Salomo als literarische Symbolfigur
Eine rezeptionsgeschichtliche Studie
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Zum Verhältnis von (biblischer) Theologie und Literatur
- Rezeptionsgeschichte
- Caroline V. Stichele, How to Conceptualize ‚Reception History‘
- Brennan Breed, Nomadic Text
- Literarische Figuren und ihre Wirkung
- Theorie der literarischen Figur
- Rezeptionsprozesse
- Salomo als literarische Symbolfigur – ein Überblick
- Semantische Knotenpunkte
- Salomo als Herrscher
- Biblische Motive und Figuren
- Der Herrscher Salomo als typische Figur
- Der Herrscher Salomo als variable Symbolfigur
- Durch die Salomo-Figur vermittelte Themen und Inhalte
- Salomo als Liebender
- Biblische Figuren
- Der liebende Salomo als typische Figur
- Der liebende Salomo als variable Symbolfigur
- Durch die Salomo-Figur vermittelte Themen und Inhalte
- Salomo als Weiser
- Biblische Motive
- Der weise Salomo als typische Figur
- Der weise Salomo als variable Symbolfigur
- Durch die Salomo-Figur vermittelte Themen und Inhalte
- Salomo/Kohelet als Zweifler und Verzweifelter
- Biblische Motive
- Salomo/Kohelet als typische Figur
- Salomo/Kohelet als variable Symbolfigur
- Durch die Salomo-Figur vermittelte Themen und Inhalte
- Zusammenschau
- Salomo in Klopstocks biblischen Trauerspielen und deren Rezeption
- Zu Klopstocks Verständnis von Bibel und Poesie
- Der Messias und der „Zürcher Literaturstreit“
- Von der heiligen Poesie (1755)
- Einführung zu den biblischen Trauerspielen
- Theologisch-exegetischer Hintergrund
- Entstehung der Trauerspiele und Verbindungen zu Der Messias
- Rezeption
- Figurenzeichnung
- F. G. Klopstock, Salomo. Ein Trauerspiel (1764)
- Inhalt
- Biblische Motive und Figuren
- Salomo als Warnfigur?
- Durch die Salomo-Figur vermittelte Themen und Inhalte
- Klopstocks Salomo im Vergleich zu zeitgenössischen Oratorien
- J. J. Bodmer, Die Thorheiten des weisen Königs (1764)
- Die Auseinandersetzung zwischen Bodmer und Klopstock
- Die Thorheiten des weisen Königs – eine Parodie?
- Die Thorheiten des weisen Königs – Inhalt
- Bodmers Gestaltung der Figuren
- Salomo als variable Symbolfigur
- Durch die Salomo-Figur und die Doppelgängerfigur vermittelte Themen und Inhalte
- Ein abschließender Blick auf Bodmers kritische Aneignung von Klopstocks Stück
- F. G. Klopstock, David. Ein Trauerspiel (1772)
- Inhalt
- Biblische Motive und Figuren
- Salomo als Vorbild
- Durch die Salomo-Figur vermittelte Themen und Inhalte
- David als Vorgeschichte zu Salomo
- L. S. Meinardus, König Salomo. Dramatisches Oratorium nach Worten der heiligen Schrift (1865)
- Inhalt
- Biblische Motive und Figuren
- Salomo als variable Symbolfigur
- Durch die Salomo-Figur vermittelte Themen und Inhalte
- Zusammenschau
- Zusammenfassung
- 6. Schlussgedanken
- 7. Literatur
1. Einleitung
In der biblischen Erzählung von 1 Kön 1–11 wird Salomo zunächst als der reichste, mächtigste und weiseste König aller Zeiten dargestellt. Er kann die schwierigsten Rechtsfälle lösen (1 Kön 3,16–28), über alles unter dem Himmel Auskunft geben (1 Kön 5,13) und errichtet den Tempel, den zu bauen David nicht vergönnt war. In seiner besonderen Beziehung zur Gottheit wird er vor anderen Königen dadurch ausgezeichnet, dass Gott mehrmals direkt und ohne prophetische Vermittlung zu ihm spricht (1 Kön 3,5–14; 9,2–9; 11,11–13). Damit erscheint Salomo in den ersten zehn Kapiteln als Ideal und Vorbild für die Herrscher Israels. Dies steht jedoch in scharfem Kontrast zum elften Kapitel, in dem Salomo sich fremden Göttern zuwendet und sich dadurch plötzlich in ein negatives Beispiel verwandelt.
Die innerbiblische Rezeption der Salomo-Figur in den Büchern der Chronik und jenen Schriften, die Salomo als Autor zugeschrieben werden, nämlich Koh, Spr, Hld und Weish sowie Ps 72 und 127, fügt der Salomo-Gestalt weitere Aspekte hinzu, die in außerkanonischem Schrifttum auf vielfältige Weise ausgebaut werden. Aufgrund der Pseudepigraphie sowie der entsprechenden Notiz in 1 Kön 5,12 erscheint Salomo beispielsweise als der Dichter einer stattlichen Anzahl von Sprüchen und (Liebes)Liedern. Außerdem tritt er als Zweifler auf, der den Sinn des Lebens hinterfragt (Koh 1–2). Insgesamt wird Salomo also schon innerbiblisch zu einer schillernden Figur, die für unterschiedliche Facetten des Menschseins stehen kann.
Verschiedenste Aspekte Salomos und der mit ihm verbundenen Bibeltexte wurden von frühjüdischer Zeit bis heute in außerbiblische Fortschreibungen aufgenommen, die sich nicht immer als explizit religiös verstehen, aber dennoch theologisch interessant sein können, wenn man ein Verständnis von Theologie zugrunde legt, das prinzipiell alles menschlich Bedeutsame auch als theologisch bedeutsam erachtet. Wie in der wissenschaftlich-exegetischen Interpretation biblischer Texte zeigt sich auch in der literarischen Interpretation eine interessante Wechselwirkung: Einerseits ist die Deutung des Textes immer vom geschichtlichen, sozialen und kulturellen Kontext der Ausleger*innen beeinflusst, andererseits nutzen diese aber auch den Bibeltext dazu, die Fragen und Probleme ihrer je eigenen Zeit zu deuten und Antworten darauf zu suchen.
Im deutschen Sprachraum verbreitete literarische Rezeptionen Salomos von der Frühen Neuzeit bis zum 21. Jahrhundert zu sammeln und auszuwerten, war das Ziel des interdisziplinären Forschungsprojektes „Ruler, Lover, Sage and Sceptic: Receptions of King Solomon“1, in dessen Rahmen die vorliegende Arbeit entstand. Das spezifische Ziel dieser Arbeit ist, Salomo als literarische Figur in ihren verschiedenen Ausprägungen darzustellen und insbesondere auf ihre Identifikationspotentiale sowie die durch sie vermittelten Bedeutungsgehalte zu befragen. Diese Frage ist von besonderer Relevanz, weil Salomo sich von der Antike bis zur Postmoderne als eine Figur erweist, die sehr unterschiedliche Bedeutungen transportieren und sowohl als Vorbild als auch als abschreckendes Beispiel oder auch als Karikatur fungieren kann.
Wenn in dieser Arbeit von Salomo als Symbolfigur die Rede ist, wird mit Jens Eder ein weiter Symbolbegriff angesetzt, der „alle Formen höherstufiger Bedeutung [umfasst], in denen Figuren als […] Zeichen für etwas anderes jenseits der dargestellten Welt fungieren.“2 Unter Symbolfigur ist also eine Figur zu verstehen, die eine Repräsentationsfunktion erfüllt und über sich hinausweist auf etwas, was sie selbst nicht ist. Diese basale und breite Definition hat den Vorteil, dass sie sich gut operationalisieren lässt; eine extensive Auseinandersetzung mit verschiedenen Symboltheorien und -begriffen ist im Rahmen dieser Arbeit nicht beabsichtigt.
Vielmehr geht es darum, ein Modell zu entwickeln, das es ermöglicht, die unüberschaubare Vielfalt der um Salomo kreisenden literarischen Werke zu systematisieren, sie sowohl nach thematischen Gesichtspunkten als auch nach der Ausgestaltung der Salomo-Figur zu ordnen und auf diese Weise verschiedene Trends in der Rezeption aufzuzeigen. Die Grundlage dafür bilden der rezeptionsgeschichtliche Ansatz von Brennan Breed3 sowie literaturwissenschaftliche Konzepte von Werner Wunderlich,4 Jens Eder5 und Hans Robert Jauß.6 Dieses Modell wird in zweifacher Weise angewandt: In Kap. 3, um einen Überblick über die Gesamtheit des literarischen Materials zu schaffen, und in Kap. 4 zur detaillierten Untersuchung der Werke eines einzelnen Autors, dessen Salomo-Interpretation eine eigene Wirkungsgeschichte entwickelt hat: Friedrich Gottlieb Klopstock mit den biblischen Trauerspielen Salomo (1764) und David (1772). Dabei steht vor allem die literarische Verarbeitung des traditionell vom Buch Kohelet her konstruierten Bildes von Salomo als Zweifler im Fokus.
1 Gefördert vom FWF unter den Projektnummern P 25473-G15 (01.12.2013 – 31.12.2016) und P 29909-GBL (01.01.2017 – 30.06.2021), angesiedelt an der Katholischen Privat-Universität Linz und geleitet von Univ.-Prof.in Dr.in Susanne Gillmayr-Bucher.
2 Eder, Jens, Gottesdarstellung und Figurenanalyse. Methodologische Überlegungen aus medienwissenschaftlicher Perspektive, in: Eisen, Ute/Müllner, Ilse (Hg.), Gott als Figur. Narratologische Analysen biblischer Texte und ihrer Adaptionen (HBS 82), Freiburg – Basel – Wien 2016, 36.
3 Vgl. Breed, Brennan, Nomadic Text. A Theory of Biblical Reception History, Bloomington 2014.
4 Vgl. Wunderlich, Werner, Figur und Typus. Kleine Phänomenologie des literarischen Personals, in: Versants: revue suisse des littératures romanes = Rivista svizzera delle letterature romanze = Revista suiza de literaturas románicas 37 (2000), 19–68.
5 Vgl. Eder, Gottesdarstellung und Figurenanalyse, 27–54.
6 Vgl. Jauß, Hans Robert, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Bd. 1: Versuche im Feld der ästhetischen Erfahrung (UTB 692), München 1977.
2. Zum Verhältnis von (biblischer) Theologie und Literatur
Die Frage, ob es für die Theologie sinnvoll sein kann, sich mit profaner Literatur zu beschäftigen, wurde in der frühen Kirchengeschichte eindeutig negativ beantwortet, was auch mit der Abgrenzung von der antiken, ‚heidnischen‘ Literatur zusammenhing.7 Obwohl sich diese klare Ablehnung nicht lange gehalten hat, blieb eine positive Zuwendung namhafter Theolog*innen zur Literatur bis in die letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts eher die Ausnahme als die Regel.8 Auch von literaturwissenschaftlicher Seite bestand eine große Zurückhaltung gegenüber literarischen Werken, die sich positiv affirmativ mit religiösen Themen und Motiven beschäftigen. Pointiert formuliert dazu Daniel Weidner: „Bibelwissenschaft und Literaturwissenschaft bilden einander wechselseitig ignorierende Paralleluniversen.“9
Für Theolog*innen gibt es jedoch sowohl in methodischer als auch in inhaltlicher Hinsicht gute Gründe, sich mit Literatur und Literaturwissenschaft zu befassen. Methodisch gesehen, ist nicht nur die Bibelwissenschaft, sondern die Theologie als Ganze eine wesentlich sprach- und textbezogene Wissenschaft und daher mit der Literaturwissenschaft „eng verwandt“.10
Inhaltlich ist vor allem die anthropologische Relevanz von Kunst und Literatur zu beachten. Menschen sind Wesen, die sich „ausdrücken müssen […], die expressiver und symbolischer, sinnvoller Kommunikation bedürfen.“11 Literatur „baut eigene Welten auf, wodurch gerade erst ermöglicht wird, dass sie sich auf die gesellschaftliche Welt bezieht.“12 Sie ist eine Form der Bewältigung einer gegebenen (und oft als leidvoll erfahrenen) Wirklichkeit „durch narrative Selbstexplikation. Dem offensichtlich Sinnlosen wird mit der Sinnenhaftigkeit der Sprache geantwortet.“13 Karl-Josef Kuschel bezeichnet Literatur sogar als „das schärfstmögliche Instrument der Selbstaufklärung des Menschen.“14
Für eine Theologie, die sich dem Zweiten Vatikanischen Konzil verpflichtet weiß, bedeutet anthropologische Relevanz auch theologische Relevanz. Wie das Vorwort zur Pastoralkonstitution Gaudium et spes ausdrücklich betont, ist alles, was Menschen existentiell bewegt, auch Sache der Kirche;15 und wie Karl Rahner in seinem Aufsatz „Theologie und Anthropologie“ von 1966 darlegt, ist der Mensch nicht nur als eines von vielen Themen, sondern ganz zentral Gegenstand der Theologie.16
Eine anthropologisch gewendete Theologie nach Rahner bildet die Grundlage für die folgenden Überlegungen und soll darum an dieser Stelle ein wenig entfaltet werden. Rahner gibt drei Arten von Gründen an, weshalb es nicht nur möglich, sondern notwendig ist, Theologie als theologische Anthropologie zu konzipieren: „epochale“ Gründe; Gründe, die im Wesen der Theologie selbst liegen; und „fundamentaltheologisch-apologetische“ Gründe.17 Ich möchte auf die ersten beiden Klassen von Argumenten näher eingehen.
Thomas Pröpper bemerkt zur anthropologischen Wende der Theologie, sie sei „nichts anderes als der verspätete Mitvollzug der […] anthropologischen Wende des Denkens überhaupt, die sich zu Beginn der Neuzeit ereignet und dann wohl unwiderruflich durchgesetzt hat.“18 Im 20. und 21. Jahrhundert kann die Theologie, sofern sie sich als Wissenschaft versteht und als solche ernst genommen werden will, hinter die Philosophie der Aufklärung nicht mehr zurück. Es ist kein gangbarer Weg, diese Philosophie einfach zu ignorieren, wie es in der Abschottungsstrategie der Neuscholastik versucht wurde. Auch heute kommt mancherorts die Vorstellung auf, eine Theologie der Postmoderne könne die Moderne ganz einfach überspringen und nahtlos an die Vormoderne anschließen. Lange bevor der Begriff „Postmoderne“ gebräuchlich war, hat Rahner schon vor diesem Trugschluss gewarnt:
„Man könnte vielleicht sagen, die ‚Neuzeit‘ […] sei vorbei oder am Untergehen und somit auch diese Philosophie. Daran mag etwas oder viel wahr sein. Aber Philosophien wechseln nicht wie Moden, sondern heben sich selbst in die neue Philosophie einer neuen geschichtlichen Epoche auf.“19
Die Welt und das Denken der Menschen sind heute fraglos anders als zur Zeit Kants. Sie sind aber auch anders, als sie wären, wenn es die Denkbewegungen nach Kant, welche die europäische Geistesgeschichte über die letzten Jahrhunderte geprägt haben, nie gegeben hätte. Deshalb geht der Versuch, diese Entwicklungen auszublenden und totzuschweigen, an der Realität vorbei. Die Theologie muss und soll die Philosophie der Neuzeit nicht unkritisch übernehmen – aber sie muss sie kennen und ernst nehmen, um das Denken der Postmoderne verstehen und sich dazu verhalten zu können.
In den verschiedenen Richtungen der neuzeitlichen Philosophie finden sich auch viele Positionen, die aus christlicher Sicht kritikwürdig sind. Ihre grundsätzlich anthropozentrische Ausrichtung ist aber nicht nur akzeptabel, sondern sie ist genau der Punkt, in dem sich christliches und modernes Denken begegnen können,
„weil für ein radikal christliches Verständnis der Mensch letztlich nicht ein Moment im Kosmos der Sachen ist […], sondern das Subjekt, von dessen subjekthafter Freiheit das Schicksal des ganzen Kosmos abhängig ist; denn sonst könnte die Heils- und Unheilsgeschichte keine kosmologische Bedeutung haben“20.
Auch Pröpper ist der Auffassung, dass die neuzeitliche Wende zum Subjekt dem christlichen Menschenbild nicht entgegensteht. Vielmehr habe das christliche Denken vom Menschen diese Wende sogar „befördert: Seit jeher hatte das Christentum […] jedem einzelnen Menschen, als Gegenstand göttlicher Erwählung unendlichen Wert zugesprochen; und seit jeher hatte es Gott als das Heil des Menschen verkündet“21. Joseph Möller formuliert dazu treffend, dass „Subjektivität […] nichts mit Atheismus zu tun hat […] der Mensch, der zu sich selbst findet, ist auf diese Weise Gott näher, als wenn er Gott nur faktisch anerkennt, ohne sein Menschsein erschlossen zu haben.“22
Vom Wesen der Theologie selbst her gesehen, ist es für sie nicht nur möglich, sondern notwendig, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, weil über Gott gar nichts gesagt werden kann, „ohne damit auch schon über den Menschen etwas zu sagen.“23 Menschen haben keine anderen als menschliche Ausdrucksweisen, um von einem Gott zu sprechen, der jedes menschliche Erkenntnisvermögen übersteigt. Darum können wir von Gott, so wie er ist, gar nicht sprechen, sondern nur von Gott, so wie er von Menschen erfahren wird, und darum „sind ‚Anthropozentrik‘ und ‚Theozentrik‘ der Theologie keine Gegensätze, sondern streng ein und dasselbe (von zwei Seiten ausgesagt).“24
Gott bleibt für Rahner immer das unaussprechliche Geheimnis, das der Mensch niemals ganz erfassen kann, auch nicht in der ewigen Seligkeit – denn wäre es so, dann würde „die Transzendentalität des Menschen […] über ihn triumphieren und sich selbst zum eigentlichen Gott machen.“25 An Aussagen wie diesen zeigt sich ganz klar, dass der Vorwurf, Rahner wolle Theologie auf ‚bloße‘ Anthropologie reduzieren und den Menschen an die Stelle Gottes setzen, nicht haltbar ist. Rahner liegt nichts ferner, als den Menschen zu vergötzen. Die Würde des Menschen ist für ihn unbedingt in Gott begründet und besteht gerade darin, dass der Mensch prinzipiell auf Gott hin offen ist. Geschaffen als Gottes Ebenbild (Gen 1,27) bedeutet in Rahners Interpretation: als von Gott ansprechbares Gegenüber. Gott teilt sich mit, weil er die Liebe ist, zu deren Wesen es gehört, sich verschenken zu wollen, und er hat den Menschen darauf angelegt, seine Liebe empfangen zu können – mit Rahners Worten: „Gott entwirft die Kreatur schöpferisch immer als die Grammatik einer möglichen Selbstaussage […] Wenn Gott Nicht-gott sein will, entsteht der Mensch.“26
Ihren Höhepunkt erreicht die Selbstmitteilung Gottes in der Menschwerdung, in welcher „Gott, gerade indem er und dadurch, daß er selbst sich entäußert, sich weggibt, das andere als seine eigene Wirklichkeit setzt.“27 Nicht nur die Schöpfungstheologie, sondern auch und vor allem der Glaube an die Inkarnation als „das Grunddogma der Christenheit“28 macht klar, dass die Theologie sich als theologische Anthropologie verstehen darf und muss, weil in Jesus Christus „Gott selbst Mensch ist und es in Ewigkeit bleibt“29. Die von Rahners Kritikern immer wieder vorgetragene Befürchtung einer Usurpation der ausschließlich Gott zukommenden Stellung durch den Menschen ist also unbegründet.
Sozusagen „von der anderen Seite her“ wird an transzendental- anthropologischen Ansätzen in der Theologie eine Überbetonung der Sonderstellung des Menschen gegenüber anderen Geschöpfen kritisiert. So beziehen Silvia Schroer und Thomas Staubli explizit Stellung gegen Pröppers Rückgriff auf Gen 1,27 zur Begründung der Würde des Menschen. Die dort erwähnte „Gottebenbildlichkeit“ ist eine in der Philosophie sehr beliebte Begründungsfigur;30 doch Schroer und Staubli weisen darauf hin, dass der biblische Befund hinsichtlich des Verhältnisses von Mensch und Tier alles andere als eindeutig ist, und führen zahlreiche Stellen an, die im Gegensatz zu Gen 1,27 von der Gleichheit oder höchstens einem sehr geringen Unterschied zwischen Mensch und Tier ausgehen.31
„Pröppers einseitiger Anknüpfungspunkt bei der Sonderstellung des Menschen als eines sich selbst bewussten Vernunftwesens“32 führt denn auch dazu, dass die Dimensionen der Leiblichkeit und Geschlechtlichkeit des Menschen in seiner Anthropologie unterbelichtet bleiben – obwohl die Geschlechtlichkeit gerade in der Genesisstelle, auf die er sich bezieht, Thema ist. In Gen 1,27 steht nicht nur: „Gott erschuf den Menschen als sein Bild“, sondern auch: „Männlich und weiblich erschuf er sie.“ Eine Reflexion darüber, „was diese Zweigeschlechtlichkeit für das göttliche Urbild und für die Zwiesprache zwischen Schöpfer/in (vgl. Spr 8,30 f.) und Geschöpfen bedeutet“33, lässt Pröpper jedoch vermissen.
Diese Problemanzeige gilt es m. E. ernst zu nehmen. Wenn die theologische Anthropologie in eine rationalistische Engführung gerät, besteht die Gefahr, dass sie wesentliche Aspekte des Menschseins – Körper, Geschlecht und Emotionen – nicht erfassen kann. Ohne Berücksichtigung dieser Aspekte kann jedoch auch von Beziehungen nicht adäquat gesprochen werden, weder von menschlichen Beziehungen noch von der Beziehung zwischen Gott und Mensch.
Schon Paul Tillich hat darauf hingewiesen, dass der Glaube notwendigerweise eine emotionale Komponente hat: Glaube ist ein Akt der ganzen Person, der die Elemente von Willen, Erkenntnis und Gefühl umfasst.34 Nach dem aktuellen Stand der neurobiologischen Forschung kann menschliches Denken ohne eine emotionale Komponente überhaupt nicht funktionieren;35 und ohne Rücksicht auf die Emotionalität des Menschen verbleibt die theologische Rede von Beziehung auf einem so hohen Abstraktionsniveau, dass sie den Kontakt zur gelebten Praxis des Glaubens verliert.
Diese Praxis hatte in allen Epochen der Kirchengeschichte auch eine ästhetische Dimension,36 und wenn Theologie als theologische Anthropologie verstanden wird, dann ist der künstlerische Selbstausdruck des Menschen in den bildenden Künsten, in Musik und Literatur als anthropologisch bedeutsames Phänomen auch theologisch von Bedeutung. Gerade auf die Literatur kann das Christentum als eine religiöse Tradition, die ganz wesentlich auf den schriftlichen Zeugnissen ihres Ursprungs aufbaut, auf keinen Fall verzichten. So nennt etwa der evangelische Theologe Klaas Huizing das Christentum „eine schriftvermittelte Wahrnehmungs- und Lebenskunst.“37
Huizing konzipiert in seinem Buch „Der erlesene Mensch“ Theologie als „literarische Anthropologie“38 und „(Bibel)Ästhetik.“39 Er spricht sich für eine Weiterentwicklung der anthropologischen Wende aus, die den Menschen vornehmlich als „Lesewesen“, „Homo legens“, versteht.40 Nicht nur die Bibel als ‚heilige‘ Schrift ist ein Ort der Gottesbegegnung, sondern jedes (literarische) Kunstwerk kann einen Raum der Transzendenzerfahrung öffnen,41 für die Rezipient*innen ebenso wie für die Produzent*innen. Auch Autor*innen, die sich selbst nicht als religiös bezeichnen, erleben in ihrem Schreiben mitunter ein Moment der Unverfügbarkeit, ein Geschehen, das ihnen ‚von anderswo her‘ widerfährt und von ihnen selbst nicht bewusst und absichtlich gesteuert werden kann.
Unter jenen Literat*innen, die sich einer an einen Schöpfergott glaubenden Religionen zugehörig fühlen, haben sich zu allen Zeiten Personen gefunden, die ihr eigenes Schaffen als Teilhabe am Schöpfungswerk Gottes verstanden. Von einem grundlegenden Transzendenzbezug des künstlerischen Schaffens spricht z. B. Schleiermacher,42 und auch für Herder sind „Kunstschaffen und der Bezug zum Göttlichen nicht zu trennen“43. Kunstschaffende erfüllen in besonderer Weise die allen Menschen von ihrem Schöpfer mitgegebene „Aufgabe“, Mit-Schöpfer*innen zu sein und „bei dem göttlichen Werk mitzuhelfen, das Universum zu vervollkommnen“44.
Insbesondere die Dichtkunst ist für Herder mit der Theologie gleichzusetzen und hat den Auftrag, die Menschen zu bilden und näher zu Gott zu führen.45 Klopstock, mit dessen Poesieverständnis wir uns noch ausführlich beschäftigen werden (siehe Kap. 4.1.2), unterscheidet zwischen einer „höheren Poesie“, die den Menschen ethisch bildet, und einer „heiligen Poesie“, die ihn über das Ethische hinaus zur Anbetung Gottes führt. Von hier aus lohnt es sich, einen kurzen Blick auf die Zusammenarbeit von Bibel- und Literaturwissenschaft zu werfen, die besonders im Bereich der Beschäftigung mit der Rezeptionsgeschichte biblischer Texte stattfindet.
2.1. Rezeptionsgeschichte
In der Literaturwissenschaft lässt sich ein besonderes Interesse für die Rolle und Bedeutung der Rezipient*innen eines Textes bis in die Zeit der Romantik zurückverfolgen: „Der Leser wurde als Fortsetzer und Weiterschreiber des Autors verstanden, also als Kommunikationspartner und selbst als Künstler.“46 So schrieb Novalis in der Urfassung von „Blüthenstaub“: „Der wahre Leser muss der erweiterte Autor sein.“47 Es kam zu einer ganz neuen Aufwertung der Leser*innen, indem Lesen nicht mehr als rein passives Aufnehmen eines Textes verstanden wurde, sondern als dialogische Kommunikation und als aktive und produktive Tätigkeit der Sinnstiftung.48
Im 20. Jahrhundert haben vor allem Wolfgang Iser und Hans Robert Jauß „die konstruktive Tätigkeit der Leser/innen“49 betont. Jauß erhebt „im Blick auf eine Neubegründung der Literaturgeschichte“ die Forderung, „Interrelationen von Produktion und Rezeption“ zu berücksichtigen, und stellt fest, dass „das Leben des Werkes ‚nicht aus seiner autonomen Existenz, sondern aus der wechselseitigen Interaktion von Werk und Menschheit‘ resultiert.“50
Iser definiert den Text als „ein Wirkungspotential, das im Lesevorgang aktualisiert wird.“51 Texte sind also keine fertigen Produkte, sondern offene, dynamische und vielgestaltige Prozesse. Interpretation bedeutet „kein Decodieren von Botschaften […], die ein für alle Mal in einem Text fixiert und regelkonform rückzuübersetzen wären.“52 Vielmehr kommt den Leser*innen bei der Konstitution des Sinnes eine aktive Rolle zu. Den einen, ausschließlich und allzeit gültigen Sinn eines Textes gibt es nicht, und gerade dieser Mangel an Eindeutigkeit ist die Voraussetzung dafür, dass der Text „in den verschiedensten Kontexten immer wieder Sinn zu geben vermag.“53 Literarische Texte verfügen über eine „Pluralität stets neuer existenzleitender Sinnmöglichkeiten.“54
Gerade bei biblischen Texten wird diese Pluralität in besonderem Maße sichtbar. Sie wurden über viele Jahrhunderte fortgeschrieben, von Generation zu Generation weitergegeben, in viele Sprachen übersetzt, auf immer neue situative Kontexte hin ausgelegt und mit verschiedensten Kommentaren ergänzt – ein Produktions- und Rezeptionsprozess, der in seiner Komplexität mit dem moderner, von einer einzigen Person innerhalb weniger Jahre verfasster Texte kaum zu vergleichen ist.55
Mit Bezug auf die Bibel definiert John Sawyer Rezeptionsgeschichte als „the history of how a text has influenced communities and cultures down the centuries“.56 Timothy Beal erweitert diese Definition und präzisiert „reception“ als „reception of biblical texts, stories, images and characters […] in the form of citation, interpretation, reading, revision, adaptation and influence“.57
Details
- Seiten
- 250
- Erscheinungsjahr
- 2024
- ISBN (PDF)
- 9783631920473
- ISBN (ePUB)
- 9783631920480
- ISBN (Hardcover)
- 9783631916964
- DOI
- 10.3726/b21918
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2024 (Oktober)
- Schlagworte
- Bibel Bibel und Literatur Rezeptionsgeschichte Ästhetik Theologie und Anthropologie Figurenanalyse Bodmer Messias Rationalismus Deismus Freundschaft Empfindsamkeit 18. Jahrhundert Oratorien Biblische Trauerspiele Identifikationspotentiale Klopstock Verzweiflung Kohelet Salomo
- Erschienen
- Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2024. 250 S.