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Die Aachener Heiligtumsfahrt im 19. Jahrhundert

Die Auseinandersetzungen um den Reliquienweisungsmodus bei den Heiligtumsfahrten der Jahre 1846 und 1853

von Volker Speth (Autor:in)
©2024 Monographie 246 Seiten

Zusammenfassung

Im Vorfeld der Aachener Heiligtumsfahrten der Jahre 1846 und 1853 wurde zwischen dem Aachener Stiftskapitel und den preußischen Behörden (1846) bzw. der Aachener Bürgerschaft (1853) über die Form der Reliquienvorzeigung gestritten. Während das Stiftskapitel, der offizielle Ausrichter der Heiligtumsfahrt, die Reliquien hauptsächlich im Münsterinnern den vorbeidefilierenden Pilgern zur Verehrung präsentieren wollte, konnten seine Kontrahenten dank der Intervention des Kölner Erzbischofs die Beibehaltung der traditionellen täglichen Reliquienzeigung von der Turmgalerie herab an die draußen auf den Umgebungsplätzen des Münsters harrenden Gläubigen durchsetzen. Diese wurde aber mit der vorangehenden (1846) bzw. anschließenden (1853) Reliquienausstellung im Münsterinnern kombiniert. Die 1853 gewählten Weisungsmodalitäten (Turmweisung am Vormittag, Reliquienpräsentation im Münsterinnern am Nachmittag) wurden für alle nachfolgenden Heiligtumsfahrten bis zum Ersten Weltkrieg übernommen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Einleitung
  • 2. Die Aachener Heiligtumsfahrt
  • 3. Die Heiligtumsweisung im Jahre 1846
  • 4. Die Heiligtumsweisung im Jahre 1853
  • 5. Zusammenfassung
  • 6. Quellenanhang I: Eingaben, Denkschriften und längere Schreiben
  • 7. Quellenanhang II: Behördliche Verlaufsberichte über Heiligtumsfahrten
  • Quellenverzeichnis (Akten)
  • Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„In ihrer vielhundertjährigen Geschichte ist die Heiligtumsfahrt wohl nie so leidenschaftlich Gegenstand heftiger Auseinandersetzung gewesen wie in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Im Vordergrund stand weniger die immer wieder aufbrechende Frage nach der Echtheit der Reliquien, sondern der Umgang mit der mittelalterlichen Tradition in einer sich stark wandelnden Umwelt. Die verantwortlichen Kanoniker des nunmehrigen Kollegiatstifts rangen um eine zeitgemäße Form des Ritus, trafen dabei jedoch auf den Argwohn staatlicher Stellen und den erbitterten Widerstand städtischer Kreise […].“1 Diesen Auseinandersetzungen um den Vorzeigemodus bei den Aachener Heiligtumsfahrten der Jahre 1846 und 1853, die bislang nur knapp und nicht immer richtig beschrieben wurden,2 ist die vorliegende historische Studie gewidmet, die damit einen weiteren Beitrag leisten will zur Erforschung des ‚klassischen‘ ultramontanen Katholizismus. Es geht im Kern um die Darstellung, weshalb, wie und mit welchem Erfolg das Aachener Stiftskapitel die öffentliche, unentgeltliche Ausstellung der Reliquien im Münsterinnern für die daran vorbeiziehenden Prozessionen nach dem Vorbild der Trierer Hl.-Rock-Wallfahrt von 1844 zum primären Weisungsmodus zu erheben versuchte, und wie es den dagegen ankämpfenden Akteuren, nämlich 1846 den staatlichen Behörden und 1853 der Aachener Bürgerschaft, nach teils heftigem Streit gelang, die Pläne des Stiftskapitels teilweise zu durchkreuzen und für die Beibehaltung der traditionellen, jahrhundertealten Reliquienweisung von der Turmgalerie herab an die auf den Umgebungsplätzen des Münsters harrenden Menschen zu sorgen, sodass sich schließlich eine Kombination der beiden Präsentationsformen durchsetzen konnte bzw. durchgesetzt wurde, welche für alle nachfolgenden Heiligtumsfahrten mindestens bis zum Ersten Weltkrieg als neuer normativer Zeigungsmodus übernommen wurde. Daneben werden die Methoden zur Lenkung des Zustroms von Aachenfahrern geschildert, denn die durch die neue Vorzeigeweise entstandene Notwendigkeit, große Menschenmengen durch das eigentlich enge Aachener Münster zu schleusen, warf große Organisations- und Kanalisierungsprobleme auf. Nicht behandelt werden die Sicherheitsvorkehrungen, insbesondere die Abordnung, die Verstärkung und der Einsatz von Polizei, Gendarmerie, Militär und Bürgerwachen, was naturgemäß in den staatlichen Akten einen breiten Niederschlag gefunden hat. Ebenso werden die materiellen Substrate und Artefakte, also die gewiesenen Reliquien selbst, die Devotionalien (z.B. Pilgerzeichen), der Domschatz mit seinen Reliquiaren und der Aachener Dom als Kirchenbau, in Anbetracht der darüber bereits existierenden Publikationsfülle und des thematischen Fokus der vorliegenden Studie kaum bis gar nicht thematisiert, was sich auch in den diesbezüglich stark selektiven bis fehlenden Literaturangaben äußert.

Die Aktenüberlieferung ist insgesamt als gut zu bezeichnen, da der zwischen dem Aachener Stiftspropst und dem Kölner Erzbischof geführte Schriftwechsel in den einschlägigen Akten des Bischöflichen Diözesanarchivs Aachen vollständig erhalten ist; lediglich die beim Präsidenten der Regierung Aachen eingegangenen Schreiben konnten nicht aufgefunden werden und müssen wohl als verloren gelten, was freilich dadurch relativiert bis aufgewogen wird, dass der Aachener Stiftspropst den Kölner Erzbischof über den von ihm mit dem Regierungspräsidenten geführten Schriftverkehr teils mittels Abschriften informierte und die vom Oberpräsidenten der Rheinprovinz an den Aachener Regierungspräsidenten gerichteten Schreiben im Entwurf überliefert sind. Verständniserschwerend sind freilich die überkomplexen und überlangen Satzkonstruktionen des Aachener Stiftspropstes Grosman, die zugegebenermaßen auch den Autor bisweilen etwas ratlos zurückgelassen haben.

Im Quellenanhang I sind die Gutachten, Petitionen und längeren Schreiben ‚ausgelagert‘, um nicht den Fußnotentext auf Kosten des Darstellungstextes zu sehr anwachsen zu lassen. Im Quellenanhang II sind von verantwortlichen staatlichen Amtsträgern, nämlich vom Aachener Polizeidirektor bzw. -präsidenten und von der Regierung Aachen bzw. dem Aachener Regierungspräsidenten verfasste Verlaufsberichte über Aachener Heiligtumsfahrten zwischen 1832 und 1909 wiedergegeben, soweit sie in diversen Akten aufgefunden werden konnten. Diese Berichte stehen zwar nicht in einem direkten Zusammenhang mit der Thematik der vorliegenden Untersuchung, sondern stellen gewissermaßen eine ‚Zugabe‘ dar, welche aber als eine Quellengrundlage für die künftige Erforschung der Aachener Heiligtumsfahrt sicherlich von Nutzen sein kann. Ansonsten bieten noch die einschlägigen Zeitungsartikel reichhaltige Information über den tatsächlichen Verlauf der Heiligtumsfahrten im 19. Jahrhundert. Für den Verlauf der Heiligtumsfahrt von 1846 sei außerdem noch auf den gewiss nicht unparteiischen, aber aufschlussreichen Bericht eines Zeitzeugen hingewiesen, des Aachener Priesters und Religionslehrers Carl Gerhard Schervier (1815–1861).3 Die Gegenposition und -perspektive nimmt ein anonym bleibender evangelischer Geistlicher in seiner freilich nur handschriftlich vorliegenden und nicht weniger tendenziösen Schilderung derselben Heiligtumsfahrt4 ein.

Was biographische Angaben wie Lebensdaten und Berufsstationen der in dieser Studie erwähnten Personen anbelangt, so sei für die staatlichen Funktionsträger hier ein für alle Mal auf die in dem wichtigen Werk von H. Romeyk (Die leitenden staatlichen und kommunalen Verwaltungsbeamten der Rheinprovinz 1816–1945) enthaltenen Biogramme sowie auf die im Internet verfügbaren einschlägigen Artikel der ‚Wikipedia‘ und der ‚Deutschen Biographie‘ verwiesen. Lediglich zu kirchlichen Amtsinhabern und zu sonstigen dem kirchlichen ‚Lager‘ im weitesten Sinne zuzurechnenden Personen, falls sie im Untersuchungszeitraum in Aachen lebten und wirkten (Ausnahme: Erzbischof v. Geissel), wird gedruckte Literatur aufgeführt, soweit sie dem Autor bekannt wurde.

Um nicht andernorts gemachte Ausführungen und Literaturangaben wiederholen zu müssen, hat sich der Verfasser trotz der diesem Verfahren anhaftenden Misslichkeiten entschlossen, auf seine früheren Arbeiten zu verweisen.

Bei der Transkription der Quellen wurde der Buchstabenbestand bis auf die stillschweigende Berichtigung einzelner offenkundiger Schreibfehler beibehalten; lediglich die Groß- und Kleinschreibung, die Getrennt- und Zusammenschreibung und die Zeichensetzung wurden zwecks leichterer Lesbarkeit vorsichtig modernen Standards angepasst.

Eckig geklammerte Textteile sind Hinzufügungen des Autors. Dabei wird differenziert zwischen Textergänzungen, die zum besseren Verständnis mitgelesen werden sollen, und nachgestellten kommentierenden Erläuterungen. Die Ersteren sind wie die Quellentexte selbst kursiv, die Letzteren recte gesetzt.

Gedankt sei den sehr entgegenkommenden und hilfsbereiten Mitarbeitern des Bischöflichen Diözesanarchivs Aachen, die einem bisweilen anstrengenden Nutzer in einer angenehmen Atmosphäre ein produktives und konzentriertes Arbeiten ermöglicht haben. Ebenso sei an dieser Stelle einmal Frau Schmitt-Schäfer vom Landeshauptarchiv Koblenz gedankt, die in vielen Jahren die Quellenarbeit des Autors immer freundlich helfend unterstützt hat. Der letzte und größte Dank gilt wie immer meiner Frau, die diese Studie wie die vorhergehenden erst ermöglicht hat.


1 D. Wynands: Die Aachener Heiligtumsfahrt, S. 24.

2 D. Wynands: Geschichte der Wallfahrten im Bistum Aachen, S. 84–87; Ders.: Die Aachener Heiligtumsfahrt, S. 24–26; J. Herres: Städtische Gesellschaft und katholische Vereine im Rheinland, S. 167–169 u. 377–380; J. Sperber: Popular Catholicism in nineteenth-century Germany, S. 68–73; J. Lambertz: Aachener Heiligtumsfahrten zwischen Franzosenzeit und Nationalsozialismus, S. 12–31.

3 Schervier, Carl Gerhard: Die Münsterkirche zu Aachen und deren Reliquien. Aachen 1853, S. 70–79.

4 GStA PK, I. HA Rep. 77 Ministerium des Innern, Tit. 413 Nr. 96.

2. Die Aachener Heiligtumsfahrt

Die Aachener Heiligtumsfahrten oder kurz Aachenfahrten1 waren neben den – deutlich selteneren – Trierer Heilig-Rock-Wallfahrten die bedeutendsten und meistbesuchten religiös-kultischen Großveranstaltungen der ‚alten‘ preußischen Rheinprovinz, welche im Gefolge der vom Wiener Kongress 1815 beschlossenen territorialen Neuordnung Deutschland geschaffen und nach dem Zweiten Weltkrieg aufgelöst wurde. Vor allem im Anschluss an D. Wynands, dem wichtigsten Historiographen der Aachener Heiligtumsfahrt in den letzten Jahrzehnten, sollen im Folgenden einige knappe Bemerkungen zu den gewiesenen Hauptreliquien und zur Entstehung der Aachenfahrt gemacht werden, dann als Verständnisvoraussetzung für die folgenden Kapitel die ihren äußeren Ablauf bestimmenden Instanzen und Einflussfaktoren skizziert werden und abschließend die ganze traditionelle Prozedur rund um die Reliquienweisung mittels eines längeren Zitats geschildert werden.

Gegenstände der Aachener Heiligtumsweisung, zentrale Zielobjekte der Aachener Heiligtumsfahrt und wichtigste Devotionsadressaten der Aachenpilger waren die vier Hauptreliquien oder ‚großen‘ Heiligtümer. Da deren Beschaffenheit schon oft detailliert beschrieben und ihre mutmaßliche Provenienz und Herstellungszeit ausführlich erörtert wurden,2 sollen sie hier nur kurz aufgezählt werden: Das Kleid Marias, welches sie in der Geburtsnacht Christi getragen haben soll, sodann die Windeln Jesu, außerdem das Enthauptungstuch Johannes des Täufers, in welches der vom Rumpf getrennte Kopf eingewickelt und bestattet worden sein soll, und schließlich das Lendentuch des gekreuzigten Christus. Es handelt sich also um Textil- oder Tuchreliquien, welche laut Tradition dem Reliquienschatz Karls des Großen entstammen; doch ist die genaue Herkunft dieser Reliquien umstritten und quellenmäßig schwer zu verifizieren,3 während die früher hitzig diskutierte Frage ihrer Echtheit heutzutage ihre Bedeutung verloren hat. „Vermutlich handelt es sich bei ihnen um frühe Berührungsreliquien, also um Tücher, die mit einem verehrten Primärobjekt berührt worden sind und von denen angenommen wird, daß die in ihm innewohnende Gnade auf das Sekundärobjekt übergegangen ist.“4 Neben den ‚großen‘ beherbergte das Aachener Münster noch die ‚kleinen‘ Reliquien, welche in verschiedenen, zum Domschatz5 gehörenden Reliquiaren, Gefäßen und Behältern6 verwahrt und auch außerhalb der Heiligtumsfahrten gezeigt wurden.

Die ‚großen‘ Reliquien wurden im Marienschrein7 aufbewahrt, einem repräsentativen, reich dekorierten Großschrein, welcher zwischen 1220 und 1238 als Ersatz für die alte karolingische Reliquienlade geschaffen und bis 1786 (und wieder nach Abschluss der Konservierungsarbeiten im Jahr 1999) im Chor hinter dem Marienalter, dem Hauptalter des Maria geweihten Aachener Münsters, aufgestellt war, aber im 19. Jahrhundert in einem Schatzschrank in der als Sakristei dienenden Matthiaskapelle seinen Platz hatte8. Doch die damit eigentlich beabsichtigte dauerhafte Verschließung der Heiligtümer in einem Reliquiar widersprach dem im Hochmittelalter einsetzenden Frömmigkeitswandel zugunsten einer Schaudevotion, welche eine Sichtbarmachung in Gestalt einer öffentlichen Zeigung der Reliquien, einer sog. Heil(ig)tumsweisung, verlangte. Diese ‚ostensio reliquiarum‘ erfolgte in Aachen spätestens seit Beginn des 14. Jahrhunderts – 1312 wird sie erstmals urkundlich erwähnt – anlässlich des am 17. Juli gefeierten Kirchweihfestes, und zwar seit dem Pestjahr 1349 periodisch in einem festen Sieben-Jahres-Turnus.9 Um das Verehrungsbedürfnis möglichst vieler Gläubiger zu befriedigen, wurden eigens dafür emporenartige Galerien am Turm des Münsters geschaffen, von wo aus an mehreren Stellen ein Prälat oder Stiftsherr, flankiert von weiteren kostbar gewandeten Geistlichen und Chorknaben, in einer elaborierten liturgischen Inszenierung (Ausrufung, Reliquienenthüllung und Zeigung, angekündigt durch Glockengeläut, begleitet von Segnungen, Gebeten und Gesängen, beleuchtet von Kerzen und Fackeln) die vier Hauptreliquien der auf den umliegenden Plätzen dicht gedrängt harrenden und die Weisung mit Zurufen und mit Musik aus tönernen Hörnern, den sog. A(a)chhörnern, lautstark begrüßenden Volksmenge vorzeigte. Auf diese Weise wurde das Berühren oder Küssen der Reliquien als Kulthandlungen durch das Schauen ersetzt und die täglichen Heiligtumsweisungen, welche traditionell im Sieben-Jahres-Rhythmus vom 10. bis 24. Juli, also sieben Tage vor und nach dem Kirchweihfest, morgens von der Turmgalerie aus stattfanden, gerieten zu Massenveranstaltungen, bei denen sich Religion und Rekreation, Kult und Kommerz, Waren-, speziell Andenkenverkauf und Reliquienverehrung, Volksfest und Gottesdienst in einem für manche anstößigen Ausmaß mischten, zumal mit dem mitten im fünfzehntägigen Turmweisungszeitraum gefeierten Kirchweihfest, dem Höhepunkt der Feierlichkeiten, ein Jahrmarkt verbunden war und die Kombinierung von Badekur – Aachen verfügte über ergiebige, vielbesuchte Thermalquellen – und Reliquienschau beliebt war.

Zu den regelmäßigen Weisungen setzte ein durch Ablässe begünstigter Massenzustrom von Einheimischen und Fremden ein, die Heil(ig)tumsfahrt im engeren Sinn, d.h. die Fahrt oder der Gang zu den Heiligtümern, welche Aachen in den Weisungsjahren zu einem der meistbesuchten europäischen Wallfahrtsorte machte.10 „Förderlich wirkten das Zusammentreffen der althergebrachten Marienverehrung mit dem politisch motivierten Karlskult wie auch die letztlich nur alle sieben Jahre stattfindende Weisung außergewöhnlicher Reliquien, der Residenzcharakter der Pfalz und die Aachener Königskrönungen. Eine starke Anziehung ging auch von dem vollkommenen Aachener Ablaß aus, der wiederholt modifiziert wurde. Nicht zuletzt förderte die peinliche Beachtung des Ritus, die Konzentration auf nur vier Reliquien und die Beschränkung auf jedes siebte Jahr die Bedeutung der Heiligtumsfahrt.“11 Im Folgenden soll anhand von Behördenberichten die Größenordnung des Menschenzustroms bei den zwischen den 1830er und 1860er Jahren stattgefundenen Heiligtumsfahrten beispielhaft verdeutlicht werden, wobei als Vergleichsmaßstab die Tatsache dienen kann, dass Aachen 1850 rund 50.000 Einwohner zählte12: Während der 15tägigen Dauer der sogenannten Heiligthumsfahrt [des Jahres 1832] ist die hiesige Stadt von einer außerordentlichen Menge Fremden besucht worden. Ein[e] amtlich veranlaßte Zählung der an den während jener religiösen Festlichkeit eingefallenen beiden Sonntagen zu den verschiedenen Stadt-Thoren hereingekommenen Fremden hat ergeben, daß am 16ten July die Anzahl derselben 43.365 und am 23ten 44.270 Köpfe betragen [hat]. Nimmt man an, daß an den übrigen 13 Tagen jedesmal wenigstens 1/4 dieser Anzahl die hiesige Stadt besucht hat, so beläuft sich die Gesammtsumme der während dieser Festlichkeiten hier anwesend gewesenen Fremden auf circa 230.000 Köpfe.13 Während der Heiligtumsfahrt von 1839 kamen an den beiden in die 15tägige Festzeit fallenden Sonntagen 53.103 bzw. 48.884 Besucher von auswärts, außer der bedeutenden Anzahl von Fremden, welche schon längere Zeit vorher und noch vor 4 Uhr morgens, ehe die Zählungen begannen, eingetroffen waren.14 Während der dreiwöchigen Heiligtumsfahrt des Jahres 1846 zogen im Ganzen wohl eine halbe Million in- und ausländischer Wallfahrer nach Aachen, was durchschnittlich knapp 24.000 Besucher täglich bedeutet.15 – Während der 15tägigen Heiligtumsfahrt des Jahres 1853 strömten 300.000 bis 400.000 Menschen nach Aachen hinein, was einem durchschnittlichen täglichen Zustrom von rund 20.000 bis 26.600 allein von auswärtigen, also nicht ortsansässigen Aachenfahrern entspricht, welche nebst dem bei Weitem größten Theil der hiesigen Bevölkerung an der Feier theilnahmen. Am 17. und 24. Juli 1853, den beiden Sonntagen der Festzeit, wurden an den Stadttoren gar 62.265 bzw. rund 36.000 nach Aachen einziehende Fremde gezählt.16 – Während der 15tägigen Heiligtumsfahrt des Jahres 1860 wurden an den beiden in die Festzeit fallenden Sonntagen, den 15. und 22. Juli 1860, an den Bahnhöfen und an den Stadttoren 59.905 bzw. 52.818, zusammen also 112.723 von auswärts nach Aachen kommende Pilger gezählt.17 – Während der Heiligtumsfahrt von 1867 wurden an den Thoren der Stadt durch besonders aufgestellte zuverlässige Männer an den beiden Sonntagen der 15tägigen Festzeit 49.651 bzw. 60.712 Personen gezählt. Zusätzlich reisten an den beiden Sonntagen 17.000 bzw. 20.000 Fremde mit der Eisenbahn an. Am 1ten Sonntage in der Heiligthumsfahrt, den 14. Juli c., fand ein solcher starker Zuzug von auswärtigen Prozessionen, Pilgerzügen und Fremden hierher statt, daß die Stadt überfüllt zu nennen war.18

Viele Aachenpilger besuchten auch das nahe gelegene Kornelimünster, wo Ludwig der Fromme, der Sohn und Nachfolger Karls des Großen, zu Beginn des 9. Jahrhunderts ein Benediktinerkloster gegründet und reich mit Heiligtümern ausgestattet hatte, woraufhin Kornelimünster ebenfalls zu einem bedeutenden Wallfahrtsort aufstieg.19 Ähnlich wie in Aachen wurden drei Stoffreliquien (das Schürztuch, das Grabtuch und das Schweißtuch Jesu) regelmäßig von Außengalerien am Chor den herbeigeströmten Gläubigen gewiesen. Dabei waren die Heiligtumsweisungen in Kornelimünster mit denjenigen in Aachen dergestalt synchronisiert, dass die dortigen Zeigungen ebenfalls im Sieben-Jahres-Rhythmus, und zwar in den gleichen Jahren und im fast gleichen Zeitraum wie in Aachen veranstaltet wurden, nur um einen Tag nach ‚hinten‘ versetzt. Da sie anders als in Aachen nachmittags stattfanden, wurde den Aachenpilgern die vielgenutzte Gelegenheit geboten, vormittags der Heiligtumsweisung in Aachen und nachmittags derjenigen in Kornelimünster beizuwohnen. Aufgrund dieser engen Anbindung an die Aachenfahrt betrafen Änderungen an den traditionellen Aachener Weisungsmodalitäten zumindest indirekt auch Kornelimünster insofern, als dadurch der dortige Modus und die Anschlusswallfahrt nach dorthin in Frage gestellt wurden.

Das Aachener Stifts- oder Kollegiatkapitel20, welches gemäß der päpstlichen Zirkumskriptionsbulle ‚De salute animarum‘ vom 16. Juli 1821 errichtet worden war und aus dem Propst, sechs ‚wirklichen‘ Stiftsherren oder Numerarkanonikern und vier Ehren- oder Honorarkanonikern bestand, war formal der eigentliche Ausrichter, Initiator und Organisator der Heiligtumsfahrt. Das Amt des Stiftspropstes, der den Vorsitz im Kapitel hatte, dieses nach außen vertrat und die Münsterschätze zu verwalten hatte,21 bekleidete von 1845 bis 1860, also während der nachfolgend behandelten Aachenfahrten der Jahre 1846 und 1853, Dr. Hermann Joseph Grosman(n) (1789–1860), der früher Professor am Kölner Priesterseminar und danach ab 1826 Pfarrer der Kölner Innenstadtpfarrei St. Kolumba war.22 In letzterer Position gehörte er zur Minderheit der Kölner Stadtpfarrer, welche „als Kern der ultramontanen Gruppe“23 fest auf der Seite ihres mit dem Staat im Konflikt liegenden Erzbischofs Droste-Vischering standen. Dass dieser ihn sogar in die Prüfungskommission für die Priesteramtskandidaten berief, verrät zu Genüge die geistig-kirchenpolitische Grundeinstellung des Ausgewählten.24 Der Oberpräsident der Rheinprovinz klagte über Grosman, er stehe an der Spitze derjenigen Kölner Geistlichen, welche die absolute Unabhängigkeit der Kirche vom Staate lehren und in diesem Sinne wirkend entschieden Opposition gegen das Gouvernement ergreifen.25 Die strengkirchliche, bischofstreue Grundhaltung des Propstes kam auch dadurch zum Ausdruck, dass er als Pfarrer von St. Kolumba die Petition Kölner Pfarrgeistlicher mitunterzeichnete, welche sich 1840 beim preußischen König für die Rückkehr des verbannten Erzbischofs auf den Kölner Erzstuhl einsetzte.26

Das Aachener Stiftskapitel war jedoch keineswegs frei in seinen Entscheidungen bezüglich der äußeren Gestaltung der Heiligtumsfahrt. Zunächst unterlag es diesbezüglich der ordentlichen Jurisdiktion des zuständigen Ordinarius, des Kölner Erzbischofs. Inhaber des Erzstuhls im hier relevanten Zeitraum war der ehemalige Speyerer Bischof Johannes von Geissel (1796–1864)27, welcher seit 1842 als Koadjutor und Apostolischer Administrator für den kirchenrechtlich noch im Amte befindlichen, aber staatlicherseits an der Amtierung gehinderten Erzbischof Droste-Vischering und nach dessen Ableben seit 1845 als Erzbischof von Köln bis zu seinem Tod im Jahr 1864 die Geschicke der Erzdiözese lenkte. Erzbischof v. Geissel, der 1850 zum Kardinal erhoben wurde, verband ein autoritäres Machtbewusstsein gegenüber dem Klerus mit diplomatischer Geschmeidigkeit und flexibler Nachgiebigkeit gegenüber den Staatsvertretern, welche Eigenschaften aus der durch die Machtverhältnisse gegebenen und durch den äußerlich gescheiterten Konfrontationskurs seines Amtsvorgängers noch verstärkten Notwendigkeit geboren waren, bei aller Verteidigung der kirchlichen Gerechtsame doch auf die staatliche Kirchenkuratel zumindest bis zur Revolution 1848/49 große Rücksicht zu nehmen zu müssen.

Details

Seiten
246
Jahr
2024
ISBN (PDF)
9783631911549
ISBN (ePUB)
9783631911556
ISBN (Hardcover)
9783631909522
DOI
10.3726/b21626
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2024 (April)
Schlagworte
Aachen Heiligtumsfahrt Reliquienzeigung oder -weisung 19. Jahrhundert
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2024. 246 S.

Biographische Angaben

Volker Speth (Autor:in)

Volker Speth ist Bibliothekar und promovierter Historiker.

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Titel: Die Aachener Heiligtumsfahrt im 19. Jahrhundert