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Die deutschen Friedensnobelpreiskandidaten in der Besatzungszeit, in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR 1946–1961

von Thomas Sirges (Autor:in)
©2023 Monographie 444 Seiten

Zusammenfassung

Der Neuanfang war mühsam. Zunächst einmal beherrschte eine kleine Gruppe prominenter Pazifisten aus der Weimarer Republik das deutsche Bewerberfeld für den Friedensnobelpreis nach 1945. Erst im Laufe der 1950er Jahre traten Kandidaten auf, deren Wirken sich mit dem politischen Neuanfang verband. Jedoch kehrten nicht alle exilierten Kandidaten auch nach Deutschland zurück. Durch die jüngsten militärischen Ereignisse in Europa hat dieser Band im Verlaufe seiner Entstehung unerwartet an Aktualität gewonnen. So sehr sich auf der einen Seite die Friedensideen und -konzepte sowie die praktische Friedensarbeit der Kandidaten voneinander unterschieden, so sehr einte die Generation, die zwei Weltkriege erlebt hatte, auf der anderen Seite der feste Wille, einen dritten, wohlmöglich atomaren Weltkrieg zu verhindern.
Vom selben Autor sind bereits die Bände Die deutschen Friedensnobelpreiskandidaten im Kaiserreich 1901–1918 (2017), Die deutschen Friedensnobelpreiskandidaten in der Weimarer Republik 1919–1933 (2020) und Die deutschen Friedensnobelpreiskandidaten in der Zeit des Nationalsozialismus 1934–1945 (2021) erschienen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Deutsche Friedensnobelpreiskandidaten als Forschungsthema
  • Der Friedensnobelpreis und die Deutschen
  • Kandidaten
  • Vorschläge
  • Nobelkomitee
  • Vorauswahl
  • Gutachten
  • Entscheidungen
  • Öffentliche Reaktionen
  • Die deutschen Friedensnobelpreiskandidaten in Einzelporträts
  • Konrad Adenauer
  • Gertrud Baer
  • Friedrich Wilhelm Foerster
  • Paul Geheeb
  • Otto Lehmann-Rußbüldt
  • Marie-Elisabeth Lüders
  • Wilhelm Mensching
  • Paul Frhr. v. Schoenaich
  • Hans Wehberg
  • Arnold Zweig
  • Anhang
  • Abkürzungen
  • Literatur- und Quellenverzeichnis
  • Nachweis der Abbildungen
  • Namenregister

Deutsche Friedensnobelpreiskandidaten als Forschungsthema1

Der Neuanfang war mühsam. Zunächst einmal beherrschte eine kleine Gruppe prominenter Pazifisten aus der Weimarer Republik das Bewerberfeld der deutschen Friedensnobelpreiskandidaten. Hierzu gehörten der Pädagoge Friedrich Wilhelm Foerster, der Publizist Otto Lehmann-Rußbüldt, der frühere Generalmajor Paul Frhr. v. Schoenaich und der Völkerrechtler Hans Wehberg. Erst im Laufe der 1950er Jahre traten deutsche Kandidaten auf, deren Wirken sich mit dem politischen und gesellschaftlichen Neuanfang verband. Bundeskanzler Konrad Adenauer, die Lehrerin Gertrud Baer,2 der Pädagoge Paul Geheeb, die Politikerin Marie-Elisabeth Lüders und der Pfarrer Wilhelm Mensching setzten sich – auf verschiedenen Feldern und jeder auf seine Weise – für Frieden und Völkerverständigung ein. Viele Jahre stellte der ostdeutsche Staat keinen einzigen Kandidaten für den Friedensnobelpreis. Erst kurz vor dem Mauerbau wurde mit dem Schriftsteller Arnold Zweig auch ein Repräsentant der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) vorgeschlagen.

Obwohl es sich bei diesem Personenkreis ausnahmslos um Persönlichkeiten handelt, die aus der biografischen und zeitgeschichtlichen Literatur gut bekannt sind, erfährt man über ihre Kandidatur für den weltweit renommiertesten Friedenspreis so gut wie kaum etwas. Einige spärliche Hinweise für die Zeit nach 1945 haben sich nur zu Friedrich Wilhelm Foerster,3 Paul Geheeb,4 Otto Lehmann- Rußbüldt,5 Wilhelm Mensching6 und Paul Frhr. v. Schoenaich7 gefunden.

Etwas mehr über Friedensnobelpreiskandidaten – wenngleich in einer sehr selektiven Auswahl – erfährt man neuerdings aus dem auf Norwegisch erschienenen Buch Medaljens bakside. Nobels fredspris – hundre års ubrukte muligheter (Die Kehrseite der Medaille. Friedensnobelpreis – hundert Jahre mit verpassten Möglichkeiten). Wie schon aus dem Titel hervorgeht, übt der Autor Fredrik S. Heffermehl in vielen Fällen harsche Kritik an der Arbeit des Nobelkomitees und führt zahlreiche nominierte und nicht nominierte Personen an, die seiner Ansicht nach der ursprünglichen Intention des Nobelpreises besser entsprochen hätten als die vom Nobelkomitee gekürten Preisträger.8 Unter ihnen befindet sich mit Gertrud Baer,9 Albert Einstein, Friedrich Wilhelm Foerster, Käthe Kollwitz, Otto Lehmann-Rußbüldt, Georg Friedrich Nicolai, Erich Maria Remarque, Walther Schücking und Hans Wehberg auch eine erstaunlich große Zahl von Deutschen.10 Heffermehl äußert sich auch über die drei deutschen Friedensnobelpreisträger in dem hier behandelten Zeitraum. Mit den Auszeichnungen von Ludwig Quidde11 und Carl v. Ossietzky12 zeigt er sich ganz einverstanden, kritisiert aber die Ehrung von Gustav Stresemann,13 weil er prinzipiell die Verleihung des Friedensnobelpreises an Staatsmänner und Politiker, die im öffentlichen Auftrag handeln, ablehnt. Deshalb wertet er auch die Aufnahme von Bundeskanzler Konrad Adenauer auf die Shortlist schon als Verstoß gegen den Geist Alfred Nobels.14

Methodisch folgt diese Studie über die deutschen Friedensnobelpreiskandidaten in der Besatzungszeit, in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR dem Vorbild der drei Vorgängerstudien zum Kaiserreich, zur Weimarer Republik und zur Zeit des Nationalsozialismus.15 Die Begrenzung auf die Zeit bis 1961 ist zum einen dadurch begründet, dass der Mauerbau in Berlin einen tiefen historischen Einschnitt in der deutschen und europäischen Geschichte markiert, und zum anderen dadurch, dass nach 1961 eine neue Generation von deutschen Friedensnobelpreiskandidaten auftritt.16 Wichtigste empirische Grundlage auch dieser Studie bilden die im norwegischen Nobelinstitut (Det Norske Nobelinstitutt (NNI)) vorliegenden Vorschlagsschreiben, der einschlägige Postverkehr17 sowie die im Auftrag des Nobelkomitees angefertigten gutachterlichen Berichte (Redegjørelser).18 Wichtigste Quelle in dieser Zeit, um einige Interna aus dem Nobelkomitee zu erfahren, ist das Tagebuch des langjährigen Vorsitzenden des Nobelkomitees, Gunnar Jahn, welches in der Nationalbibliothek (Nasjonalbiblioteket (NB)) aufbewahrt wird. Für die Beurteilung von deutschen Kandidaten gibt es aber, das sei vorausgeschickt, so gut wie nichts her. Mit Gewinn konnten auch wieder norwegische und deutsche Zeitungen für diese Studie ausgewertet werden. In Norwegen liegt mittlerweile fast der gesamte historische Zeitungsbestand in digitalisierter Form in der NB vor. Seine Auswertung erbrachte in einigen Fällen wertvolle Aufschlüsse über den zeitgenössischen Bekanntheitsgrad deutscher Kandidaten in Norwegen. Schwieriger gestaltet sich nach wie vor die Recherche in deutschen historischen Zeitungsbeständen. Für die DDR konnten das Neue Deutschland (ND), die Berliner Zeitung (BZ) und die Neue Zeit (NZ) herangezogen werden, die in der Staatsbibliothek Berlin frei recherchierbar sind.19 Für die Bundesrepublik Deutschland konnten die kommerziellen digitalen Archive der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Süddeutschen Zeitung genutzt werden. Auf die Hinzuziehung weiterer Zeitungen musste verzichtet werden, da eine Durchsicht der Mikrofilmausgaben den zeitlichen Rahmen dieser Studie gesprengt hätte.

Der dreiteilige Aufbau des Buches folgt auch diesmal dem bei den Vorgängerbänden eingeschlagenen Weg. Der erste Teil fasst die wichtigsten Ergebnisse zur Geschichte der deutschen Friedensnobelpreiskandidaten in der Besatzungszeit, in der Bundesrepublik Deutschland und in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) in systematisch-vergleichender Form zusammen, wobei auch zahlreiche Vergleiche mit den vorhergehenden Epochen von 1901 bis 1945 gezogen werden. Ergänzt wird der erste Teil mit einer Darstellung der Pressereaktionen von zwei westdeutschen und drei ostdeutschen Zeitungen. Der zweite Teil enthält kurze Biografien der Kandidaten mit Schwerpunkt auf ihren friedenspolitischen Idealen und Aktivitäten sowie ihrer Kandidatur. Dabei werden auch die Motive und Intentionen der Antragsteller und Unterstützer wiederum eingehend untersucht. Der dritte Teil rundet schließlich die Studie mit ausgewählten Dokumenten zu den deutschen Kandidaten ab.20

1 Einmal mehr richte ich einen herzlichen Dank an die Kollegen Dr. Anneliese Pitz und Prof. John Ole Askedal für die Durchsicht des Manuskripts.

2 Gertrud Baer hat im Exil die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen. Ihre Aufnahme unter die deutschen Kandidaten ist aber dadurch gerechtfertigt, dass die Niederlegung der deutschen Staatsbürgerschaft durch die nationalsozialistische Gewaltherrschaft erzwungen war. Zudem wurde Baer auch in den tabellarischen Übersichten der Berichte des norwegischen Nobelkomitees als Deutsche weitergeführt. Als sie die amerikanische Staatsbürgerschaft annahm, anglisierte sie ihren Vornamen in Gertrude. Im Folgenden wird in den darstellenden Teilen die deutsche Schreibweise beibehalten und nur bei Quellennachweisen nach 1940 die anglisierte Form des Vornamens verwendet.

3 Vgl. Max: Pädagogische und politische Kritik im Lebenswerk Friedrich Wilhelm Foersters (1869–1966). Stuttgart: ibidem-Verlag, 1999, S. 218.

4 Vgl. Martin Näf: Paul und Edith Geheeb-Cassirer. Gründer der Odenwaldschule und der Ecole d’Humanité. Deutsche, Schweizerische und Internationale Reformpädagogik 1910–1961. Weinheim u. Basel: Beltz, 2006, S. 716–717.

5 Vgl. Jakob Stöcker: „Otto Lehmann-Rußbüldt, der Mann der Menschenrechte“, in: ders.: Männer des deutschen Schicksals. Von Wilhelm II. bis Adolf Hitler. Geschichte in Porträts. Berlin: Oswald Arnold, 1949, S. 193–201, hier: S. 200; Charmian Brinson u. N.A. Furness: „‚Im politischen Niemandsland der Heimatlosen, Staatenlosen, Konfessionslosen, Portemonnaielosen …‘: Otto Lehmann-Russbüldt in British Exile“, in: The Yearbook of the Research Centre for German and Austrian Exile Studies 1 (1999), S. 117–144, hier: S. 137; Ralf Forsbach (Hg.): Eugen Fischer- Baling 1881–1964. Manuskripte, Artikel, Briefe und Tagebücher. München: Harald Boldt Verlag im R. Oldenbourg Verlag, 2001, S. 87.

6 Vgl. Geschichtswerkstatt Herderschule Bückeburg: Pastor Wilhelm Mensching – ein Geistlicher mit Zivilcourage. Begleitheft zur gleichnamigen Ausstellung im Niedersächsischen Staatsarchiv Bückeburg 3.5. bis 27.6.2001, S. 18.

7 Vgl. Stefan Appelius: Pazifismus in Westdeutschland. Die Deutsche Friedensgesellschaft 1945–1968. Bd. I. Aachen: G. Mainz, 1991, S. 162 (Anm. 123), und J. Stöcker: a.a.O., S. 200.

8 Vgl. Fredrik S. Heffermehl: Medaljens bakside. Nobels fredspris – hundre års ubrukte muligheter. Rånåsfoss: Svein Sandnes Bokforlag, 2020. Für Heffermehl verstößt das Nobelkomitee mit seinen Entscheidungen immer wieder gegen den testamentarischen Willen des Nobelpreisstifters. Statt echte Kriegsgegner und Friedensvorkämpfer auszuzeichnen, würde der Preis an andere Zielgruppen vergeben. Über Heffermehls Kritik an den Auswahlkriterien und den Begründungen wird man sicher geteilter Ansicht sein können. Gleichwohl ist es ihm gelungen, der historischen Beschäftigung mit dem Friedensnobelpreis einen originellen Ansatz hinzufügen.

9 Ein kleines, auf das Gutachten gestütztes Porträt von Gertrud Baer als Kandidatin für den Friedensnobelpreis findet sich bei Ingunn Norderval: Nobelkomiteen og kvinnene: 1901–1960 [Das Nobelkomitee und die Frauen: 1901–1960]. O.O. [Oslo]: Internasjonal kvinneliga for fred og frihet, 2015, S. 109–112. Die Autorin geht auch auf Anna B. Eckstein ein. (Vgl. ebd., S. 44–45.)

10 Vgl. Fr. S. Heffermehl: a.a.O., 2020, S. 245 u. 249–250 (Baer), S. 194–195 u. 212–213 (Einstein), S. 208–210 u. 241 (Fr.W. Foerster), S. 214–215 (Kollwitz), S. 241 (Lehmann- Rußbüldt), S. 194 u. 202–204 (Nicolai), S. 214–215 (Remarque), S. 187–188 u. 202 (Schücking) u. S. 223, 231 u. 240 (Wehberg). Genannt wird auch die Deutsche Friedensgesellschaft (DFG). (Vgl. ebd., S. 179.)

11 Vgl. ebd., S. 201.

12 Vgl. ebd., S. 216–217. Scharfe Kritik übt Heffermehl allerdings an der Laudatio von Professor Fredrik Stang, dem damaligen Vorsitzenden des Nobelkomitees. Anstatt die in den Gutachten ausführlich ausgebreiteten Verdienste v. Ossietzkys als Pazifist und Antimilitarist angemessen zu würdigen, habe er diese nur oberflächlich gestreift und es stattdessen vorgezogen, sich in philosophische Floskeln zu ergehen. Durch seine Rede seien die späteren „Nobelhistoriker“ ermutigt worden, Nobels Friedenspreis zu einem Menschenrechtspreis umzudeuten. (Ebd., S. 217–218, hier: S. 218.)

13 Vgl. ebd., S. 199–201, hier: S. 199.

14 Vgl. ebd., S. 245.

15 Vgl. Thomas Sirges: Die deutschen Friedensnobelpreiskandidaten im Kaiserreich 1901–1918. Frankfurt a.M.: Peter Lang, 2017; ders.: Die deutschen Friedensnobelpreiskandidaten in der Weimarer Republik 1919–1933. Berlin: Peter Lang, 2020; ders.: Die deutschen Friedensnobelpreiskandidaten in der Zeit des Nationalsozialismus 1934–1945. Berlin: Peter Lang, 2021.

16 Von allen deutschen Kandidaten des hier behandelten Zeitraums wird nur Friedrich Wilhelm Foerster nach 1961 noch einmal vorgeschlagen.

17 Hier finden sich etliche Schreiben von nicht vorschlagsberechtigten Antragstellern und Unterstützern.

18 Kursivierungen in Zitaten zeigen Hervorhebungen im Original an. S-Laute wurden der zeitgemäßen Rechtschreibung angepasst. Die Umlaute Ae/ae, Oe/oe, Ue/ue erscheinen als Ä/ä, Ö/ö und Ü/ü. In runde Klammern gesetzte Auslassungen entsprechen dem Originaltext. In eckige Klammern gesetzte Auslassungen und Zusätze stammen vom Verfasser. Offensichtliche Schreib-, Druck- und Zeichensetzungsfehler in den Originaltexten wurden stillschweigend verbessert, abweichende Namensschreibungen ausgeglichen und Abkürzungen in der Regel aufgelöst. Bei der Übersetzung fremdsprachiger Zitate ist auf eine Anzeige von Wortumstellungen verzichtet worden.

19 Das Neue Deutschland (ND) war das Zentralorgan der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Auch die Berliner Zeitung (BZ) stand unter der Kontrolle der SED. Die Neue Zeit (NZ) war das Zentralorgan der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands in der SBZ/DDR (CDU-Ost).

20 Damit das Buch auch als Nachschlagewerk genutzt und die Kandidatenporträts selbstständig gelesen werden können, ließen sich Wiederholungen nicht gänzlich vermeiden. Das betrifft vor allem die Nennung der Friedensnobelpreisträger im Zusammenhang mit den Entscheidungen des Nobelkomitees.

Der Friedensnobelpreis und die Deutschen

1. Kandidaten

Im Zeitraum von 1946 bis 1961 erreichten – einschließlich der mehrfach nominierten Kandidaten – 469 Kandidatenvorschläge für den Friedensnobelpreis das Nobelkomitee. Diese verteilten sich auf 400 Personen (85,3 %) und 69 Institutionen/Organisationen (14,7 %). Im Jahresdurchschnitt konnte also das Nobelkomitee aus 29,3 Kandidaten auswählen. Nachdem die Zahl der Vorschläge von 1946 bis 1953 – mit Ausnahme von 1952 – beständig gestiegen war, kreiste ihre Zahl bis 1960 um den Durchschnittswert, lag mal darüber und mal darunter, ohne aber allzu stark – mit Ausnahme von 1955 – nach der einen oder anderen Seite auszuschlagen. Erst 1961 wurde wieder ein neuer Spitzenwert erreicht. Der Friedensnobelpreis hatte sich also von dem durch den Zweiten Weltkrieg bedingten Einbruch fast vollständig wieder erholt. Im Zeitraum 1934–1945 war nämlich der Durchschnittswert, bedingt durch die Kriegsjahre, auf 22,3 Vorschläge gefallen, wohingegen er im vorangegangenen Zeitraum 1919–1933 noch auf einen Wert von 30,9 Vorschlägen gekommen war:

Tab. 1:Kandidaten für den Friedensnobelpreis 1946–1961 (N = Numerus; P = Person(en); I = Institution(en)/O = Organisation(en))1
Jahr Alle Kandidaten Deutsche Kandidaten
N P I/O N P I/O
1946 11 8 3
1947 21 16 5 1 1
1948 24 22 2 3 3
1949 29 23 6 1 1
1950 34 28 6 1 1
1951 36 29 7 3 3
1952 31 27 4 3 3
1953 38 33 5 3 3
1954 24 19 5 1 1
1955 37 32 5 4 4
1956 28 23 5 4 4
1957 25 22 3 2 2
1958 26 21 5 2 2
1959 32 27 5 2 2
1960 31 31 3 3
1961 42 39 3 3 3
Summe 469 400 69 36 36

Auf Deutschland entfielen – einschließlich der mehrfach nominierten Kandidaten – 36 Kandidatenvorschläge (7,7 %), die erstmals seit 1901 ausschließlich Personen galten. Das waren durchschnittlich 2,3 Vorschläge pro Jahr. Nachdem in der Zeit des Nationalsozialismus der Jahresdurchschnittswert auf 1,5 zurückgegangen war, war damit fast wieder der Jahresdurchschnittswert von 2,4 Vorschlägen aus der Zeit der Weimarer Republik erreicht. Gleichwohl mussten gewisse Anlaufschwierigkeiten überwunden werden. Im Jahre 1946 hatte es noch gar keinen deutschen Vorschlag gegeben und die folgenden vier Jahre kamen nur auf einen Anteil von 16,7 Prozent. In den sich daran anschließenden elf Jahren gingen dann jedes Jahr – mit Ausnahme eines Ausreißers im Jahr 1954 – zwei bis vier Vorschläge aus Deutschland ein, womit der Jahresdurchschnittswert bei 2,7 Vorschlägen lag. Auch international konnte Deutschland durchaus den Vergleich mit Frankreich und Großbritannien, auf die in diesem Zeitraum 39 bzw. 25 Nominierungen entfielen, bestehen:

Tab. 2:Deutsche Kandidaten nach Häufigkeit der Vorschläge 1946–1961 (N = 36)
Personen Nominierungen
Otto Lehmann-Rußbüldt 9
Gertrud Baer 5
Friedrich Wilhelm Foerster 5
Hans Wehberg 4
Paul Geheeb 3
Wilhelm Mensching 3
Konrad Adenauer 2
Paul Frhr. v. Schoenaich 2
Arnold Zweig 2
Marie-Elisabeth Lüders 1

Das zehnköpfige deutsche Kandidatenfeld bestand aus acht Männern und zwei Frauen.2 Nach Anna B. Eckstein3 im Kaiserreich und Helene Stöcker4 in der Zeit des Nationalsozialismus waren Gertrud Baer, Vertreterin der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF) bei den Vereinten Nationen, und Marie-Elisabeth Lüders, Alterspräsidentin des Deutschen Bundestags, erst die dritte und vierte Frau aus Deutschland, die für den Friedensnobelpreis nominiert worden sind. Ihnen standen bis 1961 insgesamt 40 männliche Kandidaten gegenüber.

Der mit weitem Abstand meist vorgeschlagene deutsche Kandidat ist mit neun Nominierungen der Publizist Otto Lehmann-Rußbüldt gewesen. Ihm folgten mit gehörigem Abstand mit je fünf Nominierungen Gertrud Baer und der Pädagoge Friedrich Wilhelm Foerster und mit vier Nominierungen der Völkerrechtler Hans Wehberg. Auf den Pädagogen Paul Geheeb und den Pfarrer Wilhelm Mensching entfielen je drei und auf Bundeskanzler Konrad Adenauer, auf den früheren Generalmajor Paul Frhr. v. Schoenaich und auf den Schriftsteller Arnold Zweig je zwei Nominierungen. Auf nur eine Nominierung kam Marie-Elisabeth Lüders.

Wie nie zuvor dominierten also Pazifisten unterschiedlicher Richtungen das deutsche Kandidatenfeld für den Friedensnobelpreis. Aus diesem Rahmen fiel nur Konrad Adenauer, der zwar kein Militarist, aber überzeugt davon war, dass „der Pazifismus in einer Welt der Gewalt und der Drohungen als offizielle Politik Selbstmord wäre und kein Dienst am Frieden.“5 Zwischen den Pazifisten verlief die deutlichste Scheidegrenze in der Frage der Remilitarisierung. Gertrud Baer,6 Friedrich Wilhelm Foerster, Paul Geheeb, Wilhelm Mensching, Paul Frhr. v. Schoenaich und Arnold Zweig waren gegen die Aufstellung einer (west-)deutschen Armee. Hans Wehberg und Otto Lehmann-Rußbüldt haben dagegen eine deutsche Beteiligung an einem westlichen Verteidigungsbündnis gegen die kommunistische Bedrohung ausdrücklich unterstützt. Das tat auch die FDP-Abgeordnete Marie-Elisabeth Lüders,7 die sich aber bei der Abstimmung über die allgemeine Wehrpflicht ihrer Stimme enthielt,8 nachdem sie vorher leidenschaftlich dafür gestritten hatte, dass die jungen Männer, die Angehörige im Zweiten Weltkrieg verloren hatten, von einer Einberufung befreit blieben. Paul Geheeb hat sich – soweit bekannt – nicht explizit zur Frage der Wiederbewaffnung geäußert, ist aber in den 1930er Jahren ein erklärter Gegner der allgemeinen Wehrpflicht und einer militärischen Ausbildung junger Menschen gewesen.

Drei deutsche Kandidaten – Friedrich Wilhelm Foerster, Paul Frhr. v. Schoenaich und Hans Wehberg – gehörten seit vielen Jahrzehnten zu den führenden Vertretern der deutschen Friedensbewegung und erfreuten sich international hoher Wertschätzung. Alle drei waren bereits in der Weimarer Republik – zum Teil mehrfach – für den Friedensnobelpreis nominiert worden, Foerster und Wehberg zudem auch in der Zeit des Nationalsozialismus. Zu dem Kreis der Friedensveteranen gehörte auch Otto Lehmann-Rußbüldt. Er hatte 1914 den Bund Neues Vaterland (BNV) mitbegründet. Die Nachfolgeorganisation Deutsche Liga für Menschenrechte (DLfM),9 für die er mehrere Jahre als Generalsekretär tätig gewesen war, wurde in der Zeit der Weimarer Republik zwei Mal für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen.

Fünf weitere Kandidaten sind auch schon in der Weimarer Republik überzeugte Pazifisten gewesen, doch haben sie entweder wie Gertrud Baer, Marie-Elisabeth Lüders und Wilhelm Mensching erst am Anfang ihrer „Karriere“ gestanden oder wie Paul Geheeb und Arnold Zweig keine aktive Rolle in der organisierten Friedensbewegung gespielt. Während es für Geheeb auch nach 1945 dabei blieb, nahm Zweig eine prominente Position in der staatlichen Friedenspolitik der DDR ein.

Mit Ausnahme von Otto Lehmann-Rußbüldt und Paul Frhr. v. Schoenaich, der immerhin neben seinem Militärdienst einige Vorlesungen an der Berliner Universität besuchte, haben alle deutschen Kandidaten ein Universitätsstudium absolviert und bis auf Arnold Zweig auch abgeschlossen. Fast alle sind danach entweder in den Dienst des Staates bzw. von Organisationen getreten oder haben sich für den freien Beruf des Schriftstellers und Publizisten entschieden. Einzige Ausnahme bildete auch hier Paul Frhr. v. Schoenaich, der nach seiner aktiven Laufbahn als Offizier ein Gut in Schleswig-Holstein bewirtschaftet hat:

Tab. 3:Berufliche Tätigkeit der deutschen Kandidaten 1946–1961
Berufe Zahl
Pädagoge 2
Politiker 2
Professor/Gelehrter 2
Publizist/Schriftsteller 2
Offizier 1
Pfarrer 1

Wie in allen vorhergehenden Epochen verteilten sich die Kandidaten auf wenige bürgerliche Berufe. Diesmal lagen Politiker, Professoren, Publizisten/Schriftsteller und Pädagogen gleichauf. In den Zeiträumen 1919–1933 und 1934–1945 hatten jeweils Professoren/Gelehrte deutlich vor Politikern und Publizisten/Schriftstellern gelegen. Die Mehrzahl der nominierten Professoren sind im Übrigen Völkerrechtler gewesen.

Mit Ausnahme von Otto Lehmann-Rußbüldt und Arnold Zweig, die aus einfachen Verhältnissen kamen, und dem aus einem alten preußischen Adelsgeschlecht stammenden Paul Frhr. v. Schoenaich sind alle Kandidaten in gut- bis großbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen. Die zumeist politisch liberal und religiös tolerant eingestellten Elternhäuser übten zumindest im Falle von Gertrud Baer, Friedrich Wilhelm Foerster und Hans Wehberg einen prägenden Einfluss aus. Gertrud Baer kam durch ihre Mutter Sara Baer schon früh in Kontakt mit der Frauenbewegung, namentlich mit der Feministin und Pazifistin Lida Gustava Heymann. Auch die Väter von Friedrich Wilhelm Foerster und Hans Wehberg, der Astronom Wilhelm Foerster und der Arzt Heinrich Wehberg, sind aktive Pazifisten gewesen.

Von den zehn deutschen Kandidaten leben zum Zeitpunkt ihrer Nominierung sechs in Deutschland, drei dauerhaft im Ausland und einer zunächst im Ausland und erst später in Deutschland:

Tab. 4:Wohnorte der deutschen Kandidaten 1946–1961
Konrad Adenauer Rhöndorf/Bonn
Gertrud Baer Genf (Schweiz)
Friedrich Wilhelm Foerster New York (USA)
Paul Geheeb Goldern (Schweiz)
Otto Lehmann-Rußbüldt London (GB)/Berlin (West)
Marie-Elisabeth Lüders Berlin (West)
Wilhelm Mensching Bückeburg
Paul Frhr. v. Schoenaich Reinfeld (Holstein)
Hans Wehberg Genf (Schweiz)
Arnold Zweig Berlin (Ost)

Friedrich Wilhelm Foerster und Hans Wehberg hatten schon zu Zeiten der Weimarer Republik Deutschland verlassen, der eine, nachdem sein Leben ernsthaft bedroht war, der andere, weil ihm eine akademische Karriere in Deutschland verwehrt blieb. Wehberg kehrte nicht mehr nach Deutschland zurück und Foerster verlegte erst 1964 seinen Alterswohnsitz von den USA zurück in die Schweiz. Die IFFF-Funktionärin Gertrud Baer, der Pädagoge Paul Geheeb und der Publizist Otto Lehmann-Rußbüldt haben nach der nationalsozialistischen Machtübernahme Deutschland verlassen. Baer ging zuerst in die Schweiz, übersiedelte 1940 nach New York und kehrte 1950 nach Genf zurück. Geheeb wanderte 1934 in die Schweiz aus, weil er für seine Reformschule in Deutschland keine Chance mehr sah. Er kehrte nicht mehr nach Deutschland zurück. Lehmann-Rußbüldt floh nach England und kehrte 1951 nach Berlin (West) zurück. Auch Zweig musste 1933 seine Heimat verlassen, lebte viele Jahre im Exil in Haifa (Palästina/Israel) und kehrte 1948 nach Berlin (Ost) zurück. Er ist der einzige deutsche Kandidat gewesen, der aus der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) kam. Fünf Kandidaten hatten also lange Zeit im Exil gelebt, nur zwei von ihnen kehrten nach Deutschland zurück.

Die übrigen Kandidaten – Konrad Adenauer, Marie-Elisabeth Lüders, Wilhelm Mensching und Paul Frhr. v. Schoenaich – sind in Deutschland geblieben. Adenauer, Lüders und v. Schoenaich wurden zeitweilig von den Nationalsozialisten in Haft genommen und haben sich danach in die innere Emigration zurückgezogen. Von den Friedensnobelpreiskandidaten, die Deutschland nicht verlassen haben, hat sich nur Pfarrer Wilhelm Mensching aktiv in seiner Gemeinde und mit kleinen Schriften gegen den Nationalsozialismus gestellt.

2. Vorschläge

In den Jahren 1946–1961 gingen 58 gültige Vorschläge von 43 Einsendern aus elf Ländern für die zehn deutschen Kandidaten im Nobelinstitut ein:1

Tab. 5:Vorschläge für deutsche Kandidaten 1946–1961 (N = 58) und die nationale Zugehörigkeit der Antragsteller (N = 43)2
Land Vorschläge Antragsteller
Bundesrepublik Deutschland 26 17
USA 7 4
Griechenland 4 2
Japan 4 1
Frankreich 3 3
Großbritannien 3 2
Schweiz 3 2
Kanada 3 1
DDR 2 6
Belgien 2 2
Israel 1 3

Mit großem Abstand kamen die meisten Vorschläge aus der Bundesrepublik Deutschland (44,8 %), hinter denen auch die meisten Antragsteller (39,5 %) standen. Nimmt man die zwei Vorschläge aus der DDR (3,5 %) mit sechs Antragstellern (14,0 %) hinzu, so entfiel fast die Hälfte aller Vorschläge (48,3 %) und etwas mehr als die Hälfte aller Antragsteller (53,5 %) auf Deutschland.

Auch bei der Verteilung der Vorschläge und Antragsteller zeigt der Vergleich mit der Weimarer Republik, dass sich Deutschland von dem zahlenmäßigen Niedergang in der nationalsozialistischen Zeit weitgehend, wenngleich nicht vollständig, erholen konnte. Im Zeitraum 1934–1945 war der Anteil der deutschen Vorschläge (einschließlich der Emigranten) auf 14,2 Prozent und der Anteil der deutschen Antragsteller auf 1,6 Prozent gefallen. Dagegen hatte während der Weimarer Republik der Anteil der Vorschläge aus Deutschland noch bei drei Fünfteln (60,7 %) und die Zahl der deutschen Antragsteller bei etwas mehr als der Hälfte (50,9 %) gelegen. Die Zahl der deutschen Vorschläge lag also mit einem Minus von 12,4 Prozentpunkten noch um einiges hinter der Zeit von 1919 bis 1933 zurück, wohingegen sich die Zahl der deutschen Antragsteller – unter Nichtberücksichtigung der internationalen Initiative für Konrad Adenauer – wieder auf das vorherige Niveau eingependelt hatte und mit einem Plus von 2,6 Prozentpunkten sogar leicht darüber lag.

Nach Deutschland stammten die meisten Vorschläge aus den USA (12,1 %), Griechenland (6,9 %) und erstmals aus Japan (6,9 %). Traditionell waren auch Frankreich (5,2 %), Großbritannien (5,2 %), die Schweiz (5,2 %) und Belgien (3,5 %) wieder vertreten. Zum ersten Mal seit 1901 fehlten aber Vorschläge aus den Niederlanden, Österreich und Schweden. Dafür waren zum ersten Mal auch Vorschläge aus Kanada (5,2 %) und Israel (1,7 %) eingesandt worden.

Bei der beruflichen Tätigkeit der Antragsteller dominierten die Hochschullehrer mit weitem Abstand vor den Politikern:

Tab. 6:Beruf der Antragsteller 1946–1961 (N = 43)3
Beruf N %
Professor 26 60,5
Politiker/Diplomat 13 30,2
Andere 4 9,3

Auch in der Weimarer Republik hatten die Professoren vor den Politikern die größte Gruppe der Antragsteller gestellt, während im Kaiserreich und in der Zeit des Nationalsozialismus die Politiker vor den Professoren rangierten. Offenbar war in „demokratischen“ Zeiten das Mobilisierungspotenzial unter Hochschullehrern größer als unter Politikern, wohingegen es sich in „autoritären“ und „diktatorischen“ Zeiten genau umgekehrt verhielt. Im Kaiserreich hatte sich eine größere Zahl von liberal-pazifistischen Abgeordneten wiederholt für eine Auszeichnung der Führer der Friedensbewegung Adolf Richter4 und Otto Umfrid5 eingesetzt, und in der Zeit des Nationalsozialismus hatte sich eine überwältigende Anzahl demokratischer Politiker aus zahlreichen europäischen Ländern an der Friedensnobelpreiskampagne für Carl v. Ossietzky6 beteiligt.

Unten den Deutschen war Hans Wehberg, der neun Mal Otto Lehmann- Rußbüldt, zwei Mal Paul Frhr. v. Schoenaich und ein Mal Konrad Adenauer vorschlug, der mit weitem Abstand fleißigste Antragsteller. Sehr bemüht waren aber auch die Professoren Eugen Fischer-Baling und Professor Ossip K. Flechtheim mit je drei und Alfred Herrmann mit zwei Vorschlägen für Lehmann-Rußbüldt.7 Die Liste der ausländischen Antragsteller führte die amerikanische Friedensnobelpreisträgerin Emily Greene Balch und die japanische Professorin Tano Jodai mit je vier Vorschlägen für Gertrud Baer an, gefolgt von dem deutsch-kanadischen Philosophen Raymond Klibansky und dem griechischen Völkerrechtler Peter G. Vallindas mit je drei Vorschlägen für Paul Geheeb bzw. Hans Wehberg.

Details

Seiten
444
Jahr
2023
ISBN (PDF)
9783631901915
ISBN (ePUB)
9783631901922
ISBN (Hardcover)
9783631900086
DOI
10.3726/b20817
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2024 (Januar)
Schlagworte
Geschichte des Friedensnobelpreises Deutsche Friedensnobelpreiskandidaten Deutschland in der Zeit des Nationalsozialismus
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2023. 444 S.

Biographische Angaben

Thomas Sirges (Autor:in)

Thomas Sirges ist Professor für Deutsche Kulturkunde am Institut für Literatur, Kulturkunde und europäische Sprachen der Universität Oslo.

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Titel: Die deutschen Friedensnobelpreiskandidaten in der Besatzungszeit, in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR 1946–1961