Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Halbtitel Seite
- Titelseite
- Copyright-Seite
- Inhalt
- Grundfragen
- Das kalkulatorische Regime – eine kleine Mediologie des (be)rechnenden Menschen
- Vermessungen des Menschen: empirische Psychologie und Arbeitswissenschaften
- Amerikanismus in Ost und West
- Industriepsychologie
- Körperkult: Sport- und Kosmetikfitness
- Disziplin und Glanz: schöne neue Welt
- Selbst-Industrie: Gustav Großmanns Ratgeberbuch
- Optimierung des Erzählens in Poetologien der 1920er Jahre
- Schlager und Schreibmaschinen. Die weiblichen Pikaros in Irmgard Keuns Gilgi und Das kunstseidene Mädchen
- „Mensch, was machst du mit deinem Leben?“ Gilgi – eine von uns
- Ein Fortsetzungsroman? Das kunstseidene Mädchen
- Ein „Fachmann für Planlosigkeit“: Erich Kästners Fabian als Protest gegen die Optimierung
- Der Marktwert des Lebens: Vicki Baums Menschen im Hotel als Roman der Verzifferung
- Schönheit als Disziplin
- Ausblick: 100 Jahre Diktatur der (Selbst-)Messung
- Literatur
- Back Cover
Grundfragen
Das Selbstoptimierungs-Zeitalter kommt verheißungsvoll daher und ist eine Zumutung zugleich: Wie viele Tasks bewältige ich, ist meine to-do-Liste heute lang genug, wurde die tägliche Jogging-Runde in guter Zeit und mit vernünftiger Pulsfrequenz bewältigt? Habe ich maximale Effizienz im Beruf und danach bestmögliche Erholung geschafft, die sich auch quantifizieren lässt? Sind alle Familienmitglieder vorbildlich versorgt? Stimmen die Arbeitsergebnisse, ist der Output marktfähig? Habe ich mit Erfüllung des Tagesplans auch weitere Kompetenzen erworben, die benefitär für die Zukunft sein werden? Wie kann ich noch achtsamer gegenüber der Selbstachtsamkeit sein? Und habe ich genügend Informationen über meine Selbstoptimierung in die community gestreut?
All dies sind zwar heutige Fragen – vor allem in dieser konkreten Überspitzung und bis ins Ridiküle hinein –, die auch mittlerweile für die jüngere Literatur traktiert werden.1 Angebahnt sind sie aber mit der langen Tradition der Selbstbeobachtung, die sich bis in die griechische Antike zurückverfolgen lässt und sich dann aufgrund ihrer Bindungsfreudigkeit unter theologischen, sodann ökonomischen, psychologischen, pädagogischen und technischen Vorzeichen in Richtung Effizienz gewandelt hat. Und ein Höhepunkt liegt in der Kulmination der technischen und sozialen, mithin diskursiven Bedingungen vor ziemlich genau 100 Jahren – Optimierung ist dann zwar immer noch Selbstreflexion, jedoch entscheidend an Techniken der Selbst-Buchführung und an Aufschreibsysteme gebunden, die diese wiederum medial und institutionell verschalten.2 In den 1920er Jahren verbünden sich diese Techniken auf massenwirksame Weise zu Optimierungslogiken, die vom öffentlichen Raum in die private Körper- und Seelensphäre einziehen – es stehen perfektionierte Speicher- und Übertragungsmedien zur Verfügung, um damit Ziele der Selbstoptimierung zu verfolgen, ebenso wie ökonomische Ratgeberliteratur ihren Markt sucht. Ein Remedium findet sich in der Literatur, die hier in Form von mehreren Romanen dahingehend untersucht werden soll, wie dort Einzelfiguren danach streben, ihr Leben zu verbessern, und wie sich diese Optimierungskonzepte auch nicht nur thematisch, sondern ebenso in Erzähl- und Schreibstrategien niederschlagen. Damit ist zu zeigen, wie die Öffentlichkeit einen nochmaligen Strukturwandel erfährt: Im anspruchsvolleren Fall versuchen Romanfiguren, schreibend ihre Identität zu gewinnen und sich damit eine günstige soziale Position im Kampf um Aufmerksamkeitsressourcen zu verschaffen; analog gilt dies für das Bemühen um ökonomischen Erfolg. Weniger erfreulich verlaufen oft die Karrierekämpfe, wenn sie auf Publizität ohne Inhalt und ohne Basis zielen. Dafür ist die Filmwelt ein lukratives Gebiet, und Walter Benjamins Diagnose aus dem Kunstwerk-Essay nimmt hier die „fifteen minutes of fame“ Andy Warhols vorweg: „Jeder heutige Mensch kann einen Anspruch erheben, gefilmt zu werden“,3 heißt es dort hellsichtig. Darin zeigt sich die zeitgenössische Publizitätschance, doch lässt sich auch unschwer erahnen, dass dies nicht für alle gut funktionieren kann und auf dem Revers der Glanzhoffnung Frustration hervorbringen wird. Jedenfalls entstehen aus dieser Haltung Erfolgszwänge, die unter industriellen Fabrikationsbedingungen Verhaltensoberflächen produzieren, welche sich dann als kühl, rational, aber auch sentimental darstellen können. Denn das Streben nach Perfektibilität ist nicht nur einem rationalen Grund zuzuschreiben, ebenso wenig wie die Konstruktionen der Moderne auf striktes Kalkül zu beschränken wären. Auf der Rückseite nämlich aller Zielberechnungen macht sich um 1900 als komplementäre Ergänzung eine irrationale, mystische Unterströmung geltend, eine „zweite Moderne“, wie Beat Wyss sie genannt hat, die im besseren Fall selbstgenügsame, naive Naturphilosophie oder Esoterik bedeutet, im schlechten Fall in Schwärmerei und extreme Politik abdriften kann.4 Vergleichbar, aber in einem größeren Rahmen haben Horkheimer und Adorno als Hauptproblem der (be)rechnenden Aufklärung eine inhaltsleere, auch durchaus gewaltsame Quantifizierung von Menschen und Dingen ausgemacht, die die Aufklärung selbst als totalitär erscheinen lässt – und zugleich die entzauberten Teile der Welt wieder heraufbeschwört.5
Wenn die Oberflächenbildung, wie sie über Markenartikel, schablonierte Rede und uniformiertes Verhalten funktioniert, zu einer Zeitsignatur wird,6 lässt sich aus diesem Beobachtungsobjekt aber auch eine Untersuchungsmethode ableiten. Insofern man nämlich dem Verweisspiel der Oberflächen, die das gefeierte Leben bedeuten, die Semantiken entnehmen kann, die die Bedingungen für (Selbst-)Kulturen darstellen, lassen sich daran auch analytische Tiefenblicke ausrichten. So hat der Journalist und Sozialphilosoph Siegfried Kracauer in einem seiner epochalen Aufsätze festgestellt: „Der Ort, den eine Epoche im Geschichtsprozeß einnimmt, ist aus der Analyse ihrer unscheinbaren Oberflächenäußerungen schlagender zu bestimmen als aus den Urteilen der Epoche über sich selbst.“7 Kracauer, Benjamin und die beginnende Frankfurter Schule fangen nicht von ungefähr in den späten 1920er Jahren an, ökonomische oder technisch-mechanische Prinzipien auch als modus operandi von Text- und Bildformen festzumachen. Die vorliegende Studie folgt diesem Ansatz, den man als Vorläufer der Gouvernementalitätsstudien sehen mag, die das Konzept eines souverän wählenden Subjekts in seinen Selbstermächtigungspraktiken und Selbst(sorge)poetiken ablehnen und dagegen seine Abhängigkeit von gesellschaftsweiten Diskursen zeigen. Die Annahme lässt sich auch so formulieren: Der individuelle Wunsch von Selbstoptimierung zielt auf Formenaneignung und Autonomiegewinn, ist aber insgesamt Teil einer Diskursmaschinerie, aus der man sich nur schwer herausdenken kann, an deren Formen man vielmehr unausweichlich teilhat. Um dies zu zeigen, kann dann Ratgeberliteratur, Werbung, Film und Mode ebenso herangezogen werden wie Romanliteratur oder Essayistik – sie alle geben in ihren spezifischen Zeichenformationen, die hier auch in Form von close reading erschlossen werden sollen, Auskunft über eine historische Tiefensemantik, die Arbeitszeitregimes und Selbstkontrollen umfasst. Damit werden die Verbesserungsstrategien des Individuums in das Blickfeld gerückt, und für die 1920er Jahre sollen diese ausgehend von erfolgreicher ökonomischer Ratgeberliteratur, namentlich Gustav Großmanns Sich selbst rationalisieren (1927), und soziolo- gisch-ökonomischen Quellentexten (z.B. Kracauers Angestellten-Studie von 1929) gezeigt werden. Vor diesem Hintergrund sollen zeitgenössisch erfolgreiche Romane einbezogen werden, in denen der Takt der Arbeit, die Vermessung des Menschen und seine Optimierungsversuche ebenfalls thematisiert werden – Optimierung hier noch etwas weiter gedacht als nur in jener quantifizierbaren Verbesserung, die dem Leitcode „rentabel – nicht rentabel“ verpflichtet ist, sondern darüber hinaus als ästhetische Erweiterung. Es mag hieraus schon deutlich werden, dass die Beziehungen zwischen Oberflächen- und Tiefensemantiken keine einfachen sind; erst recht wird man nicht den einen singulären Angelpunkt für die anhaltende Konjunktur der Selbstoptimierung finden. Die Begründung liegt vielmehr in der Vernetzung diskursiver Bedingungen, worauf auch die Romanliteratur in Form, Faktur und Inhalt hinweist. Dies soll an Beispielen Irmgard Keuns, Erich Kästners und Vicki Baums gezeigt werden, die bereits die vorläufige Summe der rasanten Entwicklungen in den 1920er Jahren ziehen – um daraus insgesamt ein Bild zu gewinnen, das zeigt, wie heutige Selbstoptimierungskonzepte maßgeblich vor hundert Jahren zum ersten Mal in eine verdichtete Konstellation getreten sind, nämlich unter forcierten medialen Bedingungen, (arbeits-)psychologischen Faktoren, aber auch medizinisch-kosmetischen Aspekten.
Das kalkulatorische Regime – eine kleine Mediologie des (be)rechnenden Menschen
Die Wurzeln der ökonomischen Persönlichkeit sind bis in die Antike zurückzuverfolgen – von dort an werden Introspektion und Selbsttechniken des Aufschreibens z.B. in Form von Hypomnemata empfohlen, sie entwickeln sich in verschiedene Verästelungen der Tagebuchführung hinein und werden mit unterschiedlichen Diskursen angereichert bzw. neu aufgeladen: Die frühen ethisch-moralischen Selbstprüfungen münden zunächst in religiöse Beichttechniken, die durch medizinische Protokolle und auch ökonomische Zähltechniken erweitert werden.
All diese Wissenssysteme mit ihren spezifischen Terminologien und Notationsformen haben das Tagebuchschreiben seit der frühen Moderne beeinflusst, und insofern geht die Diaristik weit über die Selbstvergewisserung und den Innerlichkeitsausdruck hinaus (worauf sie in literaturwissenschaftlichen Studien oft reduziert wurde). Vielmehr stellt dieses Schreiben einen Modus der permanenten Selbstbeobachtung dar, insbesondere mit den technisch avancierten Mitteln der Selbstschrift, die eben nicht nur zur Selbstdarstellung nach außen dienen, sondern die betreffende Person in eine dauerhafte rekursive Schleife der Selbstverbesserung schicken.
Die Frührenaissance stellt den Beginn einer mächtigen Tradition ökonomischer Literatur dar, die nicht nur technische Expertise verbreiten wollte, sondern dazu auch die passende Idealfigur des (vor-)sorgenden Hausvaters und überhaupt der ökonomisch denkenden Persönlichkeit entwarf – so zum Beispiel in Leon Battista Albertis Della famiglia (1432), das sich mit Fragen der Familienethik und der individuellen Lebensführung beschäftigte, die immer auch mit Zeiteinteilung und einem gehörigen Maß an Nutzorientierung zu tun haben. Historisch orientiert sich Albertis Hauswesen an der antiken Maßhaltephilosophie bzw. Diätetik eines Galen; der moderne Anteil dieser Ethik ist aber, dass die seelisch-medi- zinischen Überlegungen bereits unter das Diktat der Zeit gestellt werden:
„Um den Körper zu heilen und gesund zu machen, setzt man alles, was kostbar ist, ein; um die Seele tugendhaft, ruhig und glücklich zu machen, opfert man alle Gelüste und Begierden des Körpers; wie sehr aber die Zeit zum Wohle des Körpers und zum Glück der Seele nötig ist, könnt ihr selbst ermessen, und so werdet ihr finden, daß die Zeit bei weitem das Kostbarste ist.“8
Dass Zeit gleich Geld ist, wird meistens über Benjamin Franklins viel zitiertes Diktum „Time is Money“ wiedergegeben, mit dem er 1748 einen jungen Geschäftsmann zur Arbeit anleitete.9 Zur Haushaltung gehört aber seit der Renaissance auch schon der Seelenbereich, anliegend wiederum Hygiene und freundliches Verhalten, gestützt durch moderate, sanfte Leibesübungen.10 Es wird hier eine frühmoderne Lebenskonzeption vorgestellt, die Burckhardt als „das erste Programm einer vollendeten durchgebildeten Privatexistenz“11 bezeichnet hat und die ihre Wurzeln in der Antike, ihre späten Konsequenzen aber noch im 20. Jahrhundert aufweist. Wenn auch dort oft ablehnend diskutiert, wird dies in der Gegenwart der 2020er Jahre dann unter Vorbehalten der Selbstachtsamkeit wieder aufgegriffen werden.
Was die Wirtschaftslehren angeht, ist Benedetto Cotrugli’s Traktat Della mercatura et del mercante perfetto (1458) das wohl erste systematisch aufgebaute Werk mit Anmerkungen zur Persönlichkeitsbildung des Kaufmanns, der hier als Prototyp einer neuen Berufsgruppe im Mittelpunkt steht. Das dort entworfene Persönlichkeitsideal eines uomo universale wird über klassizistische Vorstellungen des 18. Jahrhunderts bis ins 20. Jahrhundert immer wieder angesprochen, allerdings dort auch nur noch als ferne Wunschvorstellung – Maximen zur Lebenskunst begleiten die ökonomischen Lehren, die insgesamt den Weg zur vita beata weisen.12
Die technischen Strategien der Ökonomie werden dann stärker mit Luca Paciolis doppelter Buchführung erarbeitet und in den Abhandlungen über die Buchhaltung (1494) publikumsträchtig ausgebaut. Pacioli übernimmt nun die Einteilung in Memorial, Journal und Hauptbuch und weist gleichfalls das Memorial als Niederlegungsort für tägliche und stündliche exakte Notizen der Handelsgeschäfte aus.13 Neben der Zweispaltenschreibung der Umsätze von Aktiva und Passiva ist dort auch die Notation von Vorsätzen, Taten oder Ereignissen deutlich entwickelt – noch Goethe (im Wilhelm Meister) und Wirtschaftsratgeber des 20. Jahrhunderts wie Gustav Großmann werden dieses Prinzip empfehlen.
Auch das Bild des kaufmännischen als eines aktiven, guten Lebens wird bis zu den ordoliberalen Wirtschaftslehren des 20. Jahrhunderts erhalten bleiben – sei es in der schlanken Form der puritanischen Wirtschaftshaltung mit Ausblick auf spätere himmlische Belohnung oder in der Vorstellung der klugen Wirtschaftslenkung als Profitstreben bis hin zu Ideen der praktischen Effizienz und auch ästhetischen Einsatzformen, die wiederum ins soziale Leben diffundieren (wie in Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre). Techniken der Rationalisierung und Selbstrechtfertigung haben die protestantische Arbeitsethik, wie sie Max Weber eingehend analysiert hat, geprägt – die Abkömmlinge des Protestantismus, die Calvinistische Internationale mit ihrer Prädestinationslehre und der anglo-amerikani- sche Puritanismus fügten den bestehenden Tendenzen der Selbstökonomisierung eine wirkungsmächtige Struktur mit Überbau hinzu, der für das weltimmanente Leben maßgeschneidert war.
Wenn Friedrich Nietzsche allgemein vom Menschen als Probierfeld gesprochen hat – „wir sind Experimente: wollen es auch sein“14 –, so lässt sich auch die ökonomische Tätigkeit hier fassen mit dem rechnenden, rationalen Menschen als Selbstexperiment unserer Spezies, das laut Joseph Vogl seit der Renaissance stattgefunden hat und in der Gegenwart kulminiert. Eindrücklich hat dies Georg Simmel dargestellt mit kritischen Anmerkungen zum modernen Zeitgeist, der ein „rechnender“ geworden sei, wodurch „in das Verhältnis der Lebenselemente eine Präzision“ gekommen ist, mit der man alle Interaktion „aufs pünktlichste in ein festes, übersubjektives Zeitschema“ einordne.15 Der Mensch, so wiederum Vogl, ist Akteur, aber zugleich auch Gegenstand von Programmen, die zur vita activa herausfordern, dabei einen flexiblen Menschen voraussetzen, der entscheidungsfreudig durch die Welt navigiert, angeleitet durch seine Erwerbsgier.16 Für die vorliegende Studie ist auch die narratologische Generalthese Vogls interessant, dass die ökonomischen Denkweisen tiefe Spuren in den Erzählsystemen und Selbstschriftengattungen hinterlassen haben. Es sei die Buchhaltung, die damit beginnt, die (Selbst-)Erzählung zu formen, und so wirkt sie als Dispositiv für ein entstehendes „Bilanz-Subjekt“, das permanenten Selbstberechnungen unterworfen ist und diese in einen „innerweltlichen Lebenslauf“ einfügt.17 Allein schon die Visualität der Zahlenkolonnen, der Warenein/ausgänge oder der Vorhaben und Arbeitsleistungen setzt in den Stand, den Blick des handelnden Subjekts auf sich selbst zu systematisieren und zu lenken. Die Einheit des Tages wird (neben der Jahresbilanz) zu einem Zeitmaß, das noch heute (und mehr denn je) für das Gelingen oder Misslingen von Geschäftsvorgängen entscheidend ist – hieraus werden (Miss-)Erfolgsbilanzen des einzelnen Tages und Lebens abgeleitet, und wenn ein Tag nicht gut war, nimmt man den nächsten als neue Aufbaumöglichkeit wahr. So lässt sich in den Aufschreibvorgängen eine Grundlage des modernen Tagebuchführens ausmachen, das auf ökonomischer Basis betrieben wird: „Jeder Tag ist gewissermaßen Bilanz- und Gerichtstag und wird gemustert nach seinem Ertrag.“18 Diese Mechanik eines Aktivitätenregimes wird in den Selbstlenkungsvorgängen noch des 20. Jahrhunderts wichtig bleiben und soll hier beobachtet werden, allerdings als Teil eines noch größeren semiologischen Netzwerks, das aus religiösen, selbstphilosophischen, literarischen, kybernetisch-informatischen oder medizinischen Gliedern insgesamt besteht.
Zugleich ist zu erkennen, dass nicht nur die Ideen, sondern auch die Medien des Aufschreibens und industriell-technische Entwicklungen mit verschiedenen Wissensbranchen den Optimierungsgedanken des Subjekts um 1900 vorantreiben. Experimente in Psychologie und Physiologie führen über die Beobachtung hinaus zu verbessernden Anwendungen und zur Fixierung von Arbeitsstandards, die mit großer Selbstdisziplin verinnerlicht werden sollen. Solche Strategien der Selbstrationalisierung werden im Folgenden mitsamt zeitgenössischen Fragen der Wirtschaftsexpansion und des persönlichen Erfolges, all dies im Namen eines permanenten Fortschritts und andauernder Perfektibilität, in den Blick genommen. Zu zeigen ist dann, wie sich diese Lehren der (Betriebs-)Psychologie und der Psychotechnik bei Gustav Großmann, dem vielleicht wichtigsten Wirtschaftsratgeber des 20. Jahrhunderts, niedergeschlagen haben.19
Vermessungen des Menschen: empirische Psychologie und Arbeitswissenschaften
Aufzeichnungsmedien um 1900 parzellieren, detaillieren und geben Rohdaten zum Synthetisieren – damit werden Wahrnehmungswerte zum Objekt eines bloßen Zählens, und um das Zählwerk zu verbessern, werden wiederum die Medien verfeinert. Dahinter hat sich aber längst eine Tradition der soziologischen Rechentechnik etabliert: Theoretisch seit Leibniz, verbreiteter aber seit der Gaußschen Glockenkurve bestimmen die Überlegungen zur Wahrscheinlichkeitsberechnung von Ereignissen auch die Normvorstellungen – und damit wiederum Devianzen nach oben oder unten, die sich auf Leistungsskalen eintragen lassen. Im 19. Jahrhundert war dafür der Sozialstatistiker Adolphe Quetelet (1796–1874) die maßgebliche Instanz, und er machte sich dann vor allem mit der Vermessung des Menschen (etwa auch des Verhältnisses von Gewicht und Wuchs) daran, Typen zu ermitteln und durch nationale sowie vergleichend internationale Statistik Durchschnittswerte und deren Verhältnis zum Individuum zu berechnen, insbesondere was Bildungsstände, Eigentum und Einkommen und damit in Beziehung stehende Kriminalitätsraten angeht.20 An Quetelets Forschungen können verschiedene Experimentatoren anknüpfen. Die anthropometrischen Vermessungen, die Alphonse Bertillon in den 1880er Jahren vorgenommen hat, sind zunächst analytisch orientiert: Körperteile werden kartiert oder Gesichtspartien fotografisch serialisiert, sodann werden Merkmalskombinationen in einer Buchstabenformel zusammengefasst, woraus gewaltige Archive entstehen.21 Francis Galton stellt dann aus Gesichtsfotografien Kompositbilder zusammen, synthetisiert also Einzelansichten, um mimische Typologien und daraus physiologische Mittelwerte zu gewinnen.22 Wenngleich hier der Leitgedanke ein kriminologischer ist, entspricht doch das Paradigma von Devianz den Vermessungsabsichten überhaupt, mit denen auch Leistungsverhalten geprüft werden kann – bei Galton geschieht dies dann mit deutlichen Implikationen für eine Eugenik, die hier nahtlos (und auch im Gegensinn des „Übermenschen“) anknüpfen kann. Dafür lassen sich in der Anthropologie nach 1900 zum Beispiel in Rudolf Goldscheids Soziologie Spuren finden (die im Zusammenhang mit Großmann unten dargestellt sind).
Details
- Seiten
- 146
- ISBN (PDF)
- 9783631917336
- ISBN (ePUB)
- 9783631917343
- ISBN (Hardcover)
- 9783631917329
- DOI
- 10.3726/b21732
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2025 (Mai)
- Schlagworte
- Selbstoptimierung Selbstmessung Industriepsychologie Normierung Körperkult Erzählformen Quantifizierung
- Erschienen
- Berlin, Bruxelles, Chennai, Lausanne, New York, Oxford, 2025. 146 S. 4 s/w Abb.
- Produktsicherheit
- Peter Lang Group AG