Zeit des Königreichs Westphalen auch dann vermitteln, wenn es sich um vertrauliche Korrespondenzen sich persönlich bekannter Funktionäre handelt.139 Vorsicht ist also auch hier geboten, selbst wenn der Herausgeber der Papiere explizit versichert, er habe die Schriftstücke „mit diplomatischer Treue und ohne die geringste Veränderung“ überliefert.140

Sehr eindeutig waren sich viele Autoren eines großen Publikums bewusst. Dem fehlenden zwischenmenschlichen Austausch während der sechsjährigen Regentschaft König Jérômes und dem Verbot jeder öffentlichen Klage soll es geschuldet gewesen sein, dass nach Zusammenbruch der napoleonischen Machtkonstellationen alle Veröffentlichungen zu den erlittenen Zuständen große Beachtung fanden und die „Fluth von Schmähschriften und Lügen, welche den Haß und Rachedurst befriedigten, mit bewundernswerther Begierde verschluckt und verschlungen wurde“.141

Die große Emotionalität der frühen antinapoleonischen Schriften prangerten schon die Zeitgenossen an, zumal dann, wenn für sie nachvollziehbar war, dass ←53 | 54→die Autoren ihren Gefühlen und Parteilichkeiten zulasten der Wahrheit und der Detailliebe freien Lauf ließen. So erschien im Januar 1815 eine Kritik zu der im Vorjahr publizierten Schrift „Geschichte des Königreichs Westphalen“ von Friedrich Gottfried Cramer,142 der unter König Jérôme als Inspektor der indirekten Steuern in Halberstadt im Saaledepartement gewirkt hatte143 und daher eigentlich als involvierter, kenntnisreicher Berichterstatter hätte gelten dürfen. In den Augen des Rezensenten jedoch vermischten sich in der Erzählung Cramers allzu sehr „nackte Thatsache“ und „Stadtgeschwätz“.144 „Loben können wir in der Schrift nur das recht brave Gefühl und den redlichen Sinn; oder, wenn man es lieber hören will: das Gemüth, welches sich darin ausspricht,“145 urteilte der nicht namentlich genannte Verfasser. Ähnlich harsche Worte musste auch der anonyme Autor der Schmähschrift über „Die entlarvte hohe und geheime Polizei des zerstörten Königreichs Westphalen“ einstecken. Auch ihm warfen spätere Autoren Gefühligkeiten vor, daneben aber auch eine dem Zweck und dem Sujet unangemessene Neigung zu literarischer Ausgestaltung seines Textes.146 Der Historiker Ludwig Häusser ging in seinem großen Werk über die „Deutsche Geschichte vom Tode Friedrichs des Großen bis zur Gründung des deutschen Bundes“ sogar so weit, die gesamte „Schmäh-Literatur, die nach 1813 auftauchte“, als kaum brauchbar im Sinne einer historischen Quelle zu bewerten.147 Indem Arthur Kleinschmidt 1893 darauf verwies, man müsse „der Übertreibung der Zeugen Rechnung tragen“, machte er ebenfalls darauf aufmerksam, dass die direkten Beobachter nicht unbedingt zu den am stärksten der Wahrheit verpflichteten Chronisten gehörten.148 Kritisch untersucht und in der Gegenüberstellung mit den Unterlagen der staatlichen Behörden lassen sich Übertreibungen und einseitige, subjektive und interessengeleitete Urteile in den beschriebenen Schrifttypen aber gut ermitteln und aussieben. Zurück bleiben Spuren von Intentionen, selbsterdachten Deutungsmustern und ←54 | 55→Rechtfertigungen, die nicht unbedingt der Faktenlage Rechnung trugen, aber für den heutigen Leser auf außergewöhnliche Weise Stimmungen und Gemütslagen der Menschen offenlegen.

Bei vielen Publikationen der nachwestphälischen Zeit signalisieren die angegebenen Druckorte politische Zugehörigkeit und beinhalten keine Information zu der wirklichen Drucklegung. „Die französische Garküche an der Fulde. Erstes Gericht. Oder?? Neuestes Gemählde der Residenzstadt Cassel wie sie noch im Jahr 1813 war, und wie sie gegenwärtig nicht mehr ist. Ein Pendant zur geheimen Geschichte von Westphalen“ ist sicherlich nicht, wie sie vorgibt, in Sankt Petersburg erschienen, sondern höchstwahrscheinlich in Marburg.149 Noch deutlicher wird die symbolische Ebene der Druckorte bei der Angabe zu der Zeitschrift „Neue Fakkeln. Ein Journal in zwanglosen Heften“, deren erster Band unter dem Signum „Deutschland 1813“ erschien.150 Nach einer Umbenennung in „Leuchtkugeln. Ein Journal in zwanglosen Heften“ erschien das Blatt anfänglich unter der Druckort- angabe „Germanien“.151

Auch eher ungewöhnliche Druckerzeugnisse, die sich erst auf den zweiten Blick als historische Quelle definieren lassen, sind bearbeitet worden, so etwa der Roman „Die Brüder Meienburg“ von A. von der Elbe.152 Hinter dem Autorenpseudonym versteckt sich Auguste von der Decken153, geborene Meyer, Tochter des 1809 zum ←55 | 56→ersten Polizeidirektor Hannovers ernannten Heinrich August Meyer.154 Die erst 1828 geborene Auguste schildert hier die Lebensgeschichte ihres Vaters, dessen Person sich in der Romanfigur des älteren Bruders Meienburg wiederfindet, der sich, anders als der stürmische, weniger bedachte und gefühlsgeleitete junge Bruder, in den Dienst der französischen Machthaber stellt, um als guter Hannoveraner alles Unheil zu verhindern, das ein französischer Polizeidirektor vermeintlich heraufbeschworen hätte. Thema sind damit die unterschiedlichen Möglichkeiten der Untertanen, sich zum napoleonischen Regime zu verhalten. Friedrich Thimme, der für seine 1893 publizierte Beschreibung der „inneren Zuständen des Kurfürstentums Hannover“ die heute verschollenen, offenbar sehr umfangreichen Aufzeichnungen des Amtmanns und Polizeidirektors Meyer von Auguste von der Decken persönlich zur Einsicht überlassen bekommen hatte155 und damit über die Originalquelle verfügte, anhand der die Tochter des Polizeidirektors nach eigenen Angaben ihre Erzählung aufgezeichnet hat, beurteilt die Realitätsnähe des Romans als groß. Diverse Male greift er selbst auf die Schilderungen der Autorin zurück, um seine historische Abhandlung zu untermauern.156 Gerade auch Auguste von der Deckens Beschreibungen des Charakters und der Ansichten des Vaters – in denen viel Aufklärungspotenzial für die „Kollaborationsmotivation“ des Polizeikommissars gesehen werden kann – betrachtet Thimme als vertrauenswürdige und realitätsnahe Quelle.157 Private Angelegenheiten Meyers sind tatsächlich parallel von Zeitzeugen überliefert und decken sich mit den Angaben im Roman, ebenso städtisches Geschehen, welches in der Erzählung eine Rolle spielt.158

5. Begrifflichkeiten

Der Begriff der Polizei wurde gegen Ende des 18. Jahrhunderts von Zeitgenossen als „unbestimmt, schwankend, vieldeutig“ empfunden.159 Auch im Königreich ←56 | 57→Westphalen wurde konstatiert, dass „der Begrif von Polizey stets ein nicht ganz bestimmtes und vieldeutiges Wort“ bleiben müsse.160 Die Beschreibung der Polizeivokabel als „chameleontisch“161 bringt dabei sprachbildlich auf den Punkt, wie stark der Ausdruck zeitgenössisch als vage, fluide und mit den unterschiedlichsten Inhalten auffüllbar gesehen wurde. Hinzu kommt die Tatsache, dass auch noch das Wort selbst in dieser Zeit Veränderungen erfuhr: die Schreibweise „Policey“ und „Polizey“ wurde zunehmend verdrängt von der noch heute gültigen Rechtschreibung.162 Die Benennungen in den Quellen sind daher uneinheitlich.

Dass sich für die Debatte um die Rolle und die Ausformung der Polizei im Jahr 1808 ein Höhepunkt feststellen lässt, hat vermutlich damit zu tun, dass die Frage nach Kontinuität und Wandel hier besonders akut und dringlich war. Naoko Matsumoto, die den „Peak“ für das Jahr 1808 mittels der Veröffentlichungsdaten der ihr bekannten Schriften zum Thema errechnet hat, hält es auch für möglich, dass die allgemeine Aufbruchsstimmung und die noch optimistischen Ausdeutungen des napoleonischen Programms in diesem Zeitraum zu einer Steigerung der konzeptuellen Überlegungen zum Polizeibegriff geführt haben. Die Zentralisierung der Staatsgewalt, die sich mit der Ausbreitung der napoleonischen Einflusssphäre im deutschsprachigen Raum schlagartig vollzog, könnte ebenfalls Ursache für den starken Diskussionsbedarf rund um den Begriff der Polizei gewesen sein: mit den veränderten Verhältnissen wandelte sich die Bedeutung von Polizei, hinter der man jetzt vor allem die von der alles dominierenden Staatsmacht gesteuerte Behörde zu ←57 | 58→sehen begann. Die zuvor koexistierenden verschiedenen Verständnisebenen – wie etwa Polizei als gute Ordnung und Gemeinwohl, als Ausdruck des Zustands eines Staates, allgemeine polizeiliche Gesetzmäßigkeiten, die Wissenschaft der Polizei, die Anstalt oder Behörde oder die ausübende Gewalt163 – fokussierten sich auf die eine Bedeutung der Polizei als vollziehendes Organ der Staatsgewalt. Allein im Wort „hohe Polizei“ waren also der neue Zentralismus und die Entmachtung der mediatisierten Fürsten zugunsten neuer Regenten symbolisiert.164 In jedem Fall unterstreicht das hohe Aufkommen an schriftlichen Abhandlungen in diesem Zeitraum die Bedeutung der Polizei im Staatsgefüge aus Sicht der Untertanen.

Die zeitgenössischen Bemühungen um eine Grenzbestimmung165 zwischen der hohen und der in französischen Weisungen niemals erwähnten, weil in Frankreich so nicht existenten, niederen Polizei166 hatten unbedingt politischen Charakter. Hier ging es letztlich um den Erhalt tradierter Rechte in Bereichen, die vor den machtpolitischen Umwälzungen unabhängig vom jeweiligen Regenten bestanden hatten. Die Aufmerksamkeit, die der niederen Polizei in Debatten und schriftlichen Abhandlungen jetzt zuteil wurde, zollte dem Bestreben Rechnung, die Komplexe „der von Landesherren nicht direkt verwalteten polizeilichen Gestaltungen“167 vor einem neuen landesherrlichen Anspruch zu bewahren. Indem der Adel weiterhin Vorrechte über die ihm zuvor unterstehenden Domänen genoss, bewahrte er sich auch Rechte über die diesen Räumen inhärenten Regelungen bezüglich der niederen und mittleren Gerichtsbarkeit in Zivil- und Kriminalsachen, ebenso die Gerichtshoheit und Polizei im Bereich der Forsten, der Jagd, des Fischfangs und des Bergbaus und das Recht auf Abgabenerhebung.168 Von Interesse waren dabei ←58 | 59→wohl insbesondere die finanziellen Vorteile über die Hoheit von Taxen, Sporteln und Strafgeldern.169

Dass die „Grenzlinien zwischen der Hohen und Niederen“170 aber nicht einfach mit den polizierten Räumen und einer Aufsplitterung in lokale und überregionale Bereiche erklärbar waren, sondern dass die bisherigen Einteilungen mit komplexen Hierarchien zu tun hatten, die umso schwieriger zu fixieren waren, als auch schon der einfache Begriff der Polizei nicht klar greifbar zu sein schien, war auch vielen der diskussionsfreudigen damaligen Rechtswissenschaftler klar. Gleichwohl wurde in den zeitgenössischen Diskursen und wohl auch in der Alltagspraxis häufig von einer Trennung zwischen einem lokalen Einflussbereich für die niedere Polizei und einem übergeordneten landesweiten Zuständigkeitsbereich für die hohe Polizei ausgegangen. Diese Vorstellung ging fließend über in die Annahme, der eine Part der Polizei kümmere sich um „hohe Belange“, der andere um einfache Angelegenheiten. Diese Definition findet sich auch noch bei den Untertanen des Königreichs Westphalen.171

De facto jedoch kannte das französische Recht keine niedere Polizei, die deutschen Debattanten gingen also häufig von falschen Kontexten aus, nämlich denen ihres eigenen, bisherigen Umfelds.172 Sie übersetzten den französischen Begriff der „haute police“ ihrem eigenen System entsprechend mit „hoher“ oder „höherer Policey“. Im Königreich Westphalen fächerte sich die Polizei ganz anders auf in eine Munizipalpolizei und eine hohe Polizei, deren Belange im ersten Fall vor den Friedensgerichten verhandelt wurden, im zweiten Fall vor den höheren ←59 | 60→Gerichtsinstanzen. Zu den aus der Archivrecherche gewonnenen Erkenntnissen dieser Arbeit gehört es jedoch, dass jede Klassifizierung hierzu unbefriedigend bleiben muss, weil sich wirkliche Abgrenzungen zwischen den Polizeitypen im Königreich Westphalen ebenso wenig in der Praxis bestätigen, wie Grenzen in den Zuständigkeitsbereichen.

Die Terminologie der französischen „haute police“ bezeichnete ursprünglich eine Einrichtung mit dem Ziel der Sicherheitsbewahrung gegen innere Feinde.173 In der Zweckbeschreibung der westphälischen Einrichtung einer „haute police“ oder „höhern Polizey“, so Wortlaut und Schreibweise im ersten hierzu von König Jérôme erlassenen Dekret vom 18. September 1808,174 sucht man indes vergebens nach einer Differenzierung zwischen äußerem und innerem Feind. Allein in den ersten Anweisungen des neuen Generaldirektors an die ihm untergeordneten Akteure wird das Kerninteresse der Behörde benannt, nämlich die Herrschaftssicherung:

„Die Worte: Hohe Polizei, allgemeine Polizei, begreifen insbesondere diejenige Polizei, deren Zweck ist, Verbrechen gegen den Staat oder die heilige Person des Königs zu verhüten; treulose Eingebungen der Feinde der westphälischen Nation zu erforschen und zu entdecken, die die Absicht haben möchten, das leichtgläubige Volk in nicht zu berechnendes Unglück zu stürzen […].“175

Diese Beschreibung war freilich nur für den internen Gebrauch vorgesehen.176 In dem königlichen Erlass vom 18. September zur Bekanntgabe der Errichtung einer hohen Polizei wurde dagegen nicht zur Sprache gebracht, dass es dezidiert um die Sicherheit von Staat und König ging, vielmehr wird hier „die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Ruhe“ zum Hauptziel der neuen Institution ←60 | 61→deklariert.177 Die Zuständigkeiten der westphälischen hohen Polizei waren also ebenso vage benannt wie umfänglich und unbegrenzt.

Zusätzlich lässt sich beobachten, dass im Laufe der westphälischen Herrschaft die Bedeutungen von „hoher Polizei“ und „geheimer Polizei“ ineinander übergehen, was wiederum eindeutige Rückschlüsse auf die Aufmerksamkeit erlaubt, die dem nur vermeintlich unsichtbaren und unbekannten Behördenzweig entgegengebracht wurde. Der Jurist Georg Ludewig Caspari, der 1813 im Auftrag der preußischen Nachfolgeregierung nach Papieren der westphälischen Polizei recherchierte, sprach von der „geheimen und hohen Polizei“ in einem Atemzug.178 Die Agenten waren in seiner Vorstellung wiederum „bey der geheimen Polizey“ angestellt.179 Dieses Phänomen lässt sich auch längerfristig und für die rückblickende Bewertung feststellen. Während das seit 1805 von Friedrich Arnold Brockhaus herausgegebene „Conversations-Lexikon oder Hand-Wörterbuch für die gebildeten Stände“ in der Ausgabe von 1817 im Artikel „Polizei, Polizeiwissenschaft“ das „Mittel der geheimen Polizei“ und das „System der Spionerie“ eher randläufig im Abschnitt über „die sogenannte hohe Polizei“ erwähnt,180 findet sich in der Auflage des Jahres 1827 neben dem Beitrag „Polizei, Polizeiwissenschaft“ ein eigenes Lemma zum Thema „Polizei, geheime“,181 die „hohe Polizei“ dagegen wird nicht mehr besprochen. Wohlgemerkt geht es in beiden Kontexten um das französische Polizeisystem. Einerseits dokumentiert dies also die Interessensverschiebung, andererseits wohl aber auch die mittlerweile als fließend empfundenen Übergänge der Begrifflichkeiten.182

Jeanne-Laure Le Quang hat die hohe Polizei als „une sorte de police ‚introuvable‘“ definiert, weil sie mit keiner Institution korrespondiere, sondern lediglich ←61 | 62→über Ausdrücke wie den „mesures de haute police“ greifbar werde.183 Im Bezugsraum des Königreichs Westphalen sind die Verhältnisse genau gegenläufig: Während hier ein fester Behördenstamm als „hohe Polizei“ tituliert wird, ist der Begriff „par mesure de haute police“ in den Quellen nicht nachweisbar.

Der Begriff des Beamten wird hier so übernommen, wie er in den zeitgenössischen Quellen benutzt wird und bezeichnet Staatsangestellte aller Bereiche und Ministerien. In der zeitgenössischen Begriffsdeutung gab es Militär- und „Civilbeamte“, letztere wurden auch als öffentliche Beamte bezeichnet. Diese Gruppe wiederum splittete sich auf in unterschiedliche Hierarchieebenen, also höhergestellte Staatsbeamte verschiedener Art auf der einen Seite, auf der anderen „Unterbeamte“, „Lokalbeamte“, „Orts-“ und „Municipal-Beamte“. Von Beamten ist dann auch in unterschiedlichsten Berufsgruppen die Rede, etwa bei „Polizeybeamten“, „Verwaltungsbeamten“, „Justiz-Beamten“, „Steuerbeamten“, „Gesundheits-“ und Medicinal-Beamten“, „Forstbeamten“ und „Postbeamten“.

6. Gliederung

Nur der Beginn dieser Arbeit, der die mehrfach korrigierten, den jeweiligen Zeitbedürfnissen immer wieder angepassten Behördenstrukturen der Polizei im Königreich Westphalen offenlegt und die unterschiedlichen Perioden der Polizeiarbeit zu gewichten versucht, folgt einem chronologischen Aufbau. Die Recherche gliedert sich ansonsten über die Hierarchien der Polizeiakteure: Sie arbeitet sich von der Ebene der Minister, Generaldirektoren, Generalkommissare und Kommissare über mittelbare Polizeiakteure wie den an den offiziellen Kontrollapparat angebundenen Verwaltungsbeamten hinunter zu geheimen Agenten, die oftmals nur vorübergehend der Staatsmacht dienten und nicht immer überhaupt in einem regelrechten Dienstverhältnis zu einem Staatsdiener standen. Die Kapitel nehmen sich dabei jeweils eines Sektors an: Kapitel III fragt nach den Strukturen innerhalb der offiziellen Polizeibehörde. Dabei werden regionale Besonderheiten zugunsten der regulären Struktur vernachlässigt.184 Hier sollen auch die Techniken und Vorgehensweisen der Beamten herausgearbeitet und übergeordnete Strategien der Kontrolle erörtert werden, etwa die Bedeutung von Netzwerken und der Umgang mit Gerüchten und Denunziationen. Kapitel IV ist denjenigen Behörden und Ämtern gewidmet, deren Tätigkeitsprofil zwar Überwachungsmaßnahmen enthielt, die dem offiziellen Polizeiapparat aber nicht angehörten. Dass der Fokus hier ←62 | 63→auf den Verwaltungsangestellten liegt, ist in erster Linie eine interessengeleitete Wahl, denn über die hierarchisch niedrig stehenden Vertreter dieser Gruppe lässt sich mustergültig das Aufeinandertreffen von obrigkeitlichem Machtanspruch und Resilienzen vor Ort untersuchen. Interessante Entdeckungen hätten sich aber sicherlich auch ergeben, wäre für die Untersuchung der Interaktion zwischen Polizei und anderen staatlichen Einrichtungen im Königreich Westphalen der Fokus stärker auf den juristischen Sektor gelenkt worden. Hierfür allerdings hätten weitere Quellen erschlossen werden müssen, nämlich die Dokumente der Gerichtshöfe und Tribunale. Möglicherweise würde sich hier ein neues eigenes Forschungsfeld auftun. Auf der Basis der Polizeiakten zumindest lässt sich darauf schließen, dass die westphälischen Juristen weniger komplementär zu dem Polizeiapparat arbeiteten als die Verwaltungskräfte und vielmehr einen zweckmäßigen Gegenpol zu diesem darstellten. Das fünfte Kapitel schließlich beleuchtet den inoffiziellen Sektor der Polizei, bestehend aus geheimen Agenten und Gelegenheitsspitzeln.

←63 | 64→

1 „Das Königreich Westphalen, offen zu allen Seiten, in Kontakt mit England, in wechselseitiger Beobachtung mit den Souveränen, die es ausgeraubt hat […], zusammengesetzt aus verschiedenen Völkern, die sich nur in einem Punkt einig sind, nämlich dem eines konzentrierten Hasses gegenüber den Franzosen, ihren Institutionen und ihrer Dynastie, dieses Königreich Westphalen ist aus all diesen Gründen das Land, in dem man eine hohe Polizei am wenigsten entbehren kann.“ MAEE, CP 140/1, Bl. 228, Mémoire Pour le Royaume de Westphalie, et notamment sur les postes, envisagées sous le rapport de la sureté de l’État, Frankfurt, 10/11/1810. Um den Text nicht übermäßig auszudehnen wird im Folgenden darauf verzichtet, Zitate zu übersetzen. Veraltete Schreibweisen, regionale Besonderheiten, aber auch Rechtschreibfehler und grammatikalische Ungenauigkeiten sind möglichst übernommen worden.

2 Die zum Königreich Westphalen zusammengefassten Gebiete ebenso wie territoriale Verschiebungen zwischen 1807 und 1813 werden schematisch dargestellt in den Karten 1–3 im Anhang zu dieser Arbeit. In einem zeitgenössischen Schulbuch werden gut strukturiert die einzelnen Territorien aufgelistet, die zum neugeschaffenen Königreich Westphalen gehörten: Justus Gottfried Reinhardt, Der kleine Westphale oder geographisches Lehrbuch über das Königreich Westphalen. Zum Unterrichte in Bürgerschulen, Halle 1808, S. 2–15. Dem Autor, einem offenkundig modernisierungsfreudigen und von der Aufbruchsstimmung mitgerissenen Lehrer aus Mühlhausen im Departement des Harzes, gelingt es hier, die Betitelung des neuen Reiches als regelrecht logisch erscheinen zu lassen. Ebd., S. 1 f.: „Von der Benennung Westphalen“. De facto hatten das napoleonische Königreich und das historische Westfalen geographisch verhältnismäßig wenige Überschneidungen. Vgl. Museumslandschaft Hessen Kassel (Hg.), „König Lustik!?“ Jérôme Bonaparte und der Modellstaat Königreich Westphalen, München 2008, S. 216 f., Nr. 48 und 49.

3 „Le bonheur de vos peuples m’importe, non seulement par l’influence qu’il peut avoir sur votre gloire et la mienne, mais aussi sous le point de vue du système général de l’Europe.“ AN Paris, AF/IV/874, Fontainebleau, 15/11/1807. Abgedruckt z. B. in Correspondance de Napoléon Ier, publiée par ordre de l’empéreur Napoléon III., Bd. 16, Paris 1865, S. 166, Nr. 13361. Eine Übersetzung und Interpretation des Schreibens bringt u. a. Horst Möller, Fürstenstaat oder Bürgernation: Deutschland 1763–1815, Berlin 1989, S. 595.

4 Auch der Einsatz napoleonischer Familienmitglieder als Regenten war hier wie anderswo natürlich Teil der herrschaftssichernden Strategie und hatte wenig mit den Neigungen des „korsischen Familienmenschen Napoleon“ zu tun. Zitat bei Arnulf Krause, Der Kampf um Freiheit. Die Napoleonischen Befreiungskriege in Deutschland, Stuttgart 2013, S. 81.

5 Helmut Berding, Napoleonische Herrschafts- und Gesellschaftspolitik im Königreich Westphalen 1807–1813, Göttingen 1973, S. 20 ff.; ders., Das Königreich Westphalen als Modellstaat, in: Lippische Mitteilungen aus Geschichte und Landeskunde 54 (1985), S. 181–193; Rainer Wohlfeil, Napoleonische Modellstaaten, in: Wolfgang von Groote (Hg.), Napoleon I. und die Staatenwelt seiner Zeit, Freiburg 1969, S. 33–57; Bettina Severin, Modellstaatspolitik im rheinbündischen Deutschland. Berg, Westfalen und Frankfurt im Vergleich, in: Francia 24 (1997) 2, S. 181–203. Dass das Konzept des Modellstaates auch vor seiner ausführlichen Erforschung in der Geschichtsschreibung reflektiert wurde, zeigt sich unter anderem in regionalen Studien, z. B. Rudolf Schrader, Chronik der Stadt Bielefeld, Berlin 1937, S. 44 f.

6 Die Exclamatio „Soyez roi constitutionnel“ im Brief Napoleons vom 15. November 1807 gehört wahrscheinlich zu den meistzitierten Sätzen im Zusammenhang mit der Staatsgründung des Königreichs Westphalen.

Details

Seiten
776
Jahr
2023
ISBN (PDF)
9783631904572
ISBN (ePUB)
9783631904589
ISBN (Hardcover)
9783631889725
DOI
10.3726/b20977
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (Juni)
Schlagworte
Westphalia society and power Gender studies
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2023. 776 S., 7 s/w Abb.

Biographische Angaben

Maike Bartsch (Autor:in)

Maike Bartsch ist im Bereich der politischen Bildung tätig. 2018 schloss sie ihre Promotion in Neuerer und Neuester Geschichte an der Universität Kassel ab, gefördert durch die Fritz Thyssen Stiftung. Weitere Forschungs- und Interessenschwerpunkte sind Erinnerungskulturen und vergleichende deutsch-französische Geschichte.

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Titel: Macht und Ohnmacht
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