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Die Krise der Familie im Angestelltenroman der Weimarer Republik

von Joy Maracke (Autor:in)
©2024 Dissertation 266 Seiten

Zusammenfassung

Eine intensive wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Familiendarstellungen in den Angestelltenromanen der Weimarer Republik ist bislang nicht erfolgt. Es ist die Motivation der vorliegenden Untersuchung, einen Beitrag zum Schließen dieser Forschungslücke zu leisten. Die Leitfrage lautet, wie und mit welcher Intention die Familien und andere persönliche Beziehungen in den Romanen dargestellt werden. Es wird davon ausgegangen, dass diese Darstellungen wesentliche Funktionen innerhalb der Romane übernehmen, da die Autorinnen und Autoren mit ihrer Hilfe die prekäre Situation der Familie und der Angestellten offenlegen, beide kritisch hinterfragen und auch Zusammenhänge herstellen. Dem soziologischen bzw. literatursoziologischen Interesse der Arbeit folgend dienen kontextorientierte Methodenansätze dabei als Grundlage.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1 Einleitung
  • 2 Außerliterarische Kontexte
  • 2.1 Sozialwissenschaftliches
  • 2.1.1 Familie und persönliche Beziehungen
  • 2.1.2 Habitus und Habitualisierung nach Bourdieu
  • 2.2 Historische Kontexte der Weimarer Republik
  • 2.2.1 Der politische Kontext der Weimarer Republik
  • 2.2.2 Der soziale Kontext der Weimarer Republik
  • 2.2.2.1 Die Angestellten
  • 2.2.2.2 Die weiblichen Angestellten/Die Neue Frau
  • 2.2.2.3 Familie im Wandel
  • 2.2.3 Der kulturelle Kontext der Weimarer Republik
  • 2.2.3.1 Literatur im Wandel
  • 2.2.3.2 Neue Sachlichkeit
  • 2.2.3.3 Der Angestelltenroman
  • 3 Die Darstellungen der Familie und anderer persönlicher Beziehungen in den Romanen
  • 3.1 Habitus/Habitualisierung der Romanangestellten
  • 3.1.1 Fabian – der Moralist
  • 3.1.2 Pinneberg
  • 3.1.3 Gilgi
  • 3.1.4 Doris
  • 3.2 Familie und persönliche Beziehungen in den Romanen
  • 3.2.1 Die Herkunftsfamilien
  • 3.2.1.1 Die Mutter als Zuflucht bei Kästner
  • 3.2.1.2 Die Herkunftsfamilie als Negativbild des eigenen Lebens bei Keun und Fallada
  • 3.2.1.2.1 Die kleinbürgerliche, die großbürgerliche und die proletarische Mutter bei Keun
  • 3.2.1.2.2 Die Arbeiterfamilie bei Fallada
  • 3.2.1.2.3 Das unmoralische Paar bei Fallada
  • 3.2.2 „Fatale“ persönliche Beziehungen
  • 3.2.2.1 Hubert und Doris – Standesbewusstsein als Hindernis bei Keun
  • 3.2.2.2 Die Neue Frau als Hindernis bei Kästner und Keun – Scheitern trotz Liebe
  • 3.2.2.3 „Und zusammen ist man verloren und aufgeschmissen.“ – Hans und Hertha und der Untergang der kleinbürgerlichen Familie (bei Keun)
  • 3.2.2.4 Beziehungen aus Geld- und Geltungsgründen
  • 3.2.2.5 Begegnungen mit der Femme fatale – 
die personifizierte Bedrohung der Familie
  • 3.2.3 Familienidylle als Gegenentwurf zur Krise bei Fallada
  • 3.2.4 Die großbürgerliche Familie bei Kästner
  • 4 Fazit und Ausblick
  • Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Die Situation der Angestellten in der Weimarer Republik gilt gemeinhin als prekär und ist aus verschiedenen Gründen für die Wissenschaft von besonderer Bedeutung. Zum einen erhielt der Begriff „Angestellter“ in der ersten deutschen Republik seine heute allgemeingültige Bedeutung. Zum anderen entstand mit den Angestellten eine völlig neue „Zwischenschicht“, die weder dem Bürgertum noch dem Proletariat zuzuordnen war. Aufgrund dieser Identifikationsschwierigkeiten, aber auch aufgrund ihrer wirtschaftlich schlechten, von Arbeitslosigkeit geprägten Situation nach der Weltwirtschaftskrise, wandten sich gerade aus dieser Schicht gegen Ende der Republik viele Wähler Hitler zu.

Siegfried Kracauer stellte in seiner Studie „Die Angestellten“ von 1930 fest, dass nichts so sehr dieses Leben kennzeichne „als die Art und Weise, in der ihm [dem Angestellten] das Höhere erscheint“.1 Gemeint ist die stetige, nach außen orientierte Anpassung der Angestellten an das Bürgertum, dessen „höheres“ Leben sie anhand der Teilnahme an diversen gesellschaftlichen Angeboten wie beispielsweise der Unterhaltungsindustrie bestätigt sahen. Hüppauf konstatiert in diesem Zusammenhang, dass sich die Angestellten vom eigentlichen Proletariat „durch ihre Teilhabe am höheren Leben im Schein“2 unterschieden. Ein großes Problem der Angestellten war somit, sich selbst innerhalb der seit der Kaiserzeit neu geordneten Gesellschaft zu positionieren, auch wenn sie zunächst als die neue Mittelschicht galten. Ihre wirklichen Probleme begannen erst mit dem Beginn der Wirtschaftskrise, die sie aufgrund fehlender institutioneller Absicherung ins Bodenlose fallen ließ. Ihr Bewusstsein darüber, dass sie sich vom Proletariat unterschieden, also ihrer Meinung nach zum Bürgertum gehörten, wurde spätestens zu diesem Zeitpunkt aufgrund des schmalen Grats, der sie tatsächlich unterschied, oft infrage gestellt beziehungsweise von Kracauer auch als „falsches Bewusstsein“3 bewertet. Orientierungslosigkeit, Positionierungsschwierigkeiten und dieses bezeichnende Bewusstsein sind prägnante Attribute einer Gruppe, die nicht in die gesellschaftliche Ordnung der Weimarer Republik passen wollte. Die Dezentriertheit der Angestellten und auch die verheerenden Folgen für die Weltpolitik im Sinne einer Erstarkung des Nationalsozialismus haben die Forschung bis heute immer wieder beschäftigt. Die Angestellten hatten mit drei wesentlichen Problemen umzugehen: Zum einen waren sie den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise ausgeliefert, wie insbesondere der hohen Arbeitslosigkeit und der damit einhergehenden schlechten finanziellen Situation. Zum anderen verkannten sie, wie von Kracauer dargestellt, ihre eigene Position in der Gesellschaft, was sich als zweifelhafte Selbsteinschätzung gerade im Vergleich zu den Arbeitern zeigte, da sie ökonomisch sogar weniger abgesichert waren als diese. Drittens waren sie wie alle Bevölkerungsgruppen mit der Auflösung der herkömmlichen Gesellschaftsordnung durch die moderne Industriegesellschaft konfrontiert.

Als am Ende der Weimarer Republik die Angestellten von der schlechten wirtschaftlichen Situation und der mit ihr einhergehenden extrem hohen Arbeitslosigkeit bedroht waren, widmeten sich auch bereits verschiedene Autoren dieser Problematik. Es entstand eine Vielzahl an Romanen, die das Schicksal der Angestellten in den Mittelpunkt stellten.4 Die Autoren dieser sogenannten Angestelltenromane, etwa Erich Kästner, Irmgard Keun und Hans Fallada, deren Werke im Folgenden untersucht werden sollen, richten ihren Blick mit zwar unterschiedlicher Intensität, aber dennoch ausnahmslos auch auf die Familie der Angestellten und auf andere persönliche Beziehungen.5 Gerade die Familie unterlag in diesen Jahren zahlreichen Veränderungen. Die Gründe dafür sind im verlorenen Krieg zu sehen, der viele Familien zerstört hatte, aber auch in der schlechten wirtschaftlichen Lage, die als Folge der mangelnden ökonomischen Absicherung einer ganzen Schicht gesehen wurde. Denn die Weimarer Republik berücksichtigte familienpolitische Belange an ihrem Ende weitaus weniger als in ihren Anfangsjahren, als die Familie noch einen hohen Stellenwert genossen hatte. Deshalb erscheint die Auseinandersetzung mit den Familiendarstellungen umso interessanter. Zu Beginn der Weimarer Republik wurde die Ehe in der Verfassung „als Grundlage des Familienlebens und der Erhaltung und Vermehrung der Nation“6 definiert und besonders wertgeschätzt. Am Ende der Republik sprach man allerdings von einer schichtübergreifenden Krise und Bedrohung der Familie.7 Die technisch-zivilisatorische Moderne hatte neue Lebens- und Produktionsbedingungen geschaffen, aus denen die breite Schicht der Angestellten entstanden war. Zunehmend wurden ältere Modelle – wie eben auch das der Familie – abgelöst. Die Wirtschaftskrise aber stellte dann das neue System ernsthaft infrage, woraufhin in der Literatur und ganz besonders auch in den Angestelltenromanen die Familie wieder vermehrt in den Fokus rückte. Für die Selbsteinschätzung der Angestelltenschaft war das Bild der bürgerlichen Familie zentral und bei der Ausrichtung ihres Lebens fundamental.8

Eine intensive wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Familiendarstellungen in den Angestelltenromanen steht noch aus. Einen Beitrag zur Schließung dieser Forschungslücke zu leisten, ist die Motivation der vorliegenden Untersuchung. Die Leitfrage lautet, wie und mit welcher Intention die Familien und andere persönliche Beziehungen in den Romanen dargestellt werden. Es wird davon ausgegangen, dass diese Darstellungen wesentliche Funktionen innerhalb der Romane übernehmen, da die Autoren mit ihrer Hilfe die prekäre Situation der Familie und die der Angestellten offenlegen, beide kritisch hinterfragen und offenbar auch Zusammenhänge herstellen. Dies geschieht auf zwei Ebenen:

Zum einen greifen die Autoren der Angestelltenromane mithilfe ihrer Familiendarstellungen in die Gesellschaft durch die Etablierung von Gegenbildern, durch fiktionale Familien- und Beziehungskonstellationen, durch das Infragestellen von gesellschaftlich akzeptierten Zusammenhängen und durch Historisierung ein. Der Literatur geht es nicht allein um Realismus, sondern um den Versuch der Selbstreflexion der Angestellten. Sabina Becker spricht in ihren Ausführungen zur Neuen Sachlichkeit in der Literatur von einer „aufklärerischen“9 Literatur und schreibt den Autoren eine intervenierende, erzieherische Aufgabe zu,10 was das literarische Funktionspotential der untersuchten Romane hervorhebt.

Dass die Familie und die persönlichen Beziehungen hierbei zu einer Variablen und zugleich zu einem Indikator für die Bedrohung der Ordnung durch die ökonomischen Verhältnisse am Ende der Weimarer Republik werden, dient als Grundthese der Untersuchung. Während beispielsweise Hans Fallada, wie später gezeigt wird, über sein vorherrschendes Familienbild in seinem Roman wohl ein Gegenbild als Lösungsvorschlag oder zumindest als einen Weg des Aushaltens anzubieten versucht, geht es Kästner darum, vor dem „Sterben der Familie“11 zu warnen. Mit den Darstellungen persönlicher Beziehungen in ihren Romanen will Keun auch an die jungen weiblichen Angestellten appellieren, mehr Eigenverantwortung zu übernehmen.

Es wird davon ausgegangen, dass ihnen allen das Vorgehen gemein ist, dass sie vorhandene Typen und Bilder, wie beispielsweise den Typus des Angestellten oder das Bild der bürgerlichen Familie, in ihren Romanhandlungen aufgreifen. Spannend dabei ist allerdings die Frage, ob es beim Aufzeigen verschiedener Typen und Bilder bleibt, oder ob und wenn ja mit welchen Mitteln diese auch infrage gestellt werden.

Des Weiteren setzen die Autoren mithilfe ihrer Familiendarstellungen und der Schilderung anderer persönlicher Beziehungen die Frage nach der Entstehung der angesprochenen Orientierungslosigkeit und des von Kracauer formulierten umstrittenen Bewusstseins der Angestellten in Verbindung mit ihrem privaten Umfeld. Mithilfe dieser Darstellungen versuchen die Autoren auch, Fragen über bestimmte Verhaltens-, Denk- und Handlungsweisen, also über ihren Habitus12 und wie dieser beziehungsweise das damit eng verbundene Angestelltenbewusstsein entsteht, zu beantworten. Das Eingreifen zeigt sich hier also auch als Suche nach den Gründen für das Verkennen der eigenen Position und fügt sich wiederum in die Funktion der Reflexion ein.

Es soll davon ausgegangen werden, dass die Autoren das Angestelltentypische, dessen Teilaspekt das Verkennen ist, auch in Abhängigkeit familiärer Beziehungen sehen. Hierbei geht es insbesondere um die Frage nach dem Habitus der Angestellten sowie den Faktoren, denen er unterliegt, also um den Prozess der Habitualisierung. Die Autoren greifen damit die Differenz zwischen Selbstbild und Fremdbild auf und suchen ihre Gründe auch im privaten Umfeld der Angestellten. Die Familiendarstellungen auf der Grundlage der Habitualisierung zu untersuchen wird in jedem Fall dazu beitragen, neue Erkenntnisse im Hinblick auf den Zusammenhang der Beschaffenheit der Romanangestellten und ihr Verhältnis zu ihren Familien zu erhalten.

Des Weiteren wird die Habitualisierung der Angestellten jedoch nirgendwo so sichtbar wie in den persönlichen Beziehungen, für oder gegen die sie sich entscheiden. Bereits in diesen Entscheidungen liegen immanente Aussagen über ihre Disposition. Identität und Orientierung konstituieren sich zu allererst in persönlichen Beziehungen.

Darüber hinaus wird davon ausgegangen, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Angestelltendasein und der Krise der Familie gibt, der von den Autoren aufgezeigt wird. Wie genau sich diese Korrelation darstellt und ob sie mit dem Faktor der wirtschaftlichen Verhältnisse der Angestellten hinlänglich argumentiert werden kann oder ob weitere Aspekte dabei eine Rolle spielen, soll im Folgenden näher betrachtet und erläutert werden.

Da es sich in den Romanen meist um sehr junge Angestellte handelt, deren gattenfamiliäres Dasein zum Zeitpunkt der Romanhandlung nicht oder noch nicht endgültig geklärt ist, muss die Untersuchung um den von dem Familiensoziologen Karl Lenz eingeführten Begriff persönliche Beziehungen erweitert werden. Die Familie wird nicht nur im herkömmlichen Sinne in den Romanen thematisiert und beeinflusst die Angestellten, sondern auch diejenigen Menschen, die mit ihnen Lebensabschnitte in persönlichen Beziehungen bestreiten. Darstellungen persönlicher Beziehungen greifen auch gesellschaftliche Probleme auf und intervenieren in öffentliche Diskurse, indem sie Konflikte dramatisieren und damit plastisch machen. Diese können aus konventionellen Gründen der Liebe oder aus Geld- und Geltungsgründen entstehen, die am Ende der Weimarer Republik vermehrt für die Partnerwahl verantwortlich waren.

Gerade bei den weiblichen Angestellten spielten oft letztere Faktoren eine entscheidende Rolle. Die Neue Frau, ursprünglich Kampfbegriff der damaligen Frauenbewegung, präsentierte sich in der Weimarer Republik als modern, aufgeschlossen und unabhängig. Ein weiteres etabliertes Bild also, das die Autoren wie erwähnt verarbeiten. Auch da die Neue Frau für die Entwicklung der Familie gerade aufgrund der ihr zugesprochenen Attribute gleichzeitig eine Herausforderung darstellte, wird sie in der Untersuchung vermehrt Beachtung finden.

Die Auswahl der vier behandelten Romane Kleiner Mann – was nun?13 von Hans Fallada, Fabian. Die Geschichte eines Moralisten14 von Erich Kästner und Gilgi – eine von uns15 sowie Das kunstseidene Mädchen16 von Irmgard Keun basiert auf drei Kriterien: Erstens können sie zweifellos als Angestelltenromane identifiziert werden, deren Hauptmerkmal es ist, die krisenhafte Schicht der Angestellten darzustellen und sich ihren Problemen zu widmen. Zweitens sind die Familie und weitere persönliche Beziehungen stark in der Handlung der Romane präsent, sei es im positiven Sinne oder durch Problematisierungen. Aufgrund der Brisanz des Angestelltenthemas gerade am Ende der Weimarer Republik sind sie drittens zwischen 1930 und 1933 verfasst worden. Die Arbeitslosigkeit nahm nach 1929 aufgrund der Weltwirtschaftskrise rapide zu, wobei sich auch der Nationalsozialismus in diesen Jahren rasant ausbreitete.

Dem soziologischen bzw. literatursoziologischen Interesse der Arbeit folgend dienen kontextorientierte Methodenansätze der Arbeit als Grundlage. Wie unter Methodisches näher erläutert, werden demzufolge in einem außerliterarischen Kontext auch soziologische Hintergründe erarbeitet, auf deren Grundlage dann die Untersuchung der Romane erfolgt.

Forschungsstand

Obschon der Begriff Angestellte bereits am Ende des 19. Jahrhunderts existierte und mit der Modernisierung nach 1871 die Zahl der Angestellten deutlich zunahm und ihre Lebens- und Arbeitsverhältnisse gelegentlich schon damals Soziologen interessierte, wurden die Angestellten erst kurz vor der Weimarer Republik zum Gegenstand ernsthafter wissenschaftlicher Auseinandersetzungen.17 Zu diesem Zeitpunkt bildeten die Angestellten aufgrund ihrer Sonderposition zwischen Arbeitern und Bürgertum eine eigene gesellschaftliche Gruppe. Seither, und verstärkt nach der Inflation, welche die Situation der Angestellten erheblich verschlechterte, beschäftigten sich dann bereits diverse statistische und soziologische Untersuchungen mit ihrer Situation. Auch die Presse und die Literatur nahmen sich der Problematik an.18 Das wohl bekannteste Beispiel für eine nähere Betrachtung der Angestellten ist Kracauers Artikelserie (und von ihm als Diagnose beschrieben) Die Angestellten von 1930.19 Ende der 1970er Jahre gehörten die Angestellten bereits zu den am besten untersuchten Gruppierungen der westdeutschen Gesellschaft.20

Die gegenexpressionistische Kunst der 1920er Jahre stand lange Zeit wegen der außerordentlichen Wertschätzung, die der Expressionismus genoss, außerhalb des Interesses der Literaturwissenschaft und des Literaturunterrichts. Besonders die Neue Sachlichkeit, der die zu behandelnden Romane unter anderem wegen des Angestelltenthemas zuzuordnen sind, wurde zunächst von der Forschung wenig beachtet. Erst seit den späten 1960er Jahren mit dem erneuten Aufkommen sozialgeschichtlicher Methoden rückten ihre Texte, vor allem Romane, wieder stärker ins Bewusstsein der literarischen Öffentlichkeit.21 Das größere Interesse galt hier zunächst allerdings der Großstadt oder der Neuen Frau in den Romanen, was Irmgard Keuns Das kunstseidene Mädchen zu einem viel besprochenen Buch werden ließ.

Dennoch blieb die Neue Sachlichkeit, deren Werke oft als Trivial- und Unterhaltungsliteratur abgestempelt wurden und die aufgrund eines fehlenden direkten politischen Engagements besonders aus Richtung der marxistischen Literaturwissenschaft als systemaffirmativ galten, zunächst von der Forschung auch aufgrund dieses Missverständnisses wenig beachtet. Schon in den 1930er Jahren kritisierten Kracauer und Walter Benjamin diese Strömung gleichermaßen als „eine Fassade […], die nichts verbirgt […], sich nicht der Tiefe abringt, sondern sie vortäuscht“.22 Auch die seit den 1970er Jahren entstandenen literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzungen entwickelten sich hauptsächlich vor dem Hintergrund der Kritik an neusachlicher Literatur im Allgemeinen, wie etwa die Monographien von Helmut Lethen und Karl Prümm. Lethen, der mit seiner Untersuchung Neue Sachlichkeit 1924–1932. Studien zur Literatur des „Weißen Sozialismus“23 1975 diese Strömung zunächst ideologiekritisch analysierte, nahm sie schließlich 1994 mit Verhaltenslehren der Kälte auch aus kulturwissenschaftlich-anthropologischer Perspektive in den Blick.24 Prümm kritisiert Lethens negative Wertung der Neuen Sachlichkeit und das Fehlen der Auseinandersetzung mit „brauchbaren Elementen“ wie beispielsweise einer Analyse politisch-gesellschaftlicher Prozesse und der literarischen Gestaltung.25 Diese der Neuen Sachlichkeit kritisch gegenüberstehenden Texte können für die vorliegende Untersuchung herangezogen werden, sie gehen aber von anderen Voraussetzungen wie beispielsweise einem marxistischen Weltbild aus. Dennoch sind in der Folge speziell in Bezug auf den zu behandelnden Diskurs wichtige Forschungen entstanden. So sollen die Texte von Sabina Becker,26 die eine theoretische Basis für eine neue und systematische Auseinandersetzung mit der neusachlichen Literatur schaffen, genannt werden.27 Auch Walter Delabar28, Erhard Schütz29 und Britta Jürgs30 untersuchen die maßgeblichen Werke intensiv und dokumentieren ihre Verbindung zur Neuen Sachlichkeit.

Zu erwähnen sind an dieser Stelle auch diejenigen Untersuchungen, die den Angestellten und ihrer Situation spezielle Analysen widmen, wie beispielsweise Thorsten Unger, auch wenn er sich trotz des Bezugs zur Familie auf die Arbeitslosigkeit im Gender- und Familiendiskurs beschränkt.31 Julia Feldhaus widmet sich in ihrem Beitrag Not without my Mommy32 zumindest den Beziehungen zwischen den weiblichen Angestellten und ihren Müttern in den Romanen von Irmgard Keun. Um eine vollständige Darstellung der Familienkonstellationen geht es ihr nicht. Bilder von Frauen und Männern in Irmgard Keuns Romanen stellt Henrike Walter in ihrer Analyse Um Geld oder aus Liebe33 dar, die für die Untersuchung persönlicher Beziehungen hilfreich ist. Marion Heister wählt in ihrer Arbeit Winzige Katastrophen. Eine Untersuchung zur Schreibweise von Angestelltenromanen nur zwei Romane, die während der Weimarer Republik entstanden sind, nämlich Hans Falladas Roman Kleiner Mann – was nun? und Robert Walsers Der Gehülfe. Heister geht es um die Frage, ob und wie es den Autoren gelingt, ihren Angestelltenstoff interessant zu machen, oder ob sie die Welt des Angestellten künstlich verklären, um den Leser zu binden. Wie authentisch schildern die Autoren die Situation der Angestellten und werden sie damit zu Chronisten ihrer Zeit? Fallada spricht 1989 diese Eigenschaft aufgrund einer andauernden Präsenz des Erzählers ab und konstatiert, dass er die „geistige Obdachlosigkeit“ der Angestellten nicht treffe.34 Christa Jordan widmet einen Schwerpunkt ihrer Arbeit den weiblichen Angestellten, da sie sie trotz der zunehmenden Anzahl erwerbstätiger Frauen in der Weimarer Republik, im Gegensatz zu dem allgemein neuen Frauenbild dieser Zeit, für vernachlässigt empfindet. Diesen und einen weiteren Schwerpunkt, nämlich das von der marxistischen Literaturwissenschaft sogenannte „falsche Bewusstsein“,35 untersucht sie in Keuns Roman Das kunstseidene Mädchen und Falladas Kleiner Mann.36 Dessen Roman nimmt in der auf den Angestellten fokussierten Literaturwissenschaft demnach eine besondere Position ein. Für die vorliegende Untersuchung sind diese Forschungen über die Situation der Angestellten gerade wegen der Konzentration auf ihr Bewusstsein oder auch wegen der Hervorhebung weiblicher Angestellter sehr wertvoll.

Die Familie als eine soziale Gruppierung, deren Mitglieder und gesellschaftliche Position den Menschen formt, ist eine zwar etablierte, sich jedoch permanent wandelnde Institution, die für jeden Menschen von Bedeutung ist. Daher ist es konsequent, dass sich die Literatur und somit auch die Literaturwissenschaft dieses Gegenstandes schon ausführlich angenommen haben, wie beispielsweise Thomas Mann in seinem Roman Buddenbrocks,37 der als der Familienroman des 20. Jahrhunderts gilt. Albrecht Koschorke richtet in seiner Untersuchung Die heilige Familie und ihre Folgen38 seinen Blick auf das Motiv der (heiligen) Familie in der Kultur des christlichen Abendlandes. Zu erwähnen sind des Weiteren zwei neuere Werke, die jeweils einen Überblick über die Forschungsliteratur zum Thema Familie geben. Claudia Brinker-von der Heyde versucht in ihrem Band,

[] in einem Gang durch die Jahrhunderte vom Mittelalter bis in die Gegenwart an ausgewählten Texten einerseits auf die Pluralität und Historizität von Familienmodellen zu verweisen, andererseits aber auch auf immer wiederkehrende Muster und deren unterschiedliche Aussage bzw. Wertung je nach historischem Ort und/oder Gattungskontext aufmerksam zu machen.39

Bedeutsam ist auch der von Thomas Martinec und Claudia Nitschke herausgegebene Sammelband Familie und Identität in der deutschen Literatur.40 Die Beiträge „setzen sich mit den literarischen Texten auseinander, in denen der Einfluss von Familie auf die Konstitution individueller Identitäten gestaltet wird“.41 Auch wenn Angestelltenromane in diesen Forschungsarbeiten nicht analysiert werden, so bieten sie doch einen Überblick, wie die Familie in der Literatur dargestellt wird, und sind damit für diese Untersuchung grundlegend.

Der Darstellung der Familie in den Angestelltenromanen ist bisher nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. Ausnahmen bilden der Unterpunkt „Familie“ in Hüppaufs Auseinandersetzungen mit Falladas Kleiner Mann42 und Thorsten Ungers Analyse der Familie als Rückhalt in Zeiten der Arbeitslosigkeit. Oliver Sill betrachtet in seiner Analyse Sitte – Sex – Skandal43 einen Aspekt der Familie – die Liebe – in drei der ausgesuchten Romane (bis auf Gilgi – eine von uns) und ist damit für die Analyse einiger persönlicher Beziehungen anregend. Das Fallada-Handbuch widmet der Familie in Falladas Roman Kleiner Mann gezielte Aufmerksamkeit und kommt zu dem Ergebnis, dass die von den Protagonisten angestrebte Familienform in ihrer sozialen Schicht zwar ubiquitär sei, jedoch gleichsam auch zur Bedrohung werden könne.44 Auch das Selbstverständnis der Rollen von Mann und Frau beziehungsweise seine Entwicklung wird beleuchtet und ist für die Untersuchung wertvoll.

Der Familie als Entstehungsort der Individuen und als kleinste Kategorie von Gesellschaft wird, trotz der durchgehenden Präsenz eines oder mehrerer Familienmitglieder in den Beispielromanen, bis heute zu wenig Bedeutung seitens der literaturwissenschaftlichen Forschung beigemessen. Welche Funktionen die Darstellungen der Familie in den Angestelltenromanen übernehmen, ist bisher unerforscht geblieben. Die vorliegende Untersuchung will diese Forschungslücke schließen und darüber hinaus auch andere Disziplinen anregen, sich weiterhin mit den Angestellten, ihrer prekären Lage und letztlich ihrer Rolle bei der Erstarkung des Nationalsozialismus zu befassen.

Methodisches

Die neusachliche Literatur verlangt aufgrund ihres immanenten Zusammenhangs zwischen Ästhetik und Gesellschaft, der im Folgenden noch näher beleuchtet wird, nach kontextorientierten Analyseverfahren, die es auch der vorliegenden Untersuchung ermöglichen, literarische und gesellschaftliche Gegebenheiten in einen Zusammenhang zu bringen. Es wird auf Grundlage dieser Ansätze und Paradigmen ein sinnvolles methodisches Vorgehen herausgearbeitet, um die Frage, wie und mit welcher Intention die Familien und andere persönliche Beziehungen dargestellt werden, vor dem realhistorischen Hintergrund der Weimarer Republik beantworten zu können.

Mit der kulturwissenschaftlichen Neuorientierung der Literaturwissenschaft rückte die Frage nach den Möglichkeiten der Kontextualisierung von Literatur wieder stärker in den Vordergrund. Ziel der dabei entstandenen Ansätze ist, so Birgit Neumann und Ansgar Nünning, „den literarischen Text in der Gesamtheit kulturell koexistierender Objektivationen zu betrachten“.45 Demnach seien nicht nur die Relationen inhaltlicher und ästhetisch-struktureller Elemente untereinander, sondern auch die Relationen dieser Elemente zu verschiedenen kulturellen Bereichen ihres Entstehungskontextes zu untersuchen. Dabei werde deutlich, dass bestimmte literarische Elemente nicht nur der Struktur des Textes zuzuordnen seien, sondern auch anderen Bereichen der Kultur angehören. Dementsprechend sei der literarische Text nicht als autonom zu betrachten, sondern immer schon als kulturell präkonfiguriert.46

Details

Seiten
266
Jahr
2024
ISBN (PDF)
9783631913895
ISBN (ePUB)
9783631913901
ISBN (Hardcover)
9783631913888
DOI
10.3726/b21501
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2024 (Februar)
Schlagworte
Habitus Familienkrise Zwischenkriegszeit Neue Sachlichkeit Angestelltenroman Angestellten in der Literatur der Weimarer Republik
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2024. 266 S.

Biographische Angaben

Joy Maracke (Autor:in)

Joy Maracke studierte Kulturwissenschaften mit dem Schwerpunkt Literatur an der Leuphana Universität in Lüneburg. Am dortigen Institut für Geschichtswissenschaft und literarische Kulturen erfolgte auch ihre Promotion. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die Literatur der Weimarer Republik.

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