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Weltgermanistik, Germanistiken der Welt. Begegnungen in Lateinamerika

Unter Mitarbeit von Giovanna Chaves

von Paulo Astor Soethe (Band-Herausgeber:in)
©2020 Sammelband 382 Seiten

Zusammenfassung

In Lateinamerika konsolidiert sich eine sozial und wissenschaftlich relevante germanistische Szene erst dann, wenn das Angebot von Deutsch als Fremdsprache (DaF) an Schulen sich verbreitet, und sich somit die Präsenz von Deutsch in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft quantitativ und qualitativ stärkt. Im Zeichen dieser Herausforderung ist die bildungs- und sprachpolitische Dimension des Faches ein (nicht selten unreflektierter, diffuser) Bestandteil der dort praktizierten Germanistik, der das Fach wissenschaftlich befruchtet und bereichert. Außerdem liefert Lateinamerika neue Impulse durch den konsequenten Dialog seiner Germanistik mit der Romanistik im deutschsprachigen Raum und den Nationalphilologien in den Ländern des Halbkontinents. Innovative Forschungsperspektiven einer offenen, interdisziplinär angelegten DaF-Germanistik in Lateinamerika und einer internationalen Germanistik, die mit Lateinamerika allmählich ins Gespräch kommt, stehen im Mittelpunkt dieses Bandes.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Über das Buch
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung: Germanistik weltweit, Germanistik im Wandel
  • Perspektiven der internationalen Germanistik
  • Transatlantische Germanistik im Hinblick auf Lateinamerika. Theoretische Bemerkungen und ein Blick auf Stefan Zweigs Exilwerk„Brasilien. Ein Land der Zukunft“
  • ‚Dritte Welt‘? Zum Selbstverständnis der Germanistik in (Süd)Afrika
  • Germanistische Studien und ihre Umstände
  • Germanistik im DaF-Bereich: ein Rückblick, ein Ausblick
  • Deutsch als Fremdsprache: Neue Perspektiven
  • Deutsch als Fremdsprache in den 2020ern: Neue Chancen, neue Herausforderungen
  • DACH-Landeskunde – noch zeitgemäß?
  • Mehrsprachigkeits- und Flexilingualismus-Kompetenzen im DaF-Unterricht an Hochschulen
  • Deutschlehrerausbildung in Lateinamerika
  • Zur Situation des Deutschen und der Deutschlehrerausbildung in Kolumbien
  • Deutschlehrerausbildung in Brasilien: Plädoyer für eine stärkere Einbeziehung literaturdidaktischer Inhalte
  • Literatur- und übersetzungswissenschaftliche Studien
  • Fremdheitsfiktionen: Mit Hegel nach São Paulo Oder: Auf Deutsch brasilianisch werden wollen
  • Literatur und Theologie: Wechselseitige Herausforderungen am Beispiel von Jorge Luis Borges und Martin Walser
  • Braucht die Germanistik ein Übersetzerlexikon?
  • Grenzüberschreitungen: kulturwissenschaftliche Studien
  • Theaterarbeit zwischen Universität und Favela
  • Stadträume und urbaner Wandel. Flughafen Tempelhof im Kontext ökosemiotischer Diskursforschung
  • Wissenschaft und Transzendenz: Literarische und kartographische Weltentwürfe und das Beispiel der Carta von Juan de la Cosa
  • Berichte
  • Thomas Bernhard und seine Lebensmenschen in Brasilien
  • Viertes Fragment

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Einleitung
Germanistik weltweit, Germanistik im Wandel

Paulo Soethe

2013 und 2014 waren für die Germanistik in Curitiba, Südbrasilien, Jahre der großen Ehre. Sie durfte zweimal auf wissenschaftlichen Veranstaltungen Kolleginnen und Kollegen aus aller Welt zu Gast haben, hierdurch auch für Brasilien und Lateinamerika wichtige Diskussionen in verschiedenen Bereichen des Faches in Gang setzen.

Die erste Veranstaltung fand im September 2013 statt unter dem Titel „Forschungsperspektiven der internationalen germanistischen Literaturwissenschaft im Dialog mit dem Fachgebiet Deutsch als Fremdsprache – das Beispiel Lateinamerika“ und wurde als Humboldt-Kolleg, d.h. mit großer Unterstützung der Alexander von Humboldt-Stiftung und zusätzlichen Mitteln des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland, organisiert. Diskussionen um wissenschaftliche Beziehungen, potentielle gegenseitige Bereicherungen und fachliche Eingrenzungen zwischen den germanistischen Fachgebieten wurden in Impulsreferaten und kollegialen Gesprächen im Plenum geführt.

Die Tagung ging von der provokativen Annahme aus, dass eine sozial und wissenschaftlich relevante germanistische Szene im nicht-deutschsprachigen Kontext im Allgemeinen – und in einer Region wie Lateinamerika im Besonderen – sich erst dann konsolidiert, wenn das Angebot von Deutsch als Fremdsprache an Schulen durch an Universitäten wissenschaftlich ausgebildete Lehrer sich verbreitet, und hierdurch die Präsenz von Deutsch in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft quantitativ und qualitativ stärkt. Die Tagung warf zudem die Frage nach den bildungs- und wissenschaftspolitischen sowie methodischen und epistemologischen Konsequenzen einer solchen Entwicklung für die vorwiegend literaturwissenschaftlich ausgerichtete internationale Germanistik auf, sowie die Frage, inwiefern im nicht deutschsprachigen Raum das “Fachgebiet” Deutsch als Fremdsprache schon immer ein (zumeist unreflektierter, diffuser) Bestandteil der dort praktizierten internationalen “Germanistik” gewesen ist. Ein besonderes Augenmerk galt dem Stellenwert der Literatur im Rahmen der universitären Ausbildung von Deutschlehrern im nicht-europäisch-deutschsprachigen Raum.

Im Rahmenprogramm fand u.a. eine offene, für das breite Publikum (mit über 250 Teilnehmern) zugängliche, deutsch-portugiesisch simultan übersetzte ←8 | 9→Podiumsdiskussion zwischen Wissenschaftlern, Lehrern, Repräsentanten von brasilianischen Schulbehörden und Vertretern deutscher Partnerorganisationen statt. So setzte die Tagung einen Meilenstein in der Geschichte von Deutsch als Schulfach am brasilianischen öffentlichen Schulsystem. Bis heute tragen damals initiierte Aktionen und Programme reiche Früchte für die Lehrerausbildung und das Angebot von Deutsch an öffentlichen Schulen in der Region1. In die fachliche Diskussion wurden auch Vertreter der Fachverbände Internationale Vereinigung für Germanistik (IVG) und Gesellschaft für Interkulturelle Germanistik (GiG) sowie ein Vertreter des Goethe-Instituts einbezogen.

Zugleich diente das Humboldt-Kolleg als wichtiges Vorspiel für die zweite Veranstaltung in Curitiba, den 15. Kongress des Lateinamerikanischen Germanistenverbandes ALEG, der ein Jahr später im September 2014 stattfand. Diese Tagung, mit über 380 Teilnehmern, hatte zum Thema “Germanistik und Romanistik im Gespräch” und wollte das Potenzial des Dialoges zwischen Germanistik, der deutschsprachigen Romanistik und den Nationalphilologien vor Ort (dem Gebiet „Letras“) herausarbeiten.2 Ohne auf die Spezifizität der sozialen, kulturellen und akademischen Kontexten zu verzichten, ohne die unterschiedlichen Lagen in den vielen Ländern und ihrer Komplexität zu vernachlässigen, ohne die Freiheit in der Auswahl der Themen, Methoden, Schwerpunkte und Sichtweisen an den verschiedenen Institutionen in Frage zu stellen, wollte die Tagung über Perspektiven und Herausforderung der Internationalisierung dieser drei Gebiete reflektieren. Angesprochen wurden auf dem Kongress die Rolle und Sichtbarkeit der Germanistik in den verschiedenen Ländern Lateinamerikas, aber auch selbstkritisch die Relevanz der lateinamerikanischen Germanistik in der mittlerweile konsolidierten Szene der Internationalen Germanistik weltweit.

Anders als die Romanistik, die international angelegt geboren wurde, war die Germanistik jahrzehntelang eine Nationalphilologie, die sich dennoch zurzeit stark internationalisiert – und internationalisieren muss, damit sie gerade an wissenschaftlicher Relevanz nicht verliert. Der bisher relativ bescheidener Beitrag der lateinamerikanischen Germanistik zur internationalen wissenschaftlichen Szene kann (und muss) wachsen, sowohl zugunsten ihrer Existenz innerhalb der verschiedenen Universitäten in Lateinamerika, ←9 | 10→wo sie (noch) vorhanden ist, als auch zugunsten der Bereicherung des Faches an sich. Eine Erneuerung der Germanistik in Lateinamerika findet allein im Gespräch mit der internationalen Szene statt, und zwar durch die produktive Einbeziehung ihrer – aus dem Fach aus – fremdkulturellen Spezifizität in die Art und Weise, wie die Germanistik international betrieben wird. Gerade die Situationen, die allein Germanisten in nichtdeutschsprachigen Räumen zu bewältigen haben, wie zum Beispiel die Lehrerausbildung in den jeweiligen Kontexten und unter den dort gegebenen Bedingungen, sind fürs ganze Fach wissenschaftlich neu, provokativ, förderlich.

Der Kongress war Ergebnis einer kollektiv und kollegial durchgeführten Zusammenarbeit: Arbeitsthemen wurden von Arbeitsgruppenleitern aus über 10 Ländern vorgeschlagen, Beiträgen und Posters haben knapp 370 Kollegen aus aller Welt angemeldet, renommierte Referentinnen und Referenten sowie Teilnehmerinnen und Teilnehmern an Podiumsdiskussionen vertraten ein breites Spektrum institutioneller und geographischer Präsenz der Germanistik weltweit.3

Der vorliegende Band enthält Hauptvorträge auf dem ALEG-Kongress sowie ausgesuchte Beiträge aus dem Humboldt-Kolleg.


1 Zur aktuellen Lage in Brasilien siehe u.a. Paulo Soethe/Giovanna Chaves: Förderung der deutschen Sprache in Brasilien. In: Förderung der deutschen Sprache weltweit. Hrsg. von Ulrich Ammon et al. Berlin: De Gruyter 2019, 887–910.

2 Ausführliche Information über die Struktur der Tagung, Zusammenfassungen aller Beiträge, Programm usw. enthält der Band: 15. Kongress des Lateinamerikanischen Germanistenverbands. Kurzfassungen und Beiträge. Hrsg. von Ludmila Sandmann. Curitiba: Quadrioffice 2014. Siehe ebenso das Begleitheft jener Publikation: 15. Kongress des Lateinamerikanischen Germanistenverbands. Kurzfassungen und Beiträge. Programmheft. Curitiba 2014.

3 Im Falle einiger Arbeitsgruppen dokumentieren Publikationen in weiteren Sammelbänden und Dossiers in Fachzeitschriften die jeweiligen Ergebnisse: siehe z.B. Katharina Herzig/Anne Biedermann/Kristina Peuschel/Valeria Wilke/Norma Wucherpfennig: Zielgruppenorientierung zwischen Standardisierung und Differenzierung. DaF an lateinamerikanischen Hochschulen, Info DaF 6 (2015), 591–627; Olivia C. Díaz Pérez/Ortrud Gutjahr/Rolf G. Renner/Marisa Siguan (Hrsg.): Deutsche Gegenwarten in Literatur und Film. Tendenzen nach 1989 in exemplarischen Analysen. Tübingen: Stauffenburg 2017; ebenso das Dossier „Vielfalt des Literarischen: Deutsch in Bewegung“ im Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 42 (2016 [erschienen 2019]), hrsg. v. Paulo Soethe, Michael Dobstadt und Renate Riedner unter Mitarbeit von Thiago Mariano und Franziska Lorke.

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Transatlantische Germanistik im Hinblick auf Lateinamerika. Theoretische Bemerkungen und ein Blick auf Stefan Zweigs Exilwerk „Brasilien. Ein Land der Zukunft“

Paul Michael Lützeier

I.

Wenn man heute Vorträge zu literaturwissenschaftlichen Themen hält, beginnen sie normalerweise mit der Diskussion theoretischer Grundlagen und methodologischer Voraussetzungen. Die Zeiten sind vorbei, als es noch allgemein akzeptierte Konventionen der Interpretation gab, als man von einer Übereinstimmung ausgehen konnte, was wissenschaftliche Zielsetzungen und Verfahrensweisen betrifft. Wir haben in der kulturwissenschaftlich ausgerichteten Germanistik nicht einmal mehr das, was man eine dominante Tendenz nennen könnte, einen Trend, den man als Beweis für ein allgemeines Interesse, eine generelle Orientierung bei der Majorität des Faches betrachten könnte. Oder anders gewendet: Ein sogenannter ,turn‘ jagt den anderen. Diese Bemerkung klingt abwertend, ist aber so nicht gemeint. Die ,turns‘ in den Literatur- und Kulturwissenschaften, über die Bachmann-Medick1 und Nünning2 berichtet haben, sind keine 180-Grad-Wendungen oder gar ,Kehren‘ im Sinne eines Heideggerschen Umdenkens,3 sondern Zeichen des immer deutlicher werdenden Pluralismus in den ,Humanities‘ und den Geisteswissenschaften. Inzwischen ist ein ganzes Dutzend von ,turns‘ katalogisiert worden: der „interpretative“, „performante“, „rhetorische“, „postkoloniale“, ,transnationale“, „raumhafte“, „visuelle, „historische“, „ethische“, „narrative“, „philologische“ und „transkulturelle“.4 Diese ,turns‘ entwickeln sich zum Teil auseinander, können sich ergänzen, regen sich gegenseitig an oder stoßen sich voneinander ab, sind neue oder wieder aufgenommene Ansätze im Zeichen ←13 | 14→einer zunehmend transatlantischen, ja sogar transkontinentalen Kulturwissenschaft. Das ist aber nicht im Sinne des Fortschritts einer zunehmend kosmopolitischer werdenden Literatur- als Kulturwissenschaft zu werten. Dipesh Chakrabarty, Mitglied der postkolonialen „Subaltern Studies Group“, hat in seiner Aufsatzsammlung „Europa provinzialisieren“5 darauf hingewiesen, dass allzu oft westliche Kriterien, Konzepte und Ansätze in der Kulturwissenschaft gleichsam universalistisch beim Studium nicht-europäischer Zivilisationen angewandt werden. Sie müßten aber in ihren okzidentalen Entstehungsbedingungen untersucht und nicht als global gültig betrachtet werden. Sonst seien die nicht-europäischen Kulturen mit dem Kennzeichen eines ,Mangels‘ behaftet, weil sie dem jeweiligen westlichen Standard nicht entsprächen. Diese These gilt es auch im Auge zu behalten, wenn von Stefan Zweigs Versuche über transkontinentale Kulturentwicklungen in seinem „Brasilien“-Buch die Rede ist. Nicht nur zivilisatorische Veränderungen selbst, sondern auch die Verfahrensweisen ihrer Darstellung sowie über sie entwickelte Theorien sind im Hinblick auf Ort und Zeit ihrer Entstehung zu analysieren. Das hat für den Bereich der Romanforschung Michail Bachtin in seinem Buch über den ,Chronotopos‘ gezeigt. Hier wird betont, dass Zeit und Raum untrennbar miteinander verbunden sind und im Begriff des ,Chronotopos‘ fusionieren. Mit den Worten Bachtins: „Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert.“6

Zu berücksichtigen sind in diesem Kontext die Thesen von Edgar Morin. Der hat in den späten 1980er Jahren das „Prinzip der Dialogik“ in den europäischen Kulturgrundlagen entdeckt.7 In Anlehnung an Michail Bachtin8 erarbeitete er ein dialogisches (also nicht dialektisches) Modell des gemeinsamen antik-jüdisch-christlichen europäischen Erbes: Mehrere Arten von ,Logik‘ sind da auf unterschiedliche Weise (komplementär, konkurrierend, antagonistisch) zusammengekommen. So ist das, was die Einheit der europäischen Kultur ausmacht, nicht die griechisch-römisch-jüdisch-christliche Synthese, sondern Dialogik, d.h. Komplementarität, Konkurrenz und Antagonismus bleiben zwischen den Komponenten mit ihren Eigenlogiken erhalten. Edgar Morin ergänzend kann man, ohne seinem Konzept Gewalt anzutun, für ,Europa‘ auch ,westliche Welt‘ einsetzen, die Teil des transatlantischen Raums ist. Die transatlantische Multikultur umfasst allerdings viel mehr als die europäisch geprägte, wenn deren Anteil auch nicht unterschätzt werden ←14 | 15→kann und in bestimmten Regionen dominant blieb. Europäische Länder haben im Norden und Süden Amerikas Siedlerstaaten geschaffen, die ihre okzidentale Herkunft nicht verleugnen, wenn auch die eigene Entwicklung in jeder dieser ehemaligen Kolonien anders verlief und die unterschiedlichen kulturellen Hybridbildungen benannt werden wollen. Hier ist an die Vielfalt differierender afrikanischer, indianischer und europäischer Komponenten zu erinnern, die sich vermischten und gegenseitig beeinflussten. Die dialogische Struktur iher Bestandteile ist heute in allen multikulturell sich entwickelnden Zivilisationen zu diagnostizieren.

Festzuhalten ist, dass die westliche Identität im transatlantischen Beziehungsgeflecht nicht die umfassendste der kollektiven Identitäten ist. Eine solche lässt sich als kosmopolitisch9 oder – neutraler ausgedrückt – als transkontinental bzw. global umschreiben.10 Auch bei der transkontinental orientierten kollektiven Identität handelt es sich um ein Phänomen, das von Denkern seit vielen Jahrhunderten reflektiert worden ist. (Germanistinnen denken dabei zu Recht an Goethes Weltliteraturkonzept.)11 Die realhistorische Basis des Transkontinentalismus ist seit den Zeiten der europäischen Seefahrer im späten 15. Jahrhundert in ständigem Wachsen begriffen, wobei die kolonialistischen Kapitel in dieser Geschichte den europäischen Staaten nicht zum Ruhm gereichen. Heute sprechen wir in post-kolonialer Zeit von Globalisierung, und deren Ende ist nicht abzusehen. Wir fangen erst an, ihre wirtschaftlichen, politischen, künstlerischen, literarischen und wissenschaftlichen Konsequenzen intellektuell zu verarbeiten.

Wenn wir eine nicht-eurozentrische transatlantische, aber auch trans-kontinentale Germanistik inaugurieren, ist vor allem ein ethischer Standpunkt anzusprechen:12 In Erinnerung zu bringen ist hier der Aspekt eines „Humanismus ←15 | 16→des Anderen“ (ein Terminus von Emmanuel Levinas13). Der „Humanismus des Anderen“ ist die Voraussetzung einer transkulturellen Germanistik. In der postkolonialen Kondition gibt es philosophische Begriffe wie den vom „Widerstreit“ (Jean-François Lyotard14) bzw. der „Politik der Anerkennung“ (Charles Taylor15, Axel Honneth16), es gibt Metaphern wie die vom „Dritten Raum“ (Homi Bhabha17) oder vom „postkolonialen Blick“ (Lützeier18), und es gibt Methoden wie die der „kontrapunktischen Lektüre“ (Edward Said19). Mit diesen Begriffen, Metaphern und Methoden befinden wir uns im Lernprozess, die Besonderheiten anderer Kulturen zu respektieren und das Wechselspiel zwischen den Zivilisationen neu auszuloten und zu bewerten. Aber haben wir auch gelernt, die Vielfalt der Germanistik, wie sie in den unterschiedlichen Teilen der Welt existiert, in ihrer Eigenart wahrzunehmen und anzuerkennen? Hat sich nicht viel von dem kolonialen Verhalten wie es für den sogenannten Westen bezeichnend ist, erhalten? Wir haben zwar in der Kulturtheorie einiges Neue über Zivilisationsprozesse in ihrer Interaktion erfahren, aber was wissen wir als Fachwissenschaftlerinnen über die indische, die arabische, die afrikanische, die chinesische, die japanische, die russische oder die mexikanische und die brasilianische Germanistik in ihrer jeweiligen Vielfalt? Was wissen wir von den Besonderheiten der Textlektüre, von den kulturellen Hintergründen der Fragestellungen, von den Ergebnissen der Forschungen, von den Frustrationen aber auch, die man in einem Fach erlebt, das gleichsam täglich die Dominanz von Theorien, Methoden, Praktiken und Ergebnissen zu spüren bekommt, die ihnen aus anderen Teilen der Welt geradezu aufgedrängt werden? Innerhalb der internationalen transkulturellen Germanistik wäre es ratsam, einen „Humanismus des Anderen“ zu beherzigen: Dass nämlich der Andere nur Anderer bleibt, wenn er nicht typisiert oder ent-individualisiert wird, wenn er nicht in fremde Vorstellungen von ihm integriert, sondern in seiner Andersheit anerkannt wird.20 ←16 | 17→Umgekehrt hat dann die Begegnung mit dem Anderen einen appellierenden Charakter und zieht eine Öffnung ihm gegenüber nach sich.

Wir können eigentlich nicht von einer transkulturellen Germanistik sprechen, solange wir nicht aufhören, die Germanistiken in den verschiedenen Erdteilen – gleichsam kolonial – danach zu bewerten, ob und wie weit sie die Theorien, Methoden und Forschungsansätze des ,Westens‘ übernommen haben. Der Vorwurf des Provinzialismus, den nicht wenige ,westliche‘ Germanistinnen so rasch erheben, wenn sie in den Germanistiken anderer Länder bestimmte Stichworte aus ihrem aktuellen Wissenschaftsdiskurs vermissen, fällt auf sie selbst zurück, weil sie sich, von Ausnahmen abgesehen, für die afrikanischen, arabischen, asiatischen oder lateinamerikanischen Fragestellungen und Kulturhintergründe nicht interessieren. Hier ist erneut an die Thesen von Dipesh Chakrabarty zu erinnern.

Umgekehrt wäre es zu begrüßen, wenn die Germanistiken der verschiedenen Erdteile die Methoden und Ergebnisse ihrer Arbeiten transparenter machten und stärker auf einen Dialog mit anderen germanistischen Kulturen hin ausrichteten. Der häufigere Gebrauch des Deutschen böte die Möglichkeit einer zunehmenden innerfachlichen Kommunikation. Das Deutsche ist ja nicht lediglich in Sprache und Literatur selbst der primäre wissenschaftliche Gegenstand, sondern auch die lingua franca unseres Fachs. Die germanistischen Abteilungen außerhalb der deutschsprachigen Länder befinden sich in einem permanenten code und cultural switching, bewegen sie sich doch in einem sprachlichen und kulturellen Raum zwischen ihren deutschsprachigen Lehr- und Forschungsgegenständen und der anderssprachigen und heterokulturellen Umgebung des Universitätsstandortes. Während meiner Gastprofessuren als Germanist und während der Teilnahme an nationalen und kontinentalen germanistischen Kongressen hier in Südamerika, in Afrika, Europa, und Asien ist mir aufgefallen, wie relativ wenig man von den Ergebnissen der Forschungen und den ihnen zugrunde liegenden Theorien mitbekommt, wenn man die jeweilige Heimatsprache nicht beherrscht, sei es Portugiesisch oder Spanisch, Ungarisch, Koreanisch, Japanisch oder Chinesisch. Der Großteil der fachlichen Kommunikation verläuft in den nationalen Sprachen der Länder und verbleibt naturgemäß eine interne, also primär (wenn auch nicht ausschließlich) nationale Auseinandersetzung, an der die meisten Wissenschaftlerinnen innerhalb der Germanistik weltweit nicht teilhaben können. Hier erledigt sich die Frage nach der Einheit ←17 | 18→des Fachs schon aufgrund der Sprachbarrieren. Die jeweils nationalsprachliche Auseinandersetzung mit der deutschen Literatur ist für ihre Vermittlung im jeweiligen Land unerlässlich und bildet den Anfang transkultureller Kommunikation. Daneben aber gilt es den innerfachlichen Dialog zu fördern. Da gibt es bereits erfreuliche Entwicklungen, die verstärkt werden könnten: dass etwa der Gebrauch des Deutschen sich bei kontinentalen und interkontinentalen germanistischen Kongressen stärker durchsetzt. Ich nehme nun zum dritten Mal an einer Tagung der ALEG teil, und jedes Mal, auch diesmal, versuche ich eine Lanze zu brechen für die transatlantische und trans-kontinentale Verständigung im Fach mit Hilfe der deutschen Sprache.

Der Blick des Anderen – um die Metaphorik von Levinas noch einmal zu gebrauchen – erreicht die meisten Germanistinnen nur, wenn die Botschaft, die es zu vermitteln gilt, in der Sprache des Fachs selbst formuliert ist. Die Asymmetrie zwischen der dominanten nationalen Germanistik in Deutschland bzw. der englischsprachigen in den USA und der weniger bekannten übrigen internationalen Germanistik könnte dadurch ausbalanciert werden.

Lassen Sie mich noch etwas genauer auf den Terminus ,transatlantische‘ Germanistik eingehen. Wenn man ihn verwendet, denkt man in Deutschland meistens an die deutsch-u.s.-amerikanischen Beziehungen, in den USA dagegen eher an die ,special relationship‘, die seit dem frühen 20. Jahrhundert zu England besteht. Darüberhinaus sind NATO-Assoziationen nicht von der Hand zu weisen. Wir sollten aber an einem erweiterten Begriff des Transatlantischen in diesem Fall arbeiten, der die volle Bedeutung des Wortes anerkennt. Seit über einem halben Jahrtausend bestehen sich vielfach verkreuzende wirtschaftliche und politische und somit auch kulturelle Beziehungen zwischen den europäischen, afrikanischen und amerikanischen Anrainer-Ländern des Atlantischen Ozeans. In der Kolonialzeit zwischen dem späten 15. und der Mitte des 20. Jahrhunderts gibt es kaum ein europäisches Volk, das nicht durch Auswanderung oder Kolonialhandel auf die – zum Teil unheilvollen – Veränderungen der afrikanischen und amerikanischen Länder am Atlantik eingegriffen hätte. In unserem Zusammenhang ist vor allem an die Beziehungen Europas und der USA zu Lateinamerika zu denken. Dabei muss man hinausgelangen über das, was zur Zeit des Kalten Krieges in den USA in den Latin American Area Studies Programs über diese Länder verbreitet wurde, zum anderen aber auch über die Hispanic Transatlantic Studies als Projekt des spanischen Staates und seiner nationalen Identität. Dazu hat Abril Trigo21 sich bereits kritisch geäußert. Weder ←18 | 19→kann man heute die nordamerikanischen Studien über Brasilien, Argentinien oder Mexiko durch ihren wirtschaftlichen und militärischen Stellenwert im Ost-West-Konflikt legitimieren, noch sind die unhistorischen, ideologischen Identitätsdebatten über eine pan-hispanische Kultur von sonderlichem Wert. Es haben sich global gesehen ganz neue Machtkonstellationen ergeben, bei der die Gruppe der Brics-Staaten, zu denen Brasilien gehört, eine besondere Rolle spielt. Es ist an der Zeit, den Atlantik mit seinen Anrainerländern als große Kulturregion der Erde mit ihren über die Jahrhunderte hin sich wechselnden Interaktionen auf allen Gebieten menschlicher Aktivität interdisziplinär zu erforschen, wie es vergleichbar schon vor über einem halben Jahrhundert Fernand Braudel22 für den Mittelmeerraum getan hat. Da könnte man, geschult an Braudel und seinen Zeitebenen, chronotopisch bestimmte Epochenphasen von weltpolitischer Bedeutung im Hinblik auf Geographie, Staatsform, Handel, Militär, Religion, Kunst und Literatur zueinander in Beziehung setzen und die Veränderungen und Verschiebungen, die kulturellen Hybridbildungen, die Machtkonstellationen mit ihren kommenden und gehenden Allianzen zu verstehen versuchen. In der transatlantischen Germanistik wäre hier der atlantische Raum einmal insgesamt für die Zeit des Exils zwichen 1933 und 1945 zu untersuchen. Dabei würde das Werk eines Autors wie Stefan Zweig, der in europäischen Ländern, in den USA und Brasilien seine Exilzeit verbrachte, eine wichtige Rolle spielen.

II.

In der germanistischen Sekundärliteratur hat Stefan Zweigs kulturhistorische Schrift „Brasilien. Ein Land der Zukunft“23 von 1941 nur wenig Zustimmung gefunden. Die meisten lehnen sie ab als exotistische, ja propagandistische Fassadenmalerei,24 als schönfärberisches Märchenbuch von einem nur in Zweigs Phantasie existierenden Paradies,25 als Wunschbild einer in Südamerika neuerstandenen „Welt von Gestern“, die in Europa bereits durch die beiden ←19 | 20→suizidalen Weltkriege untergegangen sei26 und – im Sinne eines wishful thinking – als illusionistische Antithese zum rassistischen Großdeutschen Reich Hitlers27. Gegen diese Stimmen, die alle die Realitätsfremdheit des Buches unterstreichen, hat Jeroen Dewulf28 kürzlich einen Aufsatz geschrieben. Er weist nach, dass der Exilautor sich mit Büchern brasilianischer Intellektueller beschäftigt hat, die in den 1920er und 1930er Jahren Beiträge zu einem Diskurs waren, in dem es um die Konstruktion einer nationalen brasilianischen Identität ging. Paulo Prado habe mit seinem Buch „Portrait Brasiliens“ (Retrato do Brasil) von 1928 die Lage des Landes pessimistisch beurteilt. Prado war – beeinflusst durch den europäischen Rassismus von Gobineau bis Hitler – ein Gegner der Rassenmischung. Er kam zu dem Schluss, dass seinem Land keine große Zukunft bevorstehe, denn der Brasilianer mit seiner Ahnenreihe von Portugiesen, Afrikanern und Indios neige zu Habgier und Faulheit. Dagegen ist Zweigs Buch angeschrieben. Er erkennt gerade in der ethnischen Koexistenz und selbstverständlichen Rassenmischung den Aktivposten des Landes im Hinblick auf seine Entwicklung in den kommenden Jahrzehnten. Schon seit 1933 lag ein Werk vor, das damals jeder Gebildete in Brasilien kannte, nämlich „Herrenhaus und Sklavenhütte“ (Casagrande & senzala) von Gilberto Freyre. Hier war bereits das Argument Prados umgekehrt worden. In der Gestalt des Mischlings sah Freyre eine Art „neuen Menschen“ als hoffnungsvolle Alternative zur Dekadenz der auf Rassenreinheit pochenden Europäer. Der Autor wollte das Selbstbewusstsein seiner Landsleute durch die Gegenschrift zu Prado stärken, indem er die intentional universalistische Botschaft von der großen Zukunft seines Landes qua Rassenversöhnung verkündete. Stefan Zweigs Argumente weisen in die gleiche Richtung, und der Einfluss von Freyres Vision auf das Brasilienbuch des Exilautors ist nicht zu übersehen, was Dewulf zu Recht betont. Ähnlich wirkungsmächtig war der Essay „Die Wurzeln Brasiliens“ (Raizes do Brasil) aus dem Jahr 1936 von Sérgio Buarque de Holanda. Hier werden aber nicht die rassischen Aspekte, sondern wirtschaftliche und gesellschaftliche Perspektiven ins Zentrum gerückt. Brasilien, so de Holanda, habe sich aus eigener Kraft aus den Abhängigkeiten eines Koloniallandes befreit und sei in der Lage, gegebene soziale ←20 | 21→Ungerechtigkeiten zu korrigieren. Der Autor feiert das in seinem Land verbreitete Prinzip der Herzlichkeit (cordialidade) als Mittel der Überwindung klassenmäßiger Gegensätze. Bei der Darstellung der humanen gesellschaftlichen Voraussetzungen in Brasilien übernimmt Zweig das Argument von der Herzlichkeit, wie es von de Holanda beschrieben wird. Vergessen werden darf nicht, dass diese Schriften ideologische Beiträge zu einer Identitätsdiskussion waren, in der eine Zukunftshoffnung dominierte, mit der man der Bevölkerung wie auch den Politikern positive Perspektiven für die nächsten Generationen vermitteln wollte.

Von diesem Zukunftsoptimismus zeugt auch Zweigs Schrift. Was hier nicht geliefert wurde, waren nüchterne Berichte über bestehende Klassen- oder Rassenkonflikte. Da fanden sich auch keine kritischen Analysen der diktatorischen Regierung, keine Bestandsaufnahmen von wirtschaftlichen Rückschlägen, keine Offenlegung der politischen und ökonomischen Abhängigkeiten von den USA und Deutschland. Stefan Zweig rückte in der Grundlinie seines Portraits Brasiliens von den Schriften Freyres und de Holandas nicht ab. Anders aber als diese beiden Intellektuellen schrieb er nicht nur ein Buch für Brasilien, sondern auch für seine Zeitgenossen im Exil und im durch Hitler unterjochten Europa. Als er die Arbeit 1941 fertigstellte und in Stockholm publizierte, stand der deutsche Diktator auf dem Höhepunkt seiner Macht. Man sollte, chronotopisch gesehen, beachten, dass nicht nur die speziellen Orts-, sondern auch die allgemeinen Zeitumstände im Brasilienbuch reflektiert werden. Die europäischen Erfahrungen seiner Gegenwart will Zweig in einen Zusammenhang mit den Ortseindrücken in Brasilien bringen. Seine Hoffnung ist, dass Brasilien den Weg des Rassismus vermeidet, den Nazi-Deutschland beschritten hat. Und im Zusammenhang damit bestärkt er jene Tendenzen in Brasilien, die sich gegen die wirtschaftliche Versklavung wenden, während er im deutsch dominierten Europa eine bereits überwundene Verknechtung erneut praktiziert sieht. Alberto Dines, der Biograf Stefan Zweigs, hat Recht, wenn er im Brasilienbuch die Feindschaft gegen den Nationalsozialismus betont. Aber indem Zweig diese kritische Richtung einschlägt, wendet er sich indirekt auch gegen die Sympathien, die es während der Regierung von Getúlio Vargas29 für Hitler in Brasilien gab. Zudem sagt Zweig selbst, dass ihn in Brasilien in erster Linie die humane, von Rassenvorurteilen freie Entwicklungsrichtung mehr interessierte als die Bestandsaufnahme negativer Erscheinungen, die aus der Vergangenheit bis in die Gegenwart reichten:

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Nichts liegt mir ferner, als Vortäuschen zu wollen, daß alles in Brasilien sich heute schon im Idealzustand befinde. Vieles ist erst im Anbeginn und Übergang. Noch liegt die Lebenshaltung eines Großteils der Bevölkerung weit unter der unseren. Noch sind die technischen, die industriellen Leistungen dieses Fünfzig-Millionen-Volks nur etwa mit denen eines europäischen Kleinstaates zu vergleichen. [...] Aber diesen Tabellen fehlt ein wichtiges Element, die Einrechnung der humanen Gesinnung, die nach unserer Meinung den wesentlichsten Maßstab von Kultur und Zivilisation darstellt.30

Zweig fährt fort, diesen neuen Maßstab von Ethik und Recht, Humanität und gutem Willen durch einen Vergleich mit dem Europa unter Hitler zu begründen, wo Verbrechen und Gesetzlosigkeit, Inhumanität und Haß das Leben der Bürger zerstören:

Wir haben gesehen, daß die höchste Organisation Völker nicht verhindert hat, diese Organisation einzig im Sinne der Bestialität statt in jenem der Humanität einzusetzen, und daß unsere europäische Zivilisation im Lauf eines Vierteljahrhunderts zum zweiten Male sich selber preisgegeben hat. So sind wir nicht mehr gewillt, eine Rangordnung anzuerkennen im Sinne der industriellen, der finanziellen, der militärtischen Schlagkraft eines Volkes, sondern das Maß der Vorbildlichkeit eines Landes anzusetzen an seiner friedlichen Gesinnung und seiner humanen Haltung.31

Gleich zu Anfang seines Buches bezieht sich Zweig auf den „Krieg aller gegen alle in unserem selbstmörderischen Europa“, und dass es sein „Wunsch“ gewesen sei, sich „aus einer Welt, die sich zerstört“ in eine andere zu retten, die „friedlich und schöpferisch aufbaut“32, nämlich Brasilien. Schon 1932 hatte Zweig in seinem Essay „Der europäische Gedanke in seiner historischen Entwicklung“ vorausgeahnt, dass nach einer kulturellen Blütezeit das Abendland nun wieder eine Katastrophe wie jene beim Untergang Roms zur Zeit der Völkerwanderung bevorstehe:

Es ist grauenhaft, jener Zeit zu gedenken, grauenhaft, weil unwillkürlich uns die Angst bewegt, es könnte noch einmal ein solches Erdbeben alles vernichten, wozu wir jeder einzelne unsern Baustein beigetragen haben; es könnte noch einmal eine solche geistige und moralische Verwirrung mörderisch über unsere Erde dahingehen.33

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Als Zweig 1932 den Essay veröffentlichte, waren die Nationalsozialisten bereits zur stärksten Fraktion im Reichstag geworden, und es war abzusehen, dass sie bald zur Macht gelangen würden. Daher die hier ausgedrückten Ängste, die begründet waren. Nahezu ein Jahrzehnt später hofft er, dass in Brasilien sich eine Humanität entfaltet, die der Europas vor 1914 vergleichbar sei. Dieser Wunsch Zweigs bringt aber auch eine Verengung der Perspektive mit sich, denn was seine Hauptthese „Brasilien als neues Europa“ nicht stützt, wird ausgeblendet. Begründet wird die Hoffnung vom neu entstehenden Europa in Brasilien vor allem durch die Einstellung der Brasilianer zur Rassenfrage. Dazu überlegt Zweig: „Denn seiner ethnologischen Struktur gemäß müßte, sofern es den europäischen Nationalitäten- und Rassenwahn übernommen hätte, Brasilien das zerspaltenste, das unfriedlichste und unruhigste Land der Welt sein.“34 Portugiesen, Italiener, Deutsche und Japaner lebten mit der indianischen Urbevölkerung und den Afrikanern, den Nachkommen der Sklaven, zusammen. „Nach europäischer Einstellung“, fährt Zweig fort, „wäre zu erwarten, daß jede dieser Gruppen sich feindlich gegen die andere stellte.“35 Davon aber könne keine Rede sein, denn im Gegensatz zu dem, was in Deutschland geschehe, werde man in Brasilien Zeuge eines „großartigen Experiments“: Das „Rassenproblem“ nämlich, das die „europäische Welt verstört“, werde „auf die einfachste Weise ad absurdum“ geführt, indem man seine „angebliche Gültigkeit einfach ignorierte“.36 Zweigs Verachtung für den Rassismus des SS-Staates verleitet ihn zu einer allzu harmonisierenden Sicht auf die Gegebenheiten in Brasilien. So hält er fest:

Während in unserer alten Welt mehr als je der Irrwitz vorherrscht, Menschen ‚rassisch rein‘ aufzüchten zu wollen wie Rennpferde oder Hunde, beruht die brasilianische Nation seit Jahrhunderten einzig auf dem Prinzip der freien und ungehemmten Durchmischung, der völligen Gleichstellung von Schwarz und Weiß und Braun und Gelb.37

Das ist wohl eine zu optimistische Beschreibung der Lage um 1940. Der nur wenige Jahre zuvor Brasilien auf seiner „atlantischen Fahrt“ besuchende Ernst Jünger hielt eine Beobachtung fest, die eine andere Schlussfolgerung zulässt, wenn sie auch in einer Sprache formuliert ist, die uns fremd geworden ist:

Doch fiel mir an einer Gruppe von Straßenarbeitern auf, daß diejenigen, die das Werkzeug führten, von der Schwärze des Ebenholzes waren, während ihre Auf←23 | 24→seher eine Farbe zeigten, die etwa der eines guten Milchkaffees entsprach. Bedeutend heller war ein Beamter, der für Augenblicke den Stand der Arbeit prüfte, während wahrscheinlich noch hellere in den Büros saßen.“38

Ernst Jünger erfuhr in Brasilien von einem Deutschen, der aus Hitlers Machtbereich geflohen war, dass er in seiner neuen Heimat ein „Gefühl für Menschenwürde“, einen „Sinn für Freiheit“ und „Anerkennung“39 entdeckt habe, Tugenden, die man im Deutschland des Jahres 1936 schon schmerzlich vermisste. Auch Jünger vermerkt positiv, dass in Brasilien die Sklaverei ein halbes Jahrhundert zuvor abgeschafft worden war. „Ein solcher Akt muß Früchte tragen“, meint Jünger, und zu diesen „Früchten“ zähle „die brasilianische Wohlgeratenheit in Dingen der Menschenwürde und des angestammten Rechts“.40 Wie Zweig ist Jünger schon fünf Jahre zuvor von einer großen Zukunft Brasiliens kraft Herzlichkeit überzeugt. „In diesen jungfräulichen Böden“, notiert er, „die der Kultur entgegenharren, schlummert goldminengleich ein ungeheurer Schatz von Güte, von Liebeskraft“.41 Jünger hat von Rio de Janeiro den Eindruck, dass es sich, wie er es hegelianisch ausgedrückt, um „eine Residenz des Weltgeistes“42 handle. Auch Zweig erscheint Brasilien als ein Land, dessen „nationaler Gedanke“ auf dem „Grundprinzip“ von „Verständigung und Verträglichkeit“ basiere.43 Und Rio de Janeiro ist ihm gleichsam das neue Paris, das er in seiner Jugend als geistige Hauptstadt des Kontinents erlebt hatte. Zweig schwärmt von Rio: „Schlendern, wandern und entdecken, diese Lust, die von allen Städten Europas Paris als letzte uns bot, hier habe ich sie in der verlockendsten Form wiedergefunden.“44

Bei seinen Retrospektiven in die Geschichte Brasiliens kommt Zweig wiederholt auf das Thema der Sklaverei zu sprechen. Auch das hat mit dem Trauma Nationalsozialismus zu tun, denn Hitler hat mit seinen Konzentrationslagern und dem Verschleppen von zahllosen Menschen während der Kriegsjahre die Sklaverei, die längst überall in Europa abgeschafft war, wieder eingeführt. Die „Sklaverei“, beobachtet Zweig richtig, sei „von 1500 bis fast ←24 | 25→1900“ die „Crux des brasilianischen Problems“45 gewesen. Er hat sich über die Geschichte des afrikanisch-südamerikanischen Sklavenhandels kundig gemacht und schreibt über die Situation seit dem 16. Jahrhundert: „Von Monat zu Monat werden immer größere Frachten afrikanischer Sklaven von Guinea und aus dem Senegal herübergebracht und, soweit sie auf der Reise in den vollgestopften, stinkenden Schiffen nicht verendet sind, auf dem großen Markte in Bahia verhandelt.“46 Zweig berichtete über den frühen Widerstand der missionierenden Jesuiten gegen die Sklaverei47 und von dem späten moralischen Druck, der seit der „abolition“ in den USA auf dem Sklaverei-Staat Brasilien lastete.48 Er erwähnt auch die lange vergeblich bleibenden Bemühungen Kaiser Pedros II. in Brasilien die Sklaverei abzuschaffen, was per Gesetzesbeschluss 1888 dann doch geschah.49

Fast zeitgleich schrieb Stefan Zweig im Exil das Buch „Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europärs“.50 Im Brasilienband lässt sich der Autor hoffnungsvoll über die Fortsetzung seiner abendländischen Herkunftskultur in Lateinamerika aus. In der „Welt von Gestern“ trauert er um das vergangene, das zerstörte Europa seiner Kindheit und Jugend. Wie die Brasilienschrift eine Imagination der Zukunft, so ist das Europabuch eine Imagination der Vergangenheit. Beide tragen fiktive Züge, und in beiden Fällen werden die großen gesellschaftlichen Konflikte innerhalb der betreffenden Länder ausgespart zugunsten eines möglichst harmonischen Bildes. Die Inhumanitäten des europäischen 19. Jahrhunderts mit ihren Revolutionen, Kriegen, Pogromen, Klassenkämpfen und Kolonialverbrechen werden ausgeblendet. Gleichzeitig wird jedoch in aller Schärfe die gegenwärtige Dehumanisierung des Kontinents benannt. Schon am Anfang bekennt der Autor:

[...] auch die eigentliche Heimat, die mein Herz sich erwählte, Europa, ist mir verloren, seit es sich zum zweiten Mal selbstmörderisch zerfleischt im Bruderkriege. Wider meinen Willen bin ich Zeuge geworden der furchtbarsten Niederlage der Vernunft und des wildesten Triumphes der Brutalität innerhalb der Chronik der Zeiten.51

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Über den Einmarsch der Deutschen in Paris im Jahr 1940 heißt es: „Ich weiß es wohl, dieses selig beschwingte und beschwingende Paris meiner Jugend ist nicht mehr; vielleicht wird ihm niemals mehr jene wunderbare Unbefangenheit zurückgegeben werden, seit die härteste Hand der Erde ihm das eherne Brandmal herrisch aufgedrückt.“52 Was Zweig in seinem Kapitel „Incipit Hitler“ schreibt, gehört zum Klarsichtigsten, was Exilautoren über diese Figur der deutschen politischen Geschichte gesagt haben. Dessen „skrupellose Täuschertechnik“53 verbunden mit „Angriff, Gewalt und Terror“54 habe „mehr Unheil über unsere Welt gebracht“ als „irgendeiner in den Zeiten“.55 Zweig stellte sein Buch „Die Welt von gestern“ 1941 fertig, also noch bevor Anfang 1942 die sogenannte „Endlösung der Judenfrage“ in der Wannseekonferenz beschlossen wurde. Aber er sieht die Eskalation der Verfolgung richtig, wenn er über die Ausgrenzung der Juden im Herrschaftsbereich Hitlers festhält:

Erst hatte man den Juden ihre Berufe genommen, ihnen den Besuch der Theater, der Kinos, der Museen verboten [...]. Dann hatte man ihnen die Dienstboten genommen und die Radios und Telefone aus den Wohnungen, dann die Wohnungen selbst, dann ihnen den Davidstern zwangsweise angeheftet; jeder sollte sie wie Leprakranke schon auf der Straße als Ausgestoßene, als Verfemte erkennen, meiden und verhöhnen. Jedes Recht wurde ihnen entzogen, jede seelische, jede körperliche Gewaltsamkeit mit spielhafter Lust an ihnen geübt [...]. Wer nicht ging, den warf man in ein Konzentrationslager.56

Und auch in diesem Buch sieht Zweig viel von dem in Brasilien sich entwickeln, was in Europa kulturell zerstört worden ist. Nachdem er zunächst – bei einem P.E.N.-Kongress im Jahr 1936 – Argentinien und seine Hauptstadt Buenos Aires kennen und schätzen gelernt hatte, reiste er nach Brasilien. Darüber liest man in der „Welt von Gestern“:

Ein nicht weniger mächtiger Eindruck, eine nicht geringere Verheißung ward mir Brasilien, dieses von der Natur verschwenderisch beschenkte Land mit der schönsten Stadt auf Erden [...]. Hier war die Vergangenheit sorgsamer bewahrt als in Europa selbst, hier war noch nicht die Verrohung, die der erste Weltkrieg mit sich gebracht, in die Sitten, in den Geist der Nation eingedrungen. Friedlicher lebten hier die Menschen zusammen, höflicher, nicht so feindselig wie bei uns war der Verkehr selbst zwischen den verschiedensten Rassen. Hier war nicht durch absurde Theorien von Blut und Stamm und Herkunft der Mensch abge←26 | 27→teilt vom Menschen, hier konnte man, so fühlte man mit merkwürdiger Ahnung voraus, noch friedlich leben [...].57

Die europäisch/brasilianisch zeitgeschichtliche Erfahrung hat Zweig dazu veranlasst während seines späten Exils ein Trauer- und ein Hoffhungsbuch zu schreiben: Ein Trauerbuch über den Verlust eines Europas, dem er in seiner Jugend die Entfaltung seiner künstlerischen Fähigkeiten verdankte; im Gegenzug aber auch ein Hoffhungsbuch über Brasilien, über ein Land, von dem er zu wenig wusste, und dem er daher nur ahnungsweise eine Rolle als stellvertretendes Europa zuschrieb. Die Erbschaft Europas, eines alten Kontinents mit vielen Auf- und Abschwüngen anzutreten und zu verteidigen, war eine Erwartung, die von Brasilien nicht eingelöst werden konnte. Europa musste sich schon selbst in jahrzehntelangen Anstrengungen von den Zerstörungen, die die beiden Weltkriege zurückgelassen hatten, zu erholen versuchen. Zweig hat auf dem Höhepunkt der okzidentalen Krise im 20. Jahrhundert diese beiden Bücher beendet, bevor er sich in einem Exil-Moment, als die Trauer die Hoffnung überlagerte, dem Todessog überließ. Für die transatlantische Germanistik bleiben beide Bücher mit ihren kontrapunktisch profilierten Beziehungen zwischen Europa und Südamerika, zwischen Trauerklage und Hoffnungsvision, eine Herausforderung.

Literatur

Appiah, Anthony: Cosmopolitanism: Ethics in a World of Strangers. New York: W.W. Norton 2006.

Details

Seiten
382
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783034342131
ISBN (ePUB)
9783034342148
ISBN (MOBI)
9783034342155
ISBN (Paperback)
9783034341172
DOI
10.3726/b17769
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (November)
Schlagworte
Lateinamerika Internationale Germanistik DaF-Germanistik Deutschlehrerausbildung
Erschienen
Bern, Berlin, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 382 S., 22 s/w Abb., 4 Tab.

Biographische Angaben

Paulo Astor Soethe (Band-Herausgeber:in)

Paulo Astor Soethe ist Professor für Germanistik an der Universidade Federal do Paraná in Curitiba (Brasilien). Von 2012 bis 2015 war er Präsident der Lateinamerikanischen Germanistenverbands. Für seine Forschungstätigkeit, vornehmlich den wechselseitigen Einfluss der Literatur auf die deutsch-brasilianischen Beziehungen, und für sein sprachpolitisches Engagement wurde Paulo Soethe 2015 mit dem Jacob- und Wilhelm-Grimm-Preis des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) ausgezeichnet. Er war mehrfach als Gastwissenschaftler bzw. -dozent in Deutschland, unter anderem in Tübingen, Passau, Leipzig, Göttingen und Potsdam, sowie in Brasilien, Mexiko und Kroatien. Im Wintersemester 2017/18 lehrte er als Harald-Weinrich-Gastlehrstuhlinhaber für Deutsch als Fremdsprache an der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die deutschsprachige Presse in den Amerikas, deutsch-brasilianische Literaturbeziehungen, Deutsch in Brasilien sowie Germanistik und Digital Humanities. Giovanna Lorena Ribeiro Chaves promovierte in Erziehungswissenschaften an der brasilianischen Bundesuniversität Paraná (UFPR) und absolvierte einen Master mit Doppelabschluss im Bereich Deutsch als Fremdsprache an der UFPR und der Universität Leipzig. 2014 war sie als Dozentin für Deutsch als Fremdsprache an der Landesuniversität UNICENTRO (Paraná, Brasilien) tätig, von 2015 bis 2019 an der UFPR. Seit Januar 2020 hat sie an der Fakultät für Erziehungswissenschaften der Fluminensischen Bundesuniversität (UFF) in Niterói, Rio de Janeiro, den Lehrstuhl für Lerhrerausbildung in Deutsch und Portugiesisch inne.

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Titel: Weltgermanistik, Germanistiken der Welt. Begegnungen in Lateinamerika