Morpho(phono)logische Variation im Luxemburgischen
Eine variations- und perzeptionslinguistische Studie
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- Abkürzungsverzeichnis
- 1 Forschungsvorhaben und Ziel der Arbeit
- 2 Variationslinguistische Analyse
- 2.1 Variationslinguistik: Ein Abriss
- 2.1.1 Sprachvariation als Forschungskonzept
- 2.1.1.1 Inter- und intraindividuelle Variation
- 2.1.2 Sprachwandel als Forschungskonzept: Grammatikalisierung, Analogie und Reanalyse
- 2.2 Methodik
- 2.2.1 Erhebungsmethode:
- 2.2.1.1
- 2.2.1.2
- 2.2.1.3 Gewährspersonen (GWPs)
- 2.2.1.4 Methodenreflexion
- 2.2.2 Analysemethoden und Untersuchungsziel
- 2.2.2.1 Distributionelle Analyse
- 2.2.2.2 Statistische Analyse
- 2.2.2.3 Komplementäre Korpusanalyse
- 2.3 Ergebnisse I: Nominalmorphologie
- 2.3.1 Das Adjektiv
- 2.3.2 Der Superlativ
- 2.3.2.1 Variationsparadigma
- 2.3.2.2 Gebrauchsstrukturen
- 2.3.2.2.1 Die interindividuelle Variationsdimension
- 2.3.2.2.2 Die intraindividuelle Variationsdimension
- 2.3.2.3 Zusammenfassung – Superlativ
- 2.3.3 Die Ordinalzahl
- 2.3.3.1 Die Analyse der Flexionsendungsprozesse der Ordinalzahl
- 2.3.3.1.1 Die interindividuelle Variationsdimension
- 2.3.3.1.2 Die intraindividuelle Variationsdimension
- 2.3.3.2 Zusammenfassung – Ordinalzahl
- 2.3.4 Das departizipiale Adjektiv
- 2.3.4.1 Variationsparadigma
- 2.3.4.2 Analyse der Flexionsendungsprozesse
- 2.3.4.2.1 Interindividuelle Variationsdimension
- 2.3.4.2.2 Intraindividuelle Variationsdimension
- 2.3.4.3 Zusammenfassung – departizipiales Adjektiv
- 2.3.5 Das Pronominaladverb
- 2.3.5.1 Nicht erweiterte vs. erweiterte Form
- 2.3.5.2 Variierende Pronominaladverbien in LOD und LWB
- 2.3.5.3 Analyse der variablen Pronominaladverbformen
- 2.3.5.3.1 Interindividuelle Variationsdimension
- 2.3.5.3.2 Intraindividuelle Variationsdimension
- 2.3.5.4 Zusammenfassung – Pronominaladverb
- 2.3.6 Die Pluralallomorphie
- 2.3.6.1 Überblick über die Pluralbildung
- 2.3.6.2 Pluralbildung im Spannungsfeld zwischen Komplexität und Natürlichkeit
- 2.3.6.3 Variation der Pluralallomorphie
- 2.3.6.4 Analyse der Pluralallomorphie
- 2.3.6.4.1 Interindividuelle Variationsdimension
- 2.3.6.4.2 Intraindividuelle Variationsdimension
- 2.3.6.5 Zusammenfassung – Pluralallomorphie
- 2.4 Ergebnisse II: Verbalmorphologie
- 2.4.1 Das Partizip II im luxemburgischen Verbalsystem
- 2.4.2 Die Analyse variabler Partizip II-Formen
- 2.4.2.1 Starke Verben mit variablem Nasalsuffix
- 2.4.2.1.1 Interindividuelle Variationsdimension
- 2.4.2.1.2 Intraindividuelle Variationsdimension
- 2.4.2.2 Starke Verben mir variablem Vokalwechsel und/oder Dentalsuffix
- 2.4.2.2.1 Interindividuelle Variationsdimension
- 2.4.2.2.2 Intraindividuelle Variationsdimension
- 2.4.2.3 Schwache Verben mit variablem Dentalsuffix
- 2.4.2.3.1 Interindividuelle Variationsdimension
- 2.4.2.3.2 Intraindividuelle Variationsdimension
- 2.4.2.4 Verben mit variablem Rückumlaut
- 2.4.2.4.1 Interindividuelle Variationsdimension
- 2.4.2.4.2 Intraindividuelle Variationsdimension
- 2.4.2.5 Detailanalyse:
- 2.4.2.5 Zusammenfassung – Partizip II
- 3 Perzeptionslinguistische Analyse
- 3.1 Perzeptionslinguistische Theorien und Konzepte
- 3.1.1 Salienz und Pertinenz als Basiskategorien des Hörerurteils
- 3.1.2 Sprachwissen als Forschungskonzept
- 3.2 Methodik
- 3.2.1 Erhebungsmethode: Sprachproduktions- und Perzeptionstest (SPPT)
- 3.2.1.1 Untersuchungsziel
- 3.2.1.2 Teilnehmer:innen
- 3.2.1.3 Aufbau und Konzeption
- 3.2.1.4 Sprachproduktionsexperiment
- 3.2.1.5 Sprachperzeptionstest
- 3.2.2 Analysemethoden
- 3.2.2.1 Bivariate Datenanalyse
- 3.2.2.1 Qualitative Inhaltsanalyse und Clusteranalyse
- 3.2.2.2 Kodierleitfaden und Kategoriensystem
- 3.2.3 Methodenreflexion
- 3.3 Wahrnehmung morpho(phono)logischer Variation
- 3.3.1 Ergebnisse der quantitativen Analyse – Salienz
- 3.3.1.1 Merkmalzentrierte Sicht
- 3.3.1.2 Hörerzentrierte Sicht: Salienz als individuelles Konzept
- 3.3.2 Ergebnisse der quantitativen Analyse – Pertinenz
- 3.3.2.1 Normative Präferenz morphophonologischer Varianten
- 3.3.2.2 Merkmalzentrierte Sicht: Der Zusammenhang von Salienz und normativer Evaluation
- 3.3.2.3 Hörerzentrierte Sicht: Normative Bewertung als individueller Evaluationsprozess
- 3.3.3 Ergebnisse der qualitativen Analyse
- 3.3.3.1 Analyse des Sprachvariationswissens
- 3.3.3.2 Codelandkarte des Sprachvariationswissens
- 3.3.3.3 Analyse des Sprachnormwissens
- 3.3.3.4 Codelandkarte des Sprachnormwissens
- 3.3.4 Synthese der Wahrnehmung morphophonologischer Variation
- 3.3.4.1 Die quantitative Analyse
- 3.3.4.2 Die qualitative Analyse
- 4 Synthese der variations- und perzeptionslinguistischen Studie
- 5 Ausblick
- Anhang
- A. Schnëssen-Items
- B. Liste der analysierten Variablen inkl. ihrer berücksichtigten Merkmalsausprägungen
- B.I Superlativ
- B.II Ordinalzahl/Adjektiv
- B.III Departizipiales Adjektiv
- B.IV Pronominaladverb
- B.V Plur al
- B.VI Partizip Perfekt
- C. Stimuli SPrT
- D. Stimuli SPeT
- Abbildungsverzeichnis
- Tabellenverzeichnis
- 6 Bibliografie
1 Forschungsvorhaben und Ziel der Arbeit
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit morphophonologischer Variation im Luxemburgischen und verfolgt dabei zwei Hauptziele: Erstens sollen ausgewählte, zu einem großen Teil noch unerforschte Phänomene auf Grundlage eines umfangreichen Sprachdaten-Korpus systematisch beschrieben und im Hinblick auf ihre Variation detailliert analysiert werden. Zweitens will die Forschungsarbeit mithilfe eines maßgeschneiderten Testverfahrens eruieren, wie die analysierten Variationsphänomene von Luxemburgisch-Sprecher:innen wahrgenommen und bewertet werden. Die Dissertation liefert somit nicht nur einen wichtigen Beitrag dazu, morpho(phono)logische Variation und somit auch Wandelprozesse im Luxemburgischen besser zu verstehen, sondern auch die Etablierung der perzeptionslinguistischen Forschungsdimension innerhalb der Luxemburgistik voranzutreiben.
Variationslinguistische Analyse morphophonologischer Sprachphänomene: Im ersten Teil der Arbeit liegt der Fokus auf der variationslinguistischen Analyse von insgesamt zehn kaum erforschten bzw. bislang unerforschten Phänomenen aus dem Bereich der Nominal- und Verbalmorphologie, die sich allesamt durch das variable Auftreten eines Morphems oder Morpho- Phonems auszeichnen (s. Tabelle 1). Im Bereich der Nominalmorphologie liegt das Augenmerk zu Beginn auf der Variation im Bereich der Adjektivflexion. Dazu gehört die Variation von Flexionsendungsprozessen des Superlativs (dat schéinst vs. dat schéinst-en vs. dat schéinst-en-t Haus „das schönste Haus“1), der Ordinalzahl (dei véiert vs. déi véiert-en Etapp „die vierte Etappe“), des departizipialen Adjektivs (e gefëllten vs. e gefëllten-en Deeg „ein gefüllter Teig“) und attributiven Adjektiven im starken Dativ im Plural (mat rout Drauwen vs. mat roud-en Drauwen „mit roten Trauben“). Anschließend liegt das Augenmerk auf der variablen prosodischen Erweiterung von Pronominaladverbien (domat vs. domadder „damit“) und der Schwankungsfällen in der Pluralallomorphie (Busser vs. Bussen „Busse“, Clibb vs. Clubben „Clubs“, Fans vs. Fanen „Fans“, Wierfel vs. Wierfelen „Würfel“). Im Bereich der Verbalmorphologie steht das variable Partizip II (im Folgenden PPII) im Mittelpunkt. Dabei werden starke Verben mit variablem Nasalsuffix (gehal vs. gehal-en „gehalten“), schwache Verben mit variablem Dentalsuffix (gemaach vs. gemaacht „gemacht“), starke Verben mit variablem Vokalwechsel (VW) und/oder Dentalsuffix (geroch vs. gericht „gerochen“) und Rückumlautverben mit variablem Vokalwechsel (gebutt vs. gebitzt „genäht“) fokussiert. Die Variationsphänomene und somit auch deren Analyse sind dabei im Spannungsfeld von Morphologie und Phonologie anzusiedeln. Nicht nur morphologische (z. B. Genus), sondern auch phonologische (z. B. Sonorität) sowie prosodische Faktoren (z. B. Betonung) finden Einzug in die variationslinguistische Studie.2
Wortart | Phänomen | Beispiel | |
---|---|---|---|
Nominalmorphologie | Substantiv | Pluralallomorphie [Plural] | D’Kanner hunn an den iwwerfëllte Busser/Bussen gesongen. ‚Die Kinder haben in den überfüllten Bussen gesungen.‘ |
Pronominaladverb | prosodische Erweiterung [PronAdv] | Hal elo endlech op domat/domadder!. ‚Hör jetzt endlich auf damit!‘ | |
Adjektiv | Flexionsendungsprozesse Superlativ [SUP] | De Claude Schmit huet dat schéinst/schéinsten/schéinstent Haus am Duerf. ‚Claude Schmit hat das schönste Haus im Dorf.‘ | |
Flexionsendungsprozesse Ordinalzahl [ORD] | De Gaviria huet déi véiert/véierten Etapp vun der Tour de France gewonnen. ‚Gaviria hat die vierte Etappe der Tour de France gewonnen.‘ | ||
Flexionsendungsprozesse departizipiales Adjektiv [dep.Adj] | Keefs du mir wannechgelift e gefëllten/gefëlltenen Croissant. ‚Kaufst du mir bitte ein gefülltes Croissant.‘ | ||
Flexionsendungsprozesse attributives Adjektiv [Adj.Datst.Pl] | Hien huet mech mat rout/rouden Drauwen iwwerrascht. ‚Er hat mich mit roten Trauben überrascht.‘ | ||
Verbalmorphologie | Verb | starke Verben mit variablem Nasalsuffix [PPII(-en)] | E Samschden huet d’Buergermeeschtesch eng Ried gehal/gehalen. ‚Am Samstag hat die Bürgermeisterin eine Rede gehalten.‘ |
schwache Verben mit variablem Dentalsuffix [PPII(-t)] | Mäi Bouf huet ganz eleng Paangescher gemaach/gemaacht. ‚Mein Sohn hat ganz allein Pfannkuchen gemacht.‘ | ||
starke Verben mit variablem VW und/oder Dentalsuffix [PPII(+ VW(+en))/ ؘ – VW(+t)] | Hues du déi frësch Rouse geroch/gericht. ‚Hast du die frischen Rosen gerochen?‘ | ||
Rückumlautverben mit variablem Vokalwechsel [PPII(ؘRU)] | Eng Fra huet um Freideg déi schwaarz Räck gebitzt/gebutt. ‚Eine Frau hat am Freitag die schwarzen Kleider genäht.‘ |
Wie bereits angedeutet, handelt es sich bei den Items in Tabelle 1 um Variationsphänomene, die bislang nur wenig bzw. noch gar keine Berücksichtigung in Forschungsarbeiten gefunden haben. Dies gilt zum einen in Bezug auf strukturelle Beschreibungen und Untersuchungen und zum anderen mit Blick auf empirische Analysen. Als Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit dient die vorhandene Literatur, bei der es sich einerseits um im 20. und 21. Jahrhundert entstandene Grammatiken3 (vgl. Bruch 1955; Keller 1961; Christophory 1974; Braun et al. 2005; Schanen/Zimmer 2012) und andererseits um in den letzten Jahren publizierte Forschungsbeiträge (vgl. Dammel/Kürschner/Nübling 2010; Gilles 2011b; Entringer 2017; Döhmer 2020) handelt. So ist es auf der einen Seite – z. B. im Bereich der Verbalmorphologie – möglich, an bereits vorhandene Forschungsarbeiten anzuschließen (vgl. u. a. Gilles 2011b), während auf der anderen Seite – z. B. bei der prosodischen Erweiterung von Pronominaladverbien – ein erster Schritt gewagt wird, das Variationsphänomen systematisch zu beschreiben und zu erforschen. Als Datengrundlage für die Analyse dieser Variationsphänomene dient ein umfangreiches Korpus von insgesamt knapp über 80.000 Sprachaufnahmen, die mithilfe der mobilen Applikation Schnëssen4 seit April 2018 gesammelt wurden. Im Rahmen der variationslinguistischen Analyse kommt neben der Analyse der interindividuellen auch der intraindividuellen Variationsebene eine wichtige Rolle zu.
Perzeptionslinguistische Studie: Im Bereich der Luxemburgistik wurden zwar bereits Perzeptionsstudien durchgeführt, die z. B. die Einstellungen gegenüber Mehrsprachigkeit in Luxemburg untersucht haben (vgl. Purschke 2020) oder die diese Dimension kurz in variationslinguistischen Studien anreißen (vgl. Conrad 2017), allerdings greifen in der vorliegenden Arbeit in Anlehnung an Projekte aus dem deutschsprachigen Raum u. a. Projekt „Sprachvariation in Norddeutschland“ (SiN) beide Forschungsperspektiven (Sprachproduktion und Sprachperzeption) ineinander. Durch die komplementäre Fokussierung der perzeptionslinguistischen Dimension legt die vorliegende Dissertation auch das Sprachwissen offen, das durch Modifikationen innerhalb der Interaktion sprachdynamische Prozesse ebenfalls vorantreibt bzw. durch Stabilisierung den Variantengebrauch konsolidiert. Als theoretische Grundlage dienen hier Purschkes Modell des Hörerurteils (2011) und die Konzepte des Sprachvariations- sowie des Sprachnormwissens. Diese Forschungsarbeit wird zeigen, dass die Einbeziehung einer perzeptionslinguistischen Dimension mit Fokus auf der Wahrnehmung und dem Sprachwissen der Sprecher:innen das Verständnis von Variation und sprachdynamischen Prozessen nicht nur erweitert, sondern vor allem bereichert.
Luxemburgische Vernakularsprache als Untersuchungsgegenstand: Das Untersuchungsgebiet dieser Arbeit umfasst den gesamten luxemburgischen Sprachraum, wobei der Fokus nicht auf den luxemburgischen Dialekten, sondern auf der luxemburgischen Vernakularsprache liegt. Gilles (2019) modelliert für das Luxemburgische ein Varietätensystem, das sich zwischen den beiden Polen einer neu entstehenden bzw. sich entwickelnden Standardsprache und den luxemburgischen Dialekten aufspannt (s. Abbildung 1). Die strukturelle Distanz zwischen dieser Standardvarietät und den Dialekten ist dabei nicht mehr groß, da sie sich im letzten Jahrhundert durch Standardisierungsprozesse und Dialektausgleich5 stark verringert hat. Heute überdacht die neu entstehende luxemburgische Standardsprache das Varietätensystem – d. h. die luxemburgische Vernakularsprache und die darunter zu verortenden lokalen Varietäten –, während Gilles (2019: 1052) zusätzlich eine partielle funktionale Überdachung6 durch das Deutsche und das Französische annimmt; es handelt sich folglich um eine komplexe Überdachungssituation7. Die erwähnte funktionale Überdachung durch das Deutsche und Französische äußert sich laut Gilles (2019: 1052) dabei vor allem in ihrer anhaltenden Dominanz in konzeptuell schriftlichen Bereichen und den reichhaltigen Entlehnungen in das Luxemburgische. Sie ist darauf zurückzuführen, dass die luxemburgische Standardsprache noch nicht vollends ausgebaut ist und noch nicht alle standardsprachlichen Funktionen übernimmt.8
Zwischen den beiden Polen der überdachenden Sprachen und der luxemburgischen Dialekte verortet Gilles (2019: 1053) eine „teilstandardisierte […] hochvariable Vernakularsprache“. Ihr wird ein hohes Prestige zugeschrieben und sie ist situativ kaum eingeschränkt (vgl. Gilles 2019: 1053). Nach unten kann die Vernakularsprache durch ihren geringen Dialektalitätsgrad, die situative Uneingeschränktheit, das hohe Prestige und die feste Etablierung im konzeptionell mündlichen Bereich9 von den Dialekten abgegrenzt werden. Nach oben hin ist eine solche Differenzierung (noch) schwierig, da es sich bei der luxemburgischen Vernakularsprache um eine emergente Varietät handelt. Wie u. a. Newton (2002), Gilles/Moulin (2003) und Stell (2006) unterstreichen, befindet sich das Luxemburgische nach wie vor erst am Anfang eines Standardisierungs- und Ausbauprozesses.10
Es ist allerdings absehbar, dass dieser Prozess in den nächsten Jahren weiter voranschreiten wird. Im Gesetz zur Förderung der Luxemburger Sprache (2018)11 wurde immerhin u. a. festgehalten, dass die Normierung und das Studium, aber auch die Vermittlung der luxemburgischen Sprache gefördert werden sollen. Um die erwähnte Normierung und Untersuchung der luxemburgischen Sprache gezielt weiterzubringen, wurde u. a. 2019 das Zenter fir d’Lëtzebuerger Sprooch (ZLS) geschaffen. Hier liegt der Fokus sowohl auf der Aktualisierung sowie Vermittlung von orthografischen Normen (D’Lëtzebuerger Orthografie) als auch auf der Dokumentation, Beschreibung und Normierung der Lexik (Lëtzebuerger Online Dictionnaire (LOD)) sowie der Grammatik. Auch wenn noch nicht absehbar ist, wie der Normierungsprozess weiter verlaufen und inwiefern er der Variabilität des Luxemburgischen Rechnung tragen wird, können die genannten Maßnahmen den Standardisierungs- bzw. Ausbauprozess beschleunigen.
Forschungsfragen: Mit Blick auf die variations- und perzeptionslinguistische Analyse der oben erwähnten Variationsphänomene in der luxemburgischen Vernakularsprache versucht die vorliegende Dissertation folgende Forschungsfragen zu beantworten:
- 1. Wie lassen sich die unterschiedlichen morphophonologischen Variationsphänomene auf empirischer Grundlage beschreiben? Welche Variationsmuster zeigen sich und wie lassen sie sich in ein Variationsparadigma integrieren?
- 2. Inwiefern haben linguistische und soziale Faktoren einen Einfluss auf den Gebrauch der unterschiedlichen morphophonologischen Varianten und inwiefern lassen sich Sprachwandeltendenzen erkennen (Apparent-Time- Analyse)?
- 3. Welche Rolle spielt Wahlfreiheit auf inter- und intraindividueller Variationsebene und was bedeutet dies für die Konzeptualisierung von Variation aus einer variationslinguistischen Perspektive? Inwiefern liegt eine Kategorisierung der Variation als konditioniert bzw. nicht konditioniert nahe?
- 4. Welche Rolle spielen die analysierte Variation bzw. die konkreten Varianten in der Wahrnehmung der Sprecher:innen? Inwiefern handelt es sich dabei um saliente bzw. pertinente sprachliche Merkmale?
- 5. Welche Rückschlüsse lassen das Sprachvariations- und Sprachnormwissen auf die Konzeptualisierung von Variation zu? Inwiefern wird Variation als Teil der Norm wahrgenommen bzw. sind unterschiedliche Varianten Teil sprecherindividueller Repertoires?
Aufbau der Studie: Um diese Fragen zu beantworten, baut die Arbeit auf zwei zentralen Säulen auf, die nacheinander fokussiert und am Ende zusammengeführt werden: einem variations- und einem perzeptionslinguistischen Ansatz. Der erste Teil (Kapitel 2) umfasst die variationslinguistische Studie. Hier erfolgt zu Beginn eine theoretische Kontextualisierung der Untersuchung (Kapitel 2.1) mit einem kurzen Überblick über die Grundzüge der Variationslinguistik (Kapitel 2.1.1). Dabei liegt der Fokus zunächst auf Sprachvariation und -wandel als Forschungskonzepte. Hier werden zum einen inner- und außersprachliche Faktoren skizziert, die im Rahmen der variationslinguistischen Analyse herangezogen werden, und zum anderen ausgewählte Sprachwandeltheorien (Grammatikalisierung, Analogie und Reanalyse) umrissen, auf die im Laufe der Forschungsarbeit punktuell zurückgegriffen wird, um die analysierten Variationsphänomene zu beschreiben und zu erklären. Anschließend erfolgt die Einführung und Diskussion der Forschungskonzepte der inter- und intraindividuellen Variation (Kapitel 2.1.2). Die Einbeziehung dieser Konzepte stellt sicher, dass die Analyse der Dynamik und der Komplexität des Luxemburgischen gerecht wird und die einzelnen Sprecher:innen nicht nur als Repräsentant:innen einer Gruppe, sondern auch als individuelle Sprecher:innen in die Betrachtung integriert werden. Kapitel 2.2 fasst die Methodik für die variationslinguistische Analyse zusammen. An dieser Stelle erfolgt ein Überblick über die Datenerhebung mithilfe der digitalen Applikation Schnëssen, das umfangreiche Schnëssen-Korpus und die Analysemethoden zur Untersuchung von inter- und intraindividueller Variation. In den beiden anschließenden Kapiteln (2.3 und 2.4) werden die morphophonologischen Variationsphänomene im Detail abgebildet und die Ergebnisse der Analyse präsentiert. Dabei liegt das Augenmerk zu Beginn darauf, die Variationsphänomene auf Basis einer breiten Datengrundlage systematisch zu beschreiben, anschließend potenzielle linguistische und/oder soziale Einflussfaktoren herauszuarbeiten und dabei zu eruieren, inwiefern es sich um konditionierte Variation handelt und welche Rolle das Konzept der Wahlfreiheit spielt sowie schließlich Rückschlüsse auf potenzielle sprachdynamische Prozesse zu ziehen. Hierfür wird für jedes analysierte Phänomen zuerst die interindividuelle und anschließend die intraindividuelle Variationsdimension fokussiert.
Da das Ziel der Arbeit neben der Beschreibung und Analyse der Variationsphänomene auch darin besteht, zu eruieren, ob und inwiefern diese Phänomene als Teil der (individuellen) Norm der Sprecher:innen konzeptualisiert werden können, schließt an die variationslinguistische Studie eine perzeptionslinguistische Analyse an. Auch hier werden zu Beginn Theorien und Konzepte eingeführt, die für die folgende Analyse relevant sind. Hierbei liegt der Fokus auf Purschkes (2011) Theorie des Hörerurteils (Kapitel 3.1.1) und dem Konzept des Sprachwissens (Kapitel 3.1.2). Diese Konzepte sind sowohl für den Aufbau des anschließend eingeführten Salienztests relevant, sind aber auch bei der Aufbereitung und Analyse der durch das perzeptionslinguistische Experiment gewonnenen Daten ausschlaggebend. Kapitel 3.2 widmet sich der Methodik im perzeptionslinguistischen Bereich. Hier wird zum einen die Datenerhebung mithilfe des eigens für diese Arbeit entwickelten Sprachproduktions- und Perzeptionstests (SPPT) beschrieben und die angewandten Analysemethoden (bivariate Datenanalyse, qualitative Inhaltsanalyse und Clusteranalyse) umrissen. Daran schließt die Präsentation und Diskussion der Ergebnisse der perzeptionslinguistischen Analyse an (Kapitel 3.3). Hier liegt der Fokus zunächst auf der quantitativen Analyse der Salienz- und Pertinenzwerte der getesteten Stimuli (Kapitel 3.3.1), bevor anschließend im Rahmen der qualitativen Analyse das Sprachwissen im Detail fokussiert wird (Kapitel 3.3.2). Dabei werden in dieser Präsentation die aus dem Salienztest gewonnenen Erkenntnisse mit den Ergebnissen aus der variationslinguistischen Analyse verknüpft und gemeinsam reflektiert sowie diskutiert. Die Synthese in Kapitel 4 führt die zentralen Ergebnisse der beiden Forschungsperspektiven, d. h. der variationslinguistischen Analyse aus Kapitel 2 und der perzeptionslinguistischen Analyse aus Kapitel 3 nochmals abschließend zusammen und versucht, die anfangs gestellten Forschungsfragen zu beantworten. Dabei liegt ein besonderer Fokus auf den unterschiedlichen Arten bzw. Dimensionen der Variation, die im Rahmen der Forschungsarbeit skizziert werden können. Diese Variationsarten sollen hier nochmals reflektiert werden, wobei durch das erwähnte Zusammenführen der beiden Analysestränge eine genauere Bestimmung der Variationsphänomene erfolgt: Inwiefern haben wir es mit morphophonologischer Variation zu tun? Inwiefern handelt es sich um konditionierte bzw. nicht konditionierte Variation? In welchem Maße und unter welchen Umständen wird diese Variation als Teil der (individuellen) Norm der Sprecher:innen akzeptiert? Kann man von einem pluralistischen Umgang mit Variation sprechen und bedeutet dies, dass keine Sprachrichtigkeitsideologie zu verzeichnen ist? An dieser Stelle zeigt sich nicht nur, inwiefern sich Variation und Perzeption der unterschiedlichen Variationsphänomene voneinander unterscheiden, sondern es wird zugleich deutlich, worin die Vorteile einer Kombination aus der variations- und perzeptionslinguistischen Analysedimension liegen. Mithilfe der perzeptionslinguistischen Daten können die Beobachtungen aus dem variationslinguistischen Teil der Forschungsarbeit untermauert bzw. differenziert werden. Der abschließende Ausblick in Kapitel 5 greift die offengebliebenen Fragen auf und hebt die vielen theoretischen und praktischen Herausforderungen sowie Anknüpfungspunkte dieser Dissertation hervor.
1 Im Fließtext sind die deutschen Übersetzungen der analysierten luxemburgischen Items nicht jedes Mal vermerkt. Eine Auswahl ist allerdings in tabellarischen Auflistungen im Rahmen der Präsentation der jeweils fokussierten sprachlichen Merkmale in den jeweiligen Kapiteln einzusehen. Im Anhang befindet sich des Weiteren eine komplette tabellarische Auflistung aller abgefragten Lexeme inkl. deutscher Übersetzung.
2 Zum Konzept der Morphophonologie s. Trubetzkoy (1931), Booij (2000) und Coates (2006).
3 Bei diesen Grammatiken ist u. a. zu bedenken, dass viele Beschreibungen nicht über eine empirische Grundlage verfügen.
Zur Problematisierung dieser Quellen s. Döhmer (2020: 15–21).
4 Bei Schnëssen handelt es sich um die erste mobile Applikation, die es ermöglicht, mithilfe unterschiedlicher Aufgabentypen (Bildbeschreibungsaufgabe, Übersetzungsaufgabe, Vorleseaufgabe, Frageaufgabe) luxemburgische Sprachaufnahmen zu sammeln und somit den gegenwärtigen Sprachgebrauch in all seinen Facetten zu erheben und zu dokumentieren.
5 Dialektausgleich meint Veränderungen in der Dialektgeografie in Form einer Homogenisierung der regionalen Variation. Für das Luxemburgische stellt Gilles (2006b) fest, dass phonetisch-phonologische Merkmale aus dem Zentralluxemburgischen vermehrt von Sprecher:innen aus anderen Regionen übernommen werden, was zu einer Nivellierung der arealen Variation führt.
6 Von funktionaler Überdachung spricht man, wenn Dialekte von einer nicht verwandten Sprache überdacht werden (vgl. Ammon 1994; Darquennes 2019).
7 Das ursprüngliche Konzept der Überdachung wurde durch Kloss (1952) geprägt und dient dazu, die Hierarchien im Varietätensystem zu identifizieren. Dieses Konzept wurde mit Blick auf mehrsprachige Sprachräume erweitert (vgl. u. a. Goossens 1977, Ammon 1994), so dass auch komplexe Überdachungsverhältnisse konzeptuell erfasst werden können.
8 Zieht man die vier Kernkomponenten der Sprachplanung nach Haugen (1966) heran, verfügt das Luxemburgische in den Bereichen der Korpusplanung und Prestigeplanung über den höchsten Standardisierungsgrad. So existieren eine kodifizierte orthografische Norm und auch die Kodifizierung der Lexik und Grammatik ist bereits vorangeschritten. Außerdem ist die gesellschaftliche Akzeptanz des Luxemburgischen recht hoch, während jedoch die Normakzeptanz nicht sonderlich ausgeprägt ist. Orthografische Normen werden jedenfalls oft nicht implementiert (s. u. a. soziale Netzwerke, rtl.lu und Flyer). Dies steht in direktem Zusammenhang mit dem eher niedrigen Standardisierungsgrad im Bereich der Erwerbsplanung. Auch wenn Luxemburgisch als Schulfach obligatorisch ist, stellt sich der Umfang des Unterrichts als sehr gering dar. Dennoch ist zu unterstreichen, dass Luxemburgisch von vielen Nicht-Muttersprachler:innen als Fremdsprache gelernt wird und auf ebendiese Vermittlung, v. a. außerhalb der Institution Schule, viel Wert gelegt wird. Dies sieht ähnlich im Bereich der Statusplanung aus. Die hier subsumierten Funktionsbereiche sind nicht vollständig ausgebaut. Vor allem im Bereich der konzeptionellen Schriftlichkeit fungieren eher Französisch und Deutsch als dominante Varietäten (vgl. Gilles 2011a: 58 f.).
9 Gilles (2011a) bietet einen detaillierten Überblick über die Entwicklung der Mündlichkeit und Schriftlichkeit des Luxemburgischen. Hier wird deutlich, dass sich das Luxemburgische seit dem 19 Jh. vor allem im Bereich der medialen Mündlichkeit ausgebreitet und etabliert hat, wobei sich durch die Ausweitung auf konzeptionell schriftliche Textsorten die mediale Diglossie verfestigen konnte.
10 S. dazu auch Fehlen (2015), Gilles (2015) und Gilles (2023).
11 Der gesamte Gesetzestext ist hier nachzulesen: https://legilux.public.lu/eli/etat/leg/loi/2018/07/20/a646/jo [letzter Zugriff: 17.05.2023].
Details
- Seiten
- 618
- Erscheinungsjahr
- 2024
- ISBN (PDF)
- 9783631907962
- ISBN (ePUB)
- 9783631915363
- ISBN (Hardcover)
- 9783631907955
- DOI
- 10.3726/b21964
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2024 (November)
- Schlagworte
- Luxemburgistik Variationslinguistik interindividuelle Variation intraindividuelle Variation Sprachwandel Perzeptionslinguistik Salienz Pertinenz qualitative Inhaltsanalyse Morphologie
- Erschienen
- Berlin, Bruxelles, Chennai, Lausanne, New York, Oxford, 202X., 618 S., 7 farb. Abb., 183 s/w Abb., 159 Tab.