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Henrich Steffens

Ein politischer Professor in Umbruchzeiten 1806–1819

von Marit Bergner (Autor:in)
©2016 Dissertation 414 Seiten

Zusammenfassung

Diese mentalitätsgeschichtlich angelegte Studie untersucht den norwegischen Naturphilosophen Henrich Steffens (1773–1845), Gelehrter an den preußischen Universitäten Halle, Breslau und Berlin. Erstmals fasst sie ihn als politischen Professor, öffentlichen Kommentator der preußischen Politik und (Mit-)Initiator politischer Ereignisse im Kontext der nationsbildenden Jahre in Preußen. Henrich Steffens war Fürsprecher der autonomen und souveränen Wissenschaft, Leutnant im Krieg gegen Napoleon und wurde 1818 in der Breslauer Turnfehde durch die Ablehnung einer erzwungenen Nationsbildung zum Gegner der deutschen Nationalbewegung. Neben seinen in den Jahren 1806 bis 1819 publizierten politischen Schriften bilden auch private und behördliche Briefwechsel sowie seine Autobiographie den Quellenschwerpunkt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Einleitung
  • 1. Einführung und Fragestellung
  • 2. Biographischer Überblick
  • 3. Forschungsstand
  • 4. Quellenlage
  • 4.1 Die Autobiographie als Quelle
  • 4.2 Sonstige Quellen
  • 5. Methodisch-theoretische Grundlagen und Begriffsdefinitionen
  • 5.1 Netzwerktheorien
  • 5.2 Politisches Professorentum
  • 5.3 Aufbau und Struktur
  • Henrich Steffens als politischer Akteur
  • I. 1806 und die Folgen: Professor in Halle
  • 1. Erste Jahre 1804–1806: Professor in Halle
  • 2. Besetzung Halles 1806: Unter französischer Herrschaft
  • 3. Flucht aus Halle: Suche nach Anstellung (1806–1808)
  • 4. Rückkehr nach Halle (1808–1811): Universitätsideen 1808/09
  • 5. Geheimer Widerstand 1808/09
  • 6. Hoffnung auf die Berliner Universität
  • 7. Zwischenergebnisse
  • II. Wider Napoleon: Breslau 1811–1815
  • 1. Anfangsjahre an der Breslauer Universität 1811–1813
  • 2. Gedanken zur nationalen Gesinnung
  • 3. Zum Begriff der Befreiung
  • 4. Historischer Kontext
  • 5. Öffentliche Aufrufe
  • 6. Steffens’ Aufruf
  • 7. Ausblick in den Feldzug
  • 8. Rezeption des Aufrufs in der Historiographie
  • 9. Zwischenergebnisse
  • III. Nationale Bewegungen: Die Breslauer Turnfehde 1818
  • 1. Die frühe deutsche Nationalbewegung
  • 1.1 Zur Entstehung des nationalen Gedankens
  • 1.2 Herausbildung und Entwicklung des Turnens unter Jahn
  • 1.3 Vom Turnen zu den Burschenschaften
  • 1.4 Das Wartburgfest 1817
  • 1.5 Gründung der Breslauer Burschenschaft
  • 2. Der Breslauer Turnplatz
  • 3. Die Breslauer Akteure der Turnfehde und ihre Schriften
  • 3.1 Die Akteure und ihre Netzwerke
  • 3.2 Überblick, Erscheinungsorte und Inhalte der Turnschriften
  • 3.3 Das Problem der Zensur
  • 4. Inhaltliche Analyse
  • 4.1 Das Turnen als Ausbildungsmittel für den Krieg
  • 4.2 Vaterlandsliebe – Patriotismus
  • 4.3 Deutschtum – Nationalismus
  • 4.4 Erziehung
  • 4.5 Ständegesellschaft und Staat
  • 4.6 Zwischenergebnisse
  • 5. Chronologischer Ablauf der Breslauer Turnfehde
  • 6. Steffens’ persönliche Turnfehde
  • 7. Zum Verhältnis zwischen Steffens und Jahn
  • 8. Politisches Nachspiel der Turnfehde
  • 9. Steffens’ persönlicher Abschluss mit der Schrift „Die gute Sache“
  • 10. Ende der Freiheitsdebatte: Kotzebues Ermordung
  • 11. Zwischenergebnisse
  • Schlussbetrachtung
  • Abstract
  • Sammendrag
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Abbildungsverzeichnis
  • Quellen-und Literaturverzeichnis
  • 1. Quellen
  • 1.1 Archivalische Quellen
  • 1.2 Unveröffentlichte Quellen
  • 1.3 Zeitungen, Zeitschriften und Lexika
  • 1.4 Henrich Steffens’ Schriften
  • 1.5 Turnschriften
  • 1.6 Gedruckte Quellen
  • 2. Literatur
  • 3. Internetquellen
  • Personenverzeichnis

Einleitung

1.   Einführung und Fragestellung

„Tak, du store Arvelader!”1 (Danke, du großer Erblasser) – mit diesen Worten würdigte bereits der dänische Theologe und Pädagoge Nikolai Frederik Severin Grundtvig 1845 seinen verstorbenen Cousin, den Naturphilosophen und Schriftsteller Henrich Steffens2 (1773–1845). Steffens als Erblasser zu bezeichnen trifft nicht nur aus der nordischen Perspektive zu, sondern wird Steffens auch aus historisch-deutscher Perspektive gerecht. 1998 wurde an der Berliner Humboldt-Universität, wo Steffens von 1831 bis zu seinem Tod lehrte, eine norwegische Gastprofessur institutionalisiert, die den wissenschaftlichen Austausch zwischen Norwegen und Deutschland stärken und vertiefen sowie einen kulturellen Vermittlungsort darstellen sollte.3 Henrich Steffens wurde als Namensgeber nicht ← 13 | 14 → zufällig gewählt, vielmehr war diese Namenswahl bei der angestrebten Profilierung der Professur naheliegend: Steffens, der als gebürtiger Norweger nach seinem Studium in Kopenhagen an der deutschsprachigen Universität Kiel 1797 promoviert wurde, kam über Forschungsreisen mit dem Kreis der deutschen Romantiker in Weimar und Jena in Kontakt, brachte die dort erworbenen Kenntnisse über die Romantik nach Kopenhagen und wirkte anschließend als Professor in Halle, Breslau und Berlin. An diesen Wirkungsstätten trat er in engen Kontakt zur deutschen Nationalbewegung. Wie keine andere nordeuropäische Persönlichkeit war er Zeit seines Lebens eng mit seinem Geburtsland Norwegen und seiner Wahlheimat Deutschland verbunden – er stand für das, was als „Interkulturalität oder Internationalisierung“4 bezeichnet werden kann und bot mit seiner Lehre eine Bandbreite der Interdisziplinarität.5 Zudem gilt er bis heute in seinem Jugendland Dänemark als der Vermittler der deutschen Romantik und wird grenzüberschreitend als Kulturvermittler interpretiert und wahrgenommen.6 Der norwegische Germanist Ivar Sagmo bezeichnet Steffens gar als „Norwegens ← 14 | 15 → erste[n] Botschafter in Deutschland“7. In der deutschen Wissenschaftsgeschichte ist sein Name nur noch Wenigen bekannt, obwohl er Anfang des 19. Jahrhunderts neben Friedrich Schelling zu den renommiertesten Naturphilosophen gehörte und eine feste Größe unter den Gebildeten und Gelehrten Deutschlands war. Steffens’ Veröffentlichungen waren Bestandteil der gelehrten Blätter seiner Zeit. Sein wissenschaftlicher Ruf trug in den ersten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts entscheidend dazu bei, dass er auch mit seinen tagespolitischen Publikationen ein hohes Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit erlangte. Gleichwohl ist seine Rolle als öffentlicher Akteur noch nicht analysiert worden. Dabei bietet sich eine Untersuchung von Henrich Steffens’ öffentlichem Wirken besonders aus folgendem Grund an:

Steffens war unmittelbarer Zeitzeuge, Protagonist und Akteur in der Sattelzeit (Reinhart Koselleck)8 zwischen Ancien régime und bürgerlicher Moderne. Er erlebte als Gelehrter an drei preußischen Universitäten (Halle, Breslau und Berlin) in den Jahren um 1806 „den massivsten Bruch in der deutschen Geschichte vor 1945“9 mit. Europa wurde zu großen Teilen von Napoleon beherrscht, die bisherige politische Struktur in Mitteleuropa brach mit dem Ende des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation am 6. August 1806 zusammen. Übrig blieben die Kernländer Österreich und Preußen; die kleineren und mittleren deutschen Staaten schlossen sich unter dem Protektorat Napoleons im Rheinbund zusammen. In der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt im Oktober 1806 unterlag Preußen im vierten Koalitionskrieg Frankreich und musste im Frieden von Tilsit am 9. Juli 1807 eine beispiellose Demütigung ertragen. Das preußische Staatsgebiet wurde nahezu halbiert und die preußische Monarchie verlor mehr als die Hälfte ihrer Einwohner. Berühmt ist der Bittgang der preußischen Königin Luise zu Napoleon nach Tilsit, der beim französischen Herrscher lediglich Bewunderung ihrer Schönheit, aber keine der erhofften Zugeständnisse an Preußen auslöste.10 ← 15 | 16 → Durch die französische Besetzung verlor Preußen auch die Universität Halle, an der Steffens seit 1804 lehrte. Der Niederlage Preußens folgte ein umfangreicher staatlicher Reformkurs, der eine Reorganisation des Staates zum Ziel hatte. Mit einer wiedererstarkten Monarchie glaubte man, der Hegemonie Napoleons Einhalt bieten zu können. Wolfgang Burgdorf stellte in seiner Studie zum Ende des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation einen „Identitätsverlust“ in der Bevölkerung der deutschen Länder fest11. Auch in Preußen galt es, mit den neuen Herausforderungen umzugehen. Die Entstehung einer national-patriotischen Bewegung in Preußen ist auch vor dem Hintergrund der empfundenen Entwurzelung12 zu sehen. Der einsetzende Nationsfindungsprozess war geprägt von den Fragen nach der eigenen Identität sowie dem Diskurs um die Begriffe ,Volk‘, ,Vaterland‘ und ,Nation‘.

Steffens habe die langfristigen Folgen dieser Jahre, jene geistigen und nationalen Ideale, verwirklicht sehen wollen, die infolge des Schicksalsjahres 1806 als Forderungen der deutschen Nationalbewegung in die Geschichte eingingen – so sein Berliner Kollege an der Friedrich-Wilhelms-Universität und Geschichtsprofessor Johann Heinrich Gelzer in seinem Nekrolog auf Henrich Steffens.13 In seinen politischen Schriften kommentierte Steffens diese nationsbildenden und reformerischen Prozesse und gestaltete sie wie in Breslau 1813 mit seinem Aufruf für den Krieg gegen Napoleon maßgeblich mit. Sein öffentliches Handeln als Universitätsprofessor, so eine These dieser Studie, weist ihn als Vertreter des politischen Professorentums aus. Zugleich, darauf kann nicht genug hingewiesen werden, war Steffens in Dänemark-Norwegen geboren, was möglicherweise ein Grund dafür ist, dass sich die historische Forschung in Deutschland bislang nur marginal für sein öffentlich-politisches Handeln interessierte. Umso interessanter ist vor diesem Hintergrund Steffens’ Rolle als politischer Akteur, als Kommentator der preußischen Politik und als (Mit-)Initiator jener Prozesse, welche die deutsche Geschichte maßgeblich prägten.

Diese Arbeit setzt sich zum Ziel, durch die Perspektive auf Henrich Steffens als politischen Akteur neue Einblicke in diese Umbruchszeit in Deutschland zu geben.

Im Zentrum der Arbeit stehen drei Begebenheiten von Steffens’ öffentlichem Agieren: 1) Sein Auftreten in Halle, wo er 1808/09 bildungspolitische Vorlesungen hielt und publizierte. 2) Sein Breslauer Aufruf 1813, der ein herausragendes ← 16 | 17 → Beispiel für die Politisierung eines Gelehrten ist. 3) Die Breslauer Turnfehde, die eine Grundsatzdebatte um das Turnen Friedrich Ludwig Jahns war und bis heute ein Forschungsdesiderat darstellt.14

Exemplarisch soll anhand dieser Vorgänge den Fragen nachgegangen werden, welche Steffens’ Beweggründe waren, um sich als deutscher Hochschullehrer dänisch-norwegischer Herkunft in den Jahren zwischen 1806 und 1819 zeitweise von der Wissenschaft abzuwenden und mit politischen Schriften oder einem politischen Aufruf in die Öffentlichkeit zu treten, was seine politischen Ansichten waren und auf welche Weise er diese vermittelte. Hierbei wird auch zu fragen sein, in welchem geographisch-sozialen Raum er sich 1806, 1813 und 1818 aufhielt, welche individuellen Wertvorstellungen er in diesen Jahren jeweils in sich trug und in wie weit ihn einschneidende Erfahrungen von 1806 und 1813 in seinen politischen Ansichten geprägt haben.

Steffens’ wissenschaftliches Wirken erfährt in diesen 14 Jahren eine Unterbrechung. In den Jahren von 1809 bis 1821 erschienen in enger Folge – angesichts ihres gewaltigen Umfangs der beiden größten Werke ist dies umso erstaunlicher – die Werke, die später als seine politischen Schriften bezeichnet werden sollten. Seine öffentliche Aktivität erreichte 1818 mit der Breslauer Turnfehde ihren Höhepunkt und endete nach den Karlsbader Beschlüssen mit der Fertigstellung seines letzten politischen Werkes im Jahr 1820. Damit ordnet sich der Beginn von Steffens’ politischem Wirken in die Anfangsphase der öffentlichen Forderung nach freier Meinungsäußerung15 ein und endet mit der Verabschiedung der Karlsbader Beschlüsse von 1819, welche die Freiheit der Presse einschränkten und eine generelle Zensur einführten.16 Dadurch begründet sich auch der Untersuchungszeitraum dieser Arbeit. ← 17 | 18 →

2.   Biographischer Überblick

Henrich Steffens wurde am 2. Mai 1773 als zweites von sechs Kindern des deutschstämmigen Arztes Hinrich Steffens (1744–1798) und der dänischen Bürgerstochter Susanna Christina Bang (1751–1788) im norwegischen Stavanger geboren, wo der Vater als Angehöriger der dänischen Armee tätig war. Die ersten sechs Lebensjahre verbrachte Steffens in Norwegen, so dass er sich lebenslang in der Öffentlichkeit gerne als Norweger bezeichnete, trotz der politischen Zugehörigkeit seines Geburtslandes zu Dänemark bis zum 7. Januar 1814.17

1779 verließ die Familie Norwegen und zog erst ins dänische Helsingør und dann weiter nach Roskilde, wo Steffens seine Schulbildung erhielt und, bedingt durch die Herkunft des Vaters, zu Hause auch Deutsch lernte, wenngleich die Hauptsprache im Hause Steffens Dänisch war. Zu anderen Sprachen, wie dem Englischen oder Französischen, fehlte der Zugang und auch mit dem Deutschen konnte sich Steffens als Kind nicht anfreunden:

Die lebendigen Sprachen wurden überhaupt damals so gut wie gar nicht getrieben, nur für die deutsche Sprache waren täglich zwei Stunden aufgesetzt; die äußere Nothwendigkeit für einen geistig gebildeten Mann, diese Sprache wenigstens zu verstehen, wenn auch nicht zu sprechen, hatte die Kenntnisse derselben allgemein gemacht. Da mein Vater ein geborner Deutscher war, so wurde öfters beschlossen, es solle im Hause nur deutsch gesprochen werden. Der Befehl erging an uns Kinder und machte uns auf ein paar Tage stumm.18

Nach dem Tod der Mutter 1788 zerfiel die Familie. Die beiden jüngeren Schwestern kamen zu verschiedenen Verwandten aufs Land, die vier Brüder blieben beim ← 18 | 19 → Vater in Kopenhagen. Steffens erhielt zusammen mit seinem ein Jahr jüngeren Bruder Niels Privatunterricht, um für die Universitätsaufnahmeprüfung vorbereitet zu werden.19 Der älteste und der jüngste Bruder waren für eine Militärlaufbahn bestimmt.

Obgleich es der letzte Wunsch der Mutter gewesen war, dass er Theologie studierte, entschied Steffens sich für ein naturwissenschaftliches Studium. Auf der Kopenhagener Universität hörte er Philosophie, Mathematik und Physik, sowie im zweiten Jahr Latein, Griechisch, Geschichte und Astronomie – sieben Vorlesungen täglich besuchte er nach eigenen Angaben alleine im ersten Studienjahr. In diese Anfangszeit sei nach Steffens auch sein Wunsch gefallen, später selbst zum universitären Vermittler von Wissen zu werden. So habe er kostenlose Repetitionsstunden für Studenten gegeben, die sich keinen Lehrer zur Examensvorbereitung leisten konnten. Rückwirkend konstruiert Steffens hier seinen späteren beruflichen Lebensweg: „Da trat nun die Neigung zu belehren mit Macht hervor.“20

1794 legte Steffens als erster Kandidat Dänemarks seine Universitätsprüfung in den Fächern Zoologie, Botanik und Mineralogie ab.21 Kurz darauf verließ er Kopenhagen – er hatte ein Stipendium der naturhistorischen Gesellschaft erhalten, um in Westnorwegen – mit Ausgangspunkt Bergen – das Gebirge geologisch und mineralogisch zu untersuchen und Mollusken zu sammeln. Während der Zeit in Norwegen, hauptsächlich während seines Aufenthaltes in Bergen, führte Steffens Tagebuch.22 Steffens verbrachte die beiden Sommermonate Juni und Juli in Bergen, bevor er sich per Boot in die Fjorde begab, um Mollusken zu suchen. Die Zeit in Bergen füllte er mit Besuchen bei Bekannten seines Kopenhagener Professors Martin Vahl, der von dort stammte, und geriet schließlich mit dem stellvertretenden Bergenser Bischof Johan Nordahl Brun in einen aufsehenerregenden Konflikt.23

Während der anschließenden Exkursion musste Steffens erkennen, dass ihm Hilfsmittel zur Bestimmung seines gesammelten Materials fehlten. Der Auto ← 19 | 20 → biographie zur Folge war diese Erkenntnis der Grund, weshalb Steffens sich zur vorzeitigen Abreise aus Norwegen entschied und am 15. Oktober 1794 ein Schiff nach Hamburg bestieg. Er schämte sich, mit „dürftigen Ergebnissen“24 vor der Naturhistorischen Gesellschaft in Kopenhagen zu erscheinen. Tatsächlich war der Anlass der Abreise dagegen hauptsächlich in dem psychischen Gemütszustand Steffens’ zu suchen, der dem einer inneren Krise entsprach und durch ein starkes Einsamkeitsgefühl ausgelöst wurde.25 Auf der Überfahrt nach Hamburg geriet das Schiff vor der Elbmündung in einen schweren Sturm und erlitt Schiffbruch, bei dem Steffens auch seine Bergenser Forschungsergebnisse verlor. In den darauffolgenden zwei Jahren befand sich Steffens finanziell wie seelisch in einer katastrophalen Lage. In Hamburg gestrandet, war er von zwei Kaufmannsfamilien aufgenommen worden. Es gelang ihm, in zwei Bergenser Bekannten seines Professors Vahl, denen er seine Ergebnisse gezeigt hatte, zwei Zeugen aufzubieten, welche die Existenz der gesammelten Ergebnisse bei Abreise aus Bergen gegenüber der Naturhistorischen Gesellschaft in Kopenhagen bestätigen konnten und Steffens’ Erklärung somit akzeptiert wurde. Mit seinen Cousins Ole Hieronymus und Jacob Peter Mynster stand er brieflich in Kontakt, schlug aber alle gut gemeinten Vorschläge, Geld zu verdienen, aus.26 Schließlich zog Steffens zu seinem Vater, der inzwischen mit zwei Geschwistern von Steffens bei Rendsburg lebte. Ein Jahr später erhielt er von Vahl eine Empfehlung an den Kieler Professor Johann Christian Fabricius und konnte seine Studien in Kiel fortsetzen, wo er zugleich, nachdem er sich durch eine Sonderprüfung an der Philosophischen Fakultät qualifiziert hatte, die Vertretung Fabricius’ übernahm, wenn dieser auf Forschungsreisen war.“27

In Kiel lernte Steffens den Privatdozenten der Philosophie Wilhelm Friedrich August Mackensen kennen, der bei Steffens das Interesse für Philosophie weckte: „Hätte ich diese Wissenschaft früher kennen gelernt, dann würde sie mich viel ← 20 | 21 → entschiedener in Anspruch genommen haben.“28 Mackensen muss es gewesen sein, der Steffens mit dem tieferen Gehalt der Schriften Jacobis und Lessings vertraut machte, auch wenn Steffens Lessing bereits in Kopenhagen gelesen hatte. Auch der gebürtige Altonaer und spätere dänische Diplomat und Staatsmann Johann Georg Rist, der zuvor in Jena studiert und dort Fichte gehört hatte, gehörte zu den Kieler Bekannten Steffens’, die einen bleibenden Eindruck in seinem Leben hinterließen. Rist verdankt Steffens, dass sich ihm „gleichsam ein neues Vaterland eröffnete“29. Wegbereitend für seine spätere naturphilosophische Denkweise war Steffens’ „Spinoza-Erlebnis“30. Durch die Schrift „Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn“ des Philosophen Friedrich Heinrich Jacobi wurde sein Interesse für Spinoza geweckt, dessen Einheitsdenken von Natur und Geist Steffens übernahm.31 Am 8. April 1797 wurde Steffens mit der Schrift „Ueber die Mineralogie und das mineralogische Studium“ promoviert.32

1798 reiste Steffens mit einem zweijährigen Reisestipendium nach Deutschland, um beim deutschen Mineralogen Abraham Gottlob Werner an der Bergakademie in Freiberg sein Studium zu vertiefen.33 Ein weiterer Grund war der Wunsch, in Jena Friedrich Schelling zu treffen. Bereits in Kiel hatte Steffens Schellings „Ideen zu einer Philosophie der Natur“ (1797) gelesen und seine eigenen Ge ← 21 | 22 → danken dort wiedergefunden.34 Die Lektüre des Werkes eines Seelenverwandten war für ihn der „entschiedene Wendepunkt [im] Leben“35. Bei der Antrittsvorlesung Schellings am 29. Oktober 179836 war Steffens daher unter den Zuhörern und tief beeindruckt: „Er riß mich ganz hin, und ich eilte den Tag darauf, ihn zu besuchen.“37 Von der ersten Begegnung der lebenslangen Freunde lässt sich sowohl in Steffens’ Autobiographie als auch in Schellings Lebenserinnerungen nachlesen. So habe Schelling ihn „mit Freude“38 aufgenommen und Schelling wiederum gab an, er habe in Steffens „einen geistig Verbündeten“ gefunden.39 Durch ihre unterschiedliche Ausbildung ergänzten sie sich sehr gut; während Schelling philosophisch und theoretisch dachte und arbeitete, konnte Steffens mit seiner praktisch-naturwissenschaftlichen Ausbildung empirische Kenntnisse beitragen.40

Durch Schelling eröffnete sich für Steffens die Möglichkeit, wissenschaftliche Werke zur Veröffentlichung zu rezensieren. So nahm Steffens im Herbst 1799 das Angebot Schellings an, dessen naturphilosophische Schriften für dessen eigene Zeitschrift – Zeitschrift für spekulative Physik – zu rezensieren.41 Steffens’ Rezension ist zugleich sein „erste[r] selbständige[r], rezeptionsphänomenologisch bedeutsame[r] Beitrag zur Naturphilosophie“42. Ein Streit, der dieser Rezension vorausging und sich hauptsächlich zwischen Schelling und den Herausgebern der Allgemeinen Jenaer Literaturzeitung, Hofrat Christian Gottfried Schütz und Justizrat Gottlieb Hufeland, abspielte, weitete sich zu einer regelrechten ← 22 | 23 → „Wissenschaftsfehde“43 aus, in die auch Steffens durch Schellings Bitte der Rezensionsübernahme hineingezogen wurde. Der Literaturkritiker und Schriftsteller Friedrich Nicolai sorgte mit einem Eintrag dieser Thematik in der „Neue[n] allgemeine[n] deutsche[n] Bibliothek“ dafür, dass Steffens’ Mitwirken an diesen Streitigkeiten bis nach Dänemark bekannt wurde.44 Steffens selbst äußert sich rückblickend folgendermaßen: „Ich ward nun zum erstenmal in eine litterarische Streitigkeit verwickelt. Was mich bewog, mich in diese Streitigkeit zu mischen, und selbst öffentlich hervorzutreten, war ein rein persönliches Verhältnis.“45 Trotz der persönlichen Kränkung, die er infolge dieser Streitigkeiten erfuhr, und seines Vorhabens, sich nie wieder zu Angriffen gegen seine Ansichten und Standpunkte zu äußern, entsprach es nicht seiner Natur, sich im öffentlichen Meinungsaustausch zurückzuhalten. Fühlte er sich, wie in diesem Fall, angegriffen oder verspürte er den Willen, mit seiner Meinung selbst an die Öffentlichkeit zu treten, so tat er das, trotz aller Konsequenzen, die dieses nach sich zog:

In einzelnen Fällen, wo ich mich persönlich verletzt glaubte, oder wo der Angreifende ein Mann von bedeutendem Rufe war, bin ich meinem Entschlusse untreu geworden, habe es aber jedesmal bereut. Meine Stellung in der Litteratur war daher bis jetzt in meinem hohen Alter fortdauernd eine offensive.46

In Jena trat Steffens durch Vermittlung Schellings sowie des Verlegers und Buchhändlers Carl Friedrich Frommann47 in Kontakt zu den Romantikern wie Johann Gottlieb Fichte, Ludwig Tieck; Novalis und den Brüdern August Wilhelm und Friedrich Schlegel. Auch Johann Wolfgang von Goethe lernte er dort kennen.48 ← 23 | 24 →

Als sich Steffens nach einem halben Jahr in Jena endlich, nach einer eindringlichen Aufforderung aus Dänemark,49 auf den Weg nach Freiberg machte, reiste er über Weimar, Halle und Berlin, wo er weitere Personen traf, die sein Leben beeinflussen sollten, wie etwa den Komponisten Johann Christian Reichardt aus Giebichenstein bei Halle, den Hallenser Mediziner Johann Christian Reil sowie den Philosophen Friedrich Schleiermacher in Berlin. Während dieser Zeit vermisste er das geistige Leben in Jena; so schrieb er an Caroline Schlegel: „Jena finde ich nirgends wieder, das fühle ich, und nicht selten überfällt mich ein Sehnen, das ich Heimweh nennen möchte; denn, wahrlich, nirgends war ich so zu Hause, wie in Jena.“50 Jena war der Ort, an dem Steffens’ naturphilosophisches Denken geprägt wurde. Er selbst war sich der Bedeutsamkeit des wissenschaftlichen Umfeldes in Jena bewusst, wie ein Brief an Frommann von 1801 zeigt: „Wie ich aber nach Jena sehne – meinem eigentlichen Geburtsort – kann ich Ihnen kaum sagen.“51

In Freiberg entstand im Jahr 1800 Steffens’ erstes großes naturphilosophisches Werk – „Beyträge zur innern Naturgeschichte der Erde“ – mit dem er „nicht nur ← 24 | 25 → bei den Romantikern, sondern auch in Physiker- und Philosophenkreisen mit einem Schlag berühmt“52 wurde.

Mit Ablauf des wiederholt verlängerten Stipendiums kehrte Steffens schließlich 1802 nach Kopenhagen zurück.53 Seiner Zukunft in Dänemark sah Steffens optimistisch entgegen und rekonstruierte in seinen Lebenserinnerungen daraus eine Missionsfahrt:

Ich sollte nun nach meinem Vaterlande zurückgehen. Welche Stellung ich da einnehmen würde, war mir freilich nicht klar: daß ich aber die geistigen Schätze, die mir Deutschland geschenkt hatte, meinen Landsleuten mittheilen wollte, war mein fester Entschluß. Ich wünschte nicht nach Kiel wieder zurückzukehren; ich hoffte, in Kopenhagen philosophische Vorlesungen halten zu können. Zu diesen bereitete ich mich hier in der Einsamkeit vor.54

In Kopenhagen hielt Steffens seine später berühmt gewordenen philosophischen Vorlesungen55, welche, zusammen mit seinem Einfluss auf Adam Oehlenschläger, zu einem literaturhistorischen Mythos stilisiert wurden.56 Seitdem gilt Steffens bis heute als der „Vermittler der deutschen Romantik und Anreger des neuen Epochenstils in Dänemark“57 sowie nach Georg Brandes und Ludvig Holberg als ← 25 | 26 → die „dritte Kulturpersönlichkeit“ des Landes, „die einen radikalen Wechsel der Geistes- und Epochengeschichte, sowie einen Stilwandel einleitete und damit das Denken einer ganzen Generation von Dichtern und Gelehrten ausführlich bestimmte.“ Allerdings sei dieser „Stil- und Epochenwandel vor allem durch die suggestive Kraft seiner Persönlichkeit“58 bewirkt worden.

Bevor Steffens seine Vorlesungen hielt, hatte er sich mit einem Berufsverbot, erteilt durch den dänischen Unterrichtsminister Herzog von Augustenburg, auseinanderzusetzen. Dieser hatte die von dem Buchhändler Nicolai veröffentlichte Polemik in der „Neuen allgemeinen Deutschen Bibliothek“ gelesen und sah seine bereits früher vorhandenen Vorurteile gegen Steffens bestätigt.59 Steffens selbst sah vor allem dessen Abneigung gegen die deutsche Literatur die Hauptursache für die Antipathie des Herzogs ihm gegenüber, so dass seine Stellung in Dänemark „von vorn herein bedenklich“ war.60

Im Herbst 1802 erhielt Steffens die Vorlesungserlaubnis und begann am 11. November 1802 mit seinen philosophischen Vorlesungen.61 Festzuhalten bleibt, dass Steffens mit seinen Vorlesungen, die er ab der fünften Vorlesung frei gehalten hatte62, etwas Neues nach Kopenhagen brachte, was besonders von Konservati ← 26 | 27 → ven als revolutionär aufgefasst wurde und deshalb Gerüchte umgingen, „Steffens mache mit seinen Ideen die Leute verrückt“63. Tatsächlich war Steffens bemüht, seine Studenten „zum selbständigen Denken zu bewegen“64 und viele junge Männer wandten sich, durch ihn angeregt, der neueren deutschen Literatur zu. Diese Begeisterung trug im Dänemark des beginnenden 19. Jahrhunderts nicht gerade zu Steffens’ Beliebtheit bei den staatlichen Stellen bei: „Doch je entschiedener mein Einfluß hervortrat, desto mehr wuchs die Besorgnis der wissenschaftlichen Behörden.“65 Steffens war zu einer Zeit nach Kopenhagen zurückgekehrt, wo der Bruch mit dem Deutschen noch nicht lange zurücklag und eine Rehabilitation stattfand. Hatte er während seiner Kindheit und Jugend erste deutschfeindliche Regungen nur nebenbei erfahren und teils selbst so empfunden, so wurde er nun selbst Zielscheibe der Anfeindungen66, die eigentlich längst vorüber waren:

Ich hieß wenigstens in einem gewissen Kreise der deutsche Doctor. Einst erschien ein Däne bei mir, der mir vorwarf, daß ich die Beiträge zur inneren Naturgeschichte der Erde nicht in der Muttersprache ausgegeben hätte. Ich fragte ihn ganz einfach, ob er aus Patriotismus die Kosten des Drucks tragen wolle?67

Wie bewusst sich Steffens des dänisch-deutschen Gegensatzes vor dem Hintergrund seines persönlichen sprachlichen Zugehörigkeitsgefühl zum Deutschen auch Jahre später noch war, belegt ein Brief aus Breslau, den er im Herbst 1814 an den dänischen Philosophen Frederik Christian Sibbern schrieb:

Werden Sie nicht böse, dass ich auf deutsch antworte, denn obgleich ich nicht glaube meine „Frau Muttersprache“ […] vergessen zu haben, so fliesst die Feder doch, wenn man eben beim Briefschreiben ist, und keine Zeit zu verlieren hat, und so viel wie möglich sagen will, am leichtesten in der nehmlichen Sprache. Indessen lassen Sie den Brief ja nicht in „Dagen“ drucken, sonst wære der Teufel loss. Verbrennen Sie ihn lieber, den ← 27 | 28 → es schaudert mir, wenn ich denke, das Guldberg erführe, wie ich, ein Dæne, an einen Dænen in Dænnemark deutsch schriebe. – Auch mir wird jetz schon so ængstlich dabei, dass ich, trotz meines Entschlusses, das übrige auf dænisch schreibe.68

Seinem Gegner, dem Herzog von Augustenburg, mussten diese Vorbehalte sehr gelegen kommen und Steffens wurde eine feste Stelle an der Kopenhagener Universität vorenthalten. Stattdessen bewilligte man ihm eine naturwissenschaftliche Exkursion nach Rügen und Oldesloe, die Steffens nutzte, um nach Giebichenstein zu reisen, wo er am 4. September 1803 Johanna Reichardt (1784–1855) heiratete.69 Der Rückweg führte über Berlin, wo Steffens August Wilhelm Schlegel und Schleiermacher traf und vermutlich ein retuschiertes Bild seiner Kopenhagener Lage ablieferte. Anders ist Schlegels Brief an Goethe nicht zu erklären, wo dieser berichtet, dass Steffens „jetzt im Dienst der Regierung unter sehr vortheilhaften Bedingungen fixirt ist.“70

Tatsächlich wartete Steffens in Kopenhagen auf ein Lehrangebot für die dortige Universität, als ihn im Mai 1804 ein Brief Reils mit der Mitteilung erreichte, dass er für eine neu einzurichtende Professur der Mineralogie und Naturphilosophie an der Universität Halle nominiert worden sei.71 Kurz darauf erhielt Steffens selbst einen Brief vom preußischen Minister Freiherrn Julius Eberhard von Massow, in dem dieser Steffens die Professur, die mit 1000 Reichstalern jährlich dotiert war, antrug:72

Die Aufregung, in welche dieser unerwartete Brief mich versetzte, war unglaublich. Mein ganzes Dasein bekam plötzlich eine andere Richtung. Ich hatte mich von meiner Jugend an durchaus als meinem Vaterlande zugehörig, durchaus als Däne gedacht. Die stille Sehnsucht nach Deutschland, der verborgene Wunsch, dort zu leben und thätig zu sein, waren kaum zum inneren klaren Bewußtsein gelangt: und nun war ich doch in eine Stellung versetzt, die mir eine völlige Trennung von meinem Vaterlande, so wie sie sich jetzt darbot, nicht bloß wünschenswerth, sondern leider selbst nothwendig machte.73 ← 28 | 29 →

Steffens nahm diesen Ruf nach Halle an – sehr zum Ärger der nationaldänischen Kreise in Kopenhagen, die ihm „Hochverrat“74 vorwarfen. Steffens wiederum rechtfertigte sich in einem Schreiben an den dänischen Kronprinzen und verwies auf seine schlechte Stellung in Dänemark:

Da ich nun nicht mit Vorlesungen beauftragt bin – welche ich bisher ohne den geringsten Vorteil aus bloßer Neigung als tolerierter Docent gehalten habe – so ist es klar, daß diese Beschäftigung nicht die sein kann, die man nützlich für mein Heimatland erachtet…In meinem Vaterland scheint im Gegenteil ein bestimmtes Vorurteil gegenüber meinen Betrachtungen zu herrschen. Einige junge Männer ausgenommen, interessiert sich niemand für meine wissenschaftlichen Ideen. Ich bin von allen wissenschaftlichen Verbindungen ausgeschlossen, genauso wie von der Universität … Ich widerspreche ganz bestimmt dem Gang, den eine Menge Wissenschaftler genommen haben, die Opposition ist, zumindest hier, noch so neu, die Gelegenheit zu öffentlichen Äußerungen so eingeschränkt, daß eine vollständige Übersicht über alle Gründe eine lange Reihe von Jahren erfordern würde, in denen ich also, ohne Aufmunterung, ohne Teilnahme, kämpfend mit einer Opposition, die ich in Deutschland schon teilweise überwunden habe, in der unbehaglichsten Stellung arbeiten müßte.75

Damit verließ Steffens im Sommer 1804 Dänemark und traf am 16. August in Halle ein.76 Die ersten Jahre in Halle waren neben dem Beginn seiner öffentlichen Wirksamkeit auch die Basis für Steffens’ weitläufiges intellektuelles Netzwerk. Ausgehend von seinen ersten Kontakten aus den Aufenthalten in Jena knüpfte er in Halle weitreichende Kontakte zu vielen anderen deutschen Gelehrten und Schriftstellern. Seine Integration in die deutsche Bildungselite, bei der besonders Schleiermacher eine Vermittlungsposition besaß, hatte hier ihre Wurzeln.

1811 wurde er an die neu eröffnete Breslauer Universität berufen. Obwohl Breslau kein Wunschort von Steffens war, sondern er sich vielmehr „wie in einer Verbannung“77 fühlte, so entfaltete er auch dort eine rege Aktivität im universitären und städtischen Leben, die als der Höhepunkt seines öffentlichen Wirkens zu betrachten sein wird. ← 29 | 30 →

1824 unternahm Steffens eine einjährige Reise nach Skandinavien, die ihn zu Verwandten und wissenschaftlichen Kollegen u. a. nach Stockholm, Uppsala, Christiania und Kopenhagen führte und auf der er zahlreiche Kontakte zu dänischen, schwedischen und norwegischen Wissenschaftlern, Schriftstellern und Politikern knüpfte. Bereits 1820 war er in Kopenhagen als außerordentliches Mitglied der „Königlich Dänischen Gesellschaft der Wissenschaften“ (Kongelige Danske Videnskabernes Selskab) aufgenommen worden.78

Inspiriert von dieser Reise, aber auch den Erlebnissen seines Sommers in Bergen und Westnorwegen 1794, schrieb er in den Jahren 1825–1831 die Novellen „Walseth und Leith“ (1827), „Die vier Norweger“ (1828) und „Malcolm“ (1831), die räumlich fast alle in Norwegen angesiedelt sind. Den Grund für seine schriftstellerische Tätigkeit erklärt Steffens folgendermaßen: „Mit dem Alter wuchs der Wunsch, was mich innerlich erfüllte, auszusprechen, immer mehr.“79 Mit seinen Novellen brachte er das ferne Land im Norden dem deutschen Leser näher und war der erste Werber für Norwegen.

Nachdem Steffens 1823 in Breslau mit seiner ersten religiösen Schrift „Von der falschen Theologie und dem wahren Glauben80 in Streitigkeiten zwischen den von seinem Freund dem Theologen Johann Gottfried Scheibel angeführten Altlutheranern und den Unionisten, die in Preußen Luthertum und Reformation verbinden wollten, geraten war, setzte sich der preußische Kronprinz, der Steffens persönlich schätzte, für dessen Berufung nach Berlin ein, mit der zugleich auch ein Ende der Breslauer Religionsstreitigkeiten erreicht werden sollte.81 Am 8. Februar 1832 ← 30 | 31 → ging mit der offiziellen Berufung nach Berlin für Steffens ein langersehnter Traum in Erfüllung.82

Als Steffens zum Sommersemester 1832 an die Friedrich-Wilhelms-Universität kam, sollte es die letzte Station seiner Lehrtätigkeit an preußischen Universitäten sein. Abwechselnd trug er in den folgenden Jahren Anthropologie, Religionsphilosophie, Psychologie und Naturphilosophie vor, wobei er letztere wegen zu geringer Zuhörerzahlen in den späteren Jahren einstellte.83 Wie glücklich er darüber war, endlich in Berlin leben zu dürfen, geht aus einem Brief an den Altphilologen und Archäologen Karl Otfried Müller hervor: „Ich fühle mich hier, in meiner Stellung, sehr glücklich, wie es einem zu Muthe seyn muß, der aus einem langjährigen Exil entschlüpft ist.“84 Im Herbst 1834 wurde er zum Rektor der Universität gewählt, nachdem er sich bereits „als Professor in Breslau in der Führung des Rektorats würdig bewährt“85 hatte. Steffens selbst empfand diese Ehre als Bürde. Erleichtert berichtet er seinem Breslauer Verleger Josef Max im Herbst 1835, dass er das „störende Rektorat“ im Oktober niederlegen könne, welches ihm „gar keine müßige Stunde gelassen“86 habe.

Nach dem Tod des dänischen Königs Frederik VI. 1839 erhielt Steffens mit der Einladung zur Krönungsfeier Königs Christian VIII. eine besondere Auszeichnung, auf die Steffens sehr stolz war.87 Die Reise nach Dänemark verband Steffens mit der letzten Norwegenreise seines Lebens, die er wehmütig im letzten Band seiner Autobiographie in aller Ausführlichkeit schildert.88 ← 31 | 32 →

Die letzten Jahre seines Lebens widmete Steffens sich der Niederschrift seiner Lebenserinnerungen, mit denen er 1838 begonnen hatte.89 Im Herbst 1844 teilte er Max mit, dass er seine Memoiren nun abgeschlossen habe.90

Nach kurzer Krankheit starb er am 13. Februar 1845 in seiner Berliner Wohnung. Seine letzte Ruhestätte fand er auf dem Berliner Dreifaltigkeitsfriedhof.

3.   Forschungsstand

Henrich Steffens ist hauptsächlich als Naturphilosoph und Verfasser einer zehnbändigen Autobiographie91 bekannt. Diese Autobiographie bildet die Grundlage für die ersten, meist biographischen Studien zu Henrich Steffens und schien eine intensive wissenschaftliche Auseinandersetzung im 19. Jahrhundert überflüssig zu machen.92 Steffens zeichnet in seiner Autobiographie ein facettenreiches Bild seines Lebens, eingeordnet in die jeweiligen zeithistorischen Kontexte und unterstützt von vielen Erklärungen und Antworten bezüglich seiner Handlungen, wissenschaftlichen Veröffentlichungen und seiner Persönlichkeit.

Der Naturphilosoph Henrich Steffens blieb fast ein Jahrhundert im Schatten seiner Zeitgenossen und Freunde wie Friedrich Schleiermacher oder Friedrich Schelling. Dabei kann Steffens durchaus als eine „Zentralfigur der deutschen romantischen Naturphilosophie“93 gesehen werden, wie es Fritz Paul in seiner Studie über Steffens’ Naturphilosophie tat und damit erstmals eine wissenschaftliche Analyse von Steffens’ naturphilosophischen Schriften vorlegte. Pauls Schwerpunkt der Untersuchung von Steffens’ Naturphilosophie liegt auf deren Frühphase um 1800, so dass besonders dem Transfer der deutschen Naturphilosophie und Frühromantik durch Steffens nach Dänemark ein großes Gewicht zukommt. Steffens hatte einen großen Anteil an dem „Rezeptionsvorgang der Romantik in Däne ← 32 | 33 → mark“, da er es durch die Besonderheit seiner Ausbildung als Naturwissenschaftler verstand, einen naturwissenschaftlichen ästhetischen Ansatz in die bisherigen naturphilosophischen Leitgedanken einfließen zu lassen.94 Seine Rolle war die eines Wegbereiters, der besonders den dänischen Dichter Adam Oehlenschläger inspirierte und Steffens zu einer Hauptperson in der dänischen Literaturgeschichte werden ließ.95

Ebenfalls im 20. Jahrhundert erschien eine Reihe von Arbeiten in Skandinavien und Deutschland, die einige Teilaspekte aus Steffens’ Leben behandeln. Die erste disziplingeschichtliche Untersuchung legte 1908 OTTO TSCHIRCH vor.96 Ausgehend von Steffens’ Breslauer Kriegsaufruf 1813 rekonstruierte Tschirch die politischen Gedanken von Steffens seit 1808 und wagte sich als erster Wissenschaftler an die Interpretation von Steffens’ erster politischer Schrift „Über die Idee der Universitäten“ (1809). Tschirchs Fazit, dass Teile von Steffens’ „romantische[m] Evangelium“ bis Anfang des 20. Jahrhunderts nachwirkten, wenn es etwa um eine „Berechtigung der nationalen Eigenart“ geht, für deren Erlangung man „mit Blut und Eisen nicht sparen durfte“97, muss allerdings in ihrem zeithistorischen Kontext gelesen werden.

Weitere Abhandlungen folgten in Deutschland in den 1920er und 1930er Jahren durch MARTIN MEISSNER mit einer theologischen Arbeit zu Steffens als Religionsphilosoph98 sowie ELSE HUESMANNS Erörterung von Steffens’ Beziehungen zur deutschen Frühromantik.99 Huesmann zeigt die Entwicklung von Steffens’ Naturphilosophie` in ihren Anfangsjahren auf und weist auch treffend ← 33 | 34 → den Einfluss der deutschen Frühromantik auf Steffens nach. Meißners Darstellung ist zu großen Teilen eine paraphrasierte Diskussion der beiden umfangreichsten politischen Schriften Steffens’ “Die gegenwärtige Zeit und wie sie geworden mit besonderer Rücksicht auf Deutschland“ (1817) und „Die Caricaturen des Heiligsten“ (1819/21) und kann daher mit Recht als „belanglos“100 bezeichnet werden.

In den 30er Jahren wurde Steffens aber auch als Leitbild für nationalistisches Gedankengut instrumentalisiert und unter dem Titel „Volk in Flammen“101 ein Werk publiziert, das man bestenfalls als Trivialliteratur charakterisieren kann.

In den 1960er Jahren erschienen erneut zwei Publikationen, die ebenfalls religionsgeschichtlich und philosophisch ausgerichtet sind. So untersuchte INGETRAUT LUDOLPHY Henrich Steffens’ Verhältnis zu den Lutheranern102 und FRIEDMAR LÜKE die Darstellung der Geschichte bei Steffens.103 Lüke nimmt auf über 450 Seiten eine „Darstellung der Zeit- und Gegenwartsdiagnose bei Steffens“104 vor, für welche er dessen natur- und religionsphilosophischen Schriften sowie die beiden geschichtsphilosophischen Großwerke „Die gegenwärtige Zeit und wie sie geworden mit besonderer Rücksicht auf Deutschland“ und „Die Caricaturen des Heiligsten“ (1819/21) vorstellt und analysiert. Hierbei geht Lüke von einem Konzept eines „organisch gegliederten Ganzen“105 aus, welches Steffens nutzte, um neben der Naturgeschichte auch die Menschheitsgeschichte erklären zu können. Ähnlich wie Werner Abelein ein Jahrzehnt später, legt Lüke eine detailreiche Zusammenfassung der beiden umfangreichsten Schriften von Steffens vor, und benutzt ebenfalls dessen naturphilosophischen Hintergrund, um herauszuarbeiten, wie Steffens die Geschichte seiner Zeit begriff. Lüke kommt zu dem Schluss, dass sich Steffens aufgrund seiner vielfältigen wissenschaftlichen Interessensfelder selbst im Weg gestanden habe, um bis in die heutige Zeit keinen festen Platz unter den deutschen Philosophen seiner Zeit einzunehmen. ← 34 | 35 →

Unverständlich ist, weshalb WERNER ABELEIN Lükes Schrift nicht zur Kenntnis genommen hat. Zwar setzte sich Abelein in seiner Publikation „Henrik Steffens’ politische Schriften“ als Ziel, das politische Denken Steffens’ im Wandel der Zeit zu erforschen, doch bietet er durch seinen ideengeschichtlichen Ansatz letztlich eine ausführliche vergleichende Interpretation und inhaltliche Zusammenfassung der beiden politischen Schriften „Die gegenwärtige Zeit und wie sie geworden mit besonderer Rücksicht auf Deutschland“ (1817) und „Die Caricaturen des Heiligsten“ (1819/1821). Methodisch entschied auch er sich, die naturphilosophische Herkunft Steffens’ als Interpretationskriterium zu verwenden und erklärt das politische Interesse Steffens’ aus einem Umschwung in dessen naturphilosophischem Denken. Hierbei beurteilt er Steffens’ politisches Handeln ausschließlich vor dem Hintergrund von dessen naturphilosophischem „Recht einer ursprünglichen Persönlichkeit“106, wodurch der zeithistorische Kontext und Steffens’ Zeitgenossen als mögliche weitere oder ausschließliche Ursachen für dessen Handeln in den Hintergrund rücken. Steffens wird bei Abelein als Philosoph, der sich zu politischen Themen äußert, nicht aber als politischer Akteur wahrgenommen.

Details

Seiten
414
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653068061
ISBN (ePUB)
9783653955552
ISBN (MOBI)
9783653955545
ISBN (Paperback)
9783631668962
DOI
10.3726/978-3-653-06806-1
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (April)
Schlagworte
Turnbewegung Breslauer Turnfehde Kotzebues Ermordung Staatsbürgerdebatte
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 414 S., 5 s/w Abb.

Biographische Angaben

Marit Bergner (Autor:in)

Marit Bergner studierte Geschichte, Politikwissenschaften und Skandinavistik an der Freien Universität Berlin sowie der Humboldt-Universität zu Berlin und der Universitetet i Bergen (Norwegen). Ihre Forschungsschwerpunkte sind Nationalismusgeschichte, Mentalitätsgeschichte und die Geschichte Nordeuropas im 19. und 20. Jahrhundert.

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Titel: Henrich Steffens
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