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Tödliche Maskeraden

Julius Streicher und die «Lösung der Judenfrage»

von Franco Ruault (Autor:in)
©2009 Monographie 414 Seiten

Zusammenfassung

Für Adolf Hitler war er der Inbegriff des Nationalsozialismus. Heinrich Himmler kopierte seine Verfolgungspraktiken gegen Juden und andere Deutsche. Und die «Deutsche Volksgemeinschaft» erkannte sich in ihm wie in einem Spiegelbild: Julius Streicher, der berüchtigte Herausgeber der Hetzzeitschrift Der Stürmer war der bedeutendste Schrittmacher der deutschen Judenverfolgung lange vor der Machtergreifung. Er schuf das Feindbild des «jüdischen Rassenschänders», gründete die einflussreichste NS-Hetzzeitschrift und forcierte maßgeblich die «Nürnberger Blutschutzgesetze». Wie ist es dabei zu erklären, dass das Leben und Wirken dieses Intimfreundes von Adolf Hitler bis heute selbst in Fachkreisen fast gänzlich unbekannt ist? Warum sträubt sich die Forschung bis heute gegen die Aufarbeitung des enormen Erfolges dieses «Berufsantisemiten»? Und welcher Art war die von ihm ausgehende Faszination, dass selbst Unternehmerpersönlichkeiten wie Martin Hilti aus dem Fürstentum Liechtenstein in ihren Jugendjahren glühende Verehrer von Julius Streicher waren, diesen in ihrem Kampf gegen «Rassenschande» kopierten und ebenso bedingungslos die Vernichtung der jüdischen Rasse fordern konnten? Nach seiner grundlegenden Studie «Neuschöpfer des deutschen Volkes» – Julius Streicher im Kampf gegen «Rassenschande» analysiert der Politikwissenschafter Franco Ruault in seiner neuesten Arbeit ein weiteres tabuisiertes Kapitel der NS-Entstehungs- und Wirkungsgeschichte: das Leben und Wirken von Julius Streicher im Kontext der «Lösung der Judenfrage».

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Vorwort
  • 1. Einleitung
  • 2. Der Masken-Bildner
  • 3. Der ‹Natur›-Patriarch
  • 3.1 Das Unbehagen im Zwischenreich
  • 3.2 Kampf um «Lebensraum»
  • 3.3 Die «Verkörperung des Natürlichen»
  • 4. Die «Lösung der Judenfrage»
  • 5. Das Feindbild
  • 5.1 Die Grundlagen
  • 5.2 Die Ambivalenz
  • 5.2.1 Der Anti-Körper
  • 5.2.2 Der Doppelgänger
  • 6. «Deutsche Volksgemeinschaften»
  • 6.1 Der Massen — «Attraktor»
  • 6.2 «Stürmer» — Massen
  • 7. Tödliche Maskeraden: Rituale zum Totlachen
  • 8. Ausblick
  • 9. Anmerkungen
  • 10. Quellen- und Literaturhinweise
  • Danksagung

1.Einleitung

Der «jüdische Rassenschänder» zählt zu den populärsten Feindbildern der nationalsozialistischen Rassenvorstellungen. Die Popularisierung dieses Feindbildes ist vor allem das Werk von Julius Streicher, dem berüchtigten Herausgeber der Hetzzeitschrift «Der Stürmer». Dieses Feindbild verkörpert, so die These, sehr viel mehr, als das Werk eines radikalisierten Nationalsozialisten mit dem Anspruch auf eine Erlösung der Menschheit vom Juden. Denn das Feindbild, welches diesem Anspruch zugrunde lag, soll weniger als das hinterhältige Werk eines hasserfüllten Nationalsozialisten, sondern vielmehr als Feind-Bild erkannt werden, in welchem sich die komplexen Entwicklungstendenzen nicht nur der Zeit seiner Popularisierung spiegeln, sondern, so die These, der patriarchalen Gesellschaftsform verpflichtet bleiben, die seinerzeit in ihren Grundfesten bedroht war.

Dieses Feind-Bild bleibt also dadurch charakterisiert, dass es uns etwas sehen lässt, indem es einen Grund-Konflikt jener Zeit ins Bild bringt. Dadurch ist das Feindbild des «jüdischen Rassenschänders» als Paradigma einer Ein-Bildung in einem ausgezeichneten Sinne zu verstehen: nicht nur Ausgeburt einer Fantasie und Illusion, sondern Ein-Bildung, die erblickbare Einschlüsse bietet – nicht des Fremden in den Anblick des scheinbar Vertrauten, sondern umgekehrt: des allzu Vertrauten in den Anblick des scheinbar Fremden, des Juden als Patriarchen. Denn dieses historisch einzigartige Feindbild geriet zu einer zentralen Grenzfigur an einer epochalen Umbruchschwelle. Damit zeichnet sich ab, dass eine Analyse jener Politik der «Judenfrage», wie sie Julius Streicher inszenierte, dramatisierte und schließlich ritualisierte, in erster Linie auf einer Analyse jener Gesellschaftsform basiert, in welcher diese Politik einzig Fuß fassen konnte: des Patriarchats.

Julius Streicher war der Inbegriff eines Mannes, der patriarchal dachte, fühlte und handelte, aber paradoxerweise kein gestandener Patriarch mehr war; es könnte sein, dass es dieser Zustand war, welcher ihn seiner Generation so vertraut gemacht hatte. Vielleicht erhielt hieraus die Art seiner Judenfeindschaft, welche als Maskerade charakterisiert werden kann, ihren spezifischen Charakter; das von ihm popularisierte antijüdische Feindbild, welches von grundlegenden Ambivalenzen durchzogen blieb, würde diese These stützen. Bevor wir jedoch auf die Art der Maskerade Streichers eingehen möchten, werden wir eine Grund legende Betrachtung vornehmen.

Bereits die Tatsache, dass die gesellschaftliche Verfasstheit des Patriarchats – entgegen der allgemein verbreiteten Auffassung eine historische und keineswegs eine ← 13 | 14 → ‹natürlich› Gewachsene ist, das bedeutet, eine Gesellschaftsform verkörpert, welche unter ganz bestimmten historischen Bedingungen nicht entstanden, sondern gewaltsam durchgesetzt werden musste, wird von zahlreichen Forschungsrichtungen nicht nur nicht zur Kenntnis genommen, sondern schlichtweg in Abrede gestellt.1 Dabei lassen sich nach wie vor weltweit Reste von Gesellschaftsformen finden, welche deutlich belegen, dass die menschliche Geschichte keineswegs ihre ‹natürliche› Vergesellschaftung im Patriarchat findet. Aus der Tatsache, dass dieses Konzept einer Gegen-Gesellschaft historisch auf die uns bekannte Weise in Erscheinung tritt, lässt sich folgern, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Das Patriarchat stellt in erster Linie nicht nur eine Umkehrung ‹natürlicher› Lebensformen dar, sondern lässt die Ausbildung eines umfassenden Systems der Kriegsführung gegen eben jene ‹natürlichen› Lebenszusammenhänge erkennen. Diese ‹Natürlichkeit› der Lebensformen wird dadurch bezeichnet, dass das menschliche Leben den Müttern entstammt, und kann nicht weiter transzendiert oder in Abrede gestellt werden. Wir sind gegenwärtig an einem historischen Umbruchpunkt angelangt, an welchem der maßlose Anspruch des Patriarchats als Gesellschaftssystem nach Universalität, ein Anspruch, der durch seine gewaltsam betriebene globale Durchsetzung durch den Kolonialisierungsprozess forciert wurde, verwechselt wird mit einer vermeintlichen Natürlichkeit. Dabei wird das Patriarchat mit dem zunehmenden Ausmaß seiner Ausbreitung nicht natürlicher, sondern lässt vielmehr seinen eigentlichen kriegerischen Charakter als System erkennen. Krieg wird dabei verstanden nicht als bewaffnetes Scharmützel zwischen Angehörigen verschiedener Gruppen, sondern Krieg wird verstanden als Grundlage, als Matrix und als System aller sozialen Beziehungen. Kaum jemand würde in Abrede stellen, dass eine mehr oder weniger bewaffnete Auseinandersetzung grundsätzlich in allen Gesellschaftsformen möglich ist. Den Krieg allerdings als Matrix für den Umgang mit weiblicher Schaffenskraft und darauf aufbauend für alle sozialen Beziehungen zu installieren, dies bedeutet einen markanten historischen Bruch in der Geschichte der Menschheit; eine epochale Wende, die sich mit der Konstitution der ersten Patriarchate ankündigt.2 Dieser Krieg als System bleibt jedoch nicht Selbstzweck, gewissermaßen eine sinnlose Gewaltanwendung. Diese Art des Kriegssystems bleibt fortan gegen etwas gerichtet, was hier mit dem Überbegriff der Kultur der Göttin bezeichnet werden soll. Gesellschaftlicher Ausdruck dieser Kultur der Göttin sind die mütterlichen Clangesellschaften, die Matriarchate, welche verstreut und als Reste in allen Teilen der Erde nach wie vor aufgefunden werden können.3 So lässt sich das Patriarchat vorerst als Gegen-Entwurf zur matriarchalen gesellschaftlichen Verfassung erken ← 14 | 15 →nen. Dabei soll es jedoch nicht bleiben, denn in entschiedener Weise lässt sich im Patriarchat der Impuls erkennen, weibliche Schaffenskraft abzuwerten, um die vermeintliche Unzulänglichkeit und Unverlässlichkeit der Mütter zu ‹verbessern›, um die matriarchale Lebenseise überwinden zu können. Im Gegensatz soll hierzu die Utopie einer Gesellschaftsform forciert werden, welche die Mütter idealerweise einmal überflüssig machen würde. Die Radikalität dieses Bruches, die praktische und symbolische Gewalt, welche damit historisch in den Natur-, Glaubens- und Gesellschaftsauffassungen, basierend auf einer markanten Umstrukturierung der Geschlechterbeziehungen auftaucht, lässt sich daraus erklären, dass das Patriarchat nicht von sich aus, das bedeutet ohne eine dauerhafte Anwendung von Gewalt errichtet und fortbestehen kann.

Die Installation dieser patriarchalen Gegen-Gesellschaft kann ihrem Anspruch nach nicht friedfertig erfolgen. Es gibt keinen Friedenszustand im Patriarchat, zumal die Grundlage des Patriarchats in der Behauptung eines Gegen-Ursprungs besteht, der gewaltsam durchgesetzt und technologisch realisiert werden soll. Die Proklamation eines Gegen-Ursprungs bezeichnet im Wesentlichen den Kern einer patriarchalen Gesellschaftsauffassung: nämlich dass das Leben im Gegensatz zum menschlichen Erfahrungshorizont nicht aus den Müttern, sondern aus den Vätern hervorgehen würde. Diese Auffassung konnte jedoch nur durch den Einsatz eines Höchstmasses an Gewalt durchgesetzt werden. Denn sie musste mit Auffassungen brechen, welche Jahrtausende älter waren und ihre Verehrung der Göttin zukommen ließen. Das Leben entstammt der Göttin: die Lebens- und Schaffenskraft der Frauen lässt es täglich deutlich werden. Eine Frau, die in mütterlicher Weise Leben schenkt, verkörpert dabei die Lebenskraft der Göttin, das heißt, ihre Mütterlichkeit wurde und wird nach wie vor in Matriarchaten nicht isoliert betrachtet. Matriarchat bedeutet am Anfang die Mütter, was heisst, dass – entsprechend zur wahrnehmbaren Realität – das Leben den Müttern entstammt. Matriarchale gesellschaftliche Verfasstheiten zeichnet eine Übereinkunft darüber aus, dass alles Leben den Müttern entstammt und dass die gesellschaftliche Organisation auf dieser Grundtatsache aufgebaut werden soll. Ein Bruch mit diesen Auffassungen konnte also nur als Frevel verstanden und damit gewalttätig durchgesetzt werden. Dies liegt in erster Linie darin begründet, dass das Patriarchat als Grundlage und zur Voraussetzung ein fragiles Netz von Herrschaftsbeziehungen benötigt, welches immer wieder reproduziert werden muss.

Wie Marija GIMBUTAS aufzeigt,4 lassen sich erste Tendenzen zur Patriarchalisierung in einem bestimmten historischen Zeitpunkt durch Kriege, Eroberungen und Kolonisationen lokalisieren; darauf folgend bilden weitere sekundäre Patriar ← 15 | 16 → chalisierungsschübe im Innern der nun unterworfenen Gesellschaften die Fortsetzung jenes Prozesses. Das Patriarchat beginnt daher nicht nur mit dem Krieg, so die These, sondern übernimmt den Krieg auch als Modell für die Nach- oder Nicht-Kriegszeit. Der Krieg wirkt, wie Claudia VON WERLHOF(2006) bemerkt, als fortgesetzte Gründungsgewalt des Patriarchats: «Die gesellschaftlichen Verhältnisse im Patriarchat orientieren sich am Krieg und sind ihm nachgebildet».5 Diese sozialtheoretisch und politikwissenschaftlich erweiterte Perspektive macht die gesellschaftlichen Verhältnisse im Patriarchat erst wirklich angemessen versteh- und in ihrem Zusammenhang angemessen analysierbar. Woran orientieren sich die Mechanismen dieser Kriegsführung? Und wie funktioniert und wie legitimiert sich dieses Kriegssystem?

Das Patriarchat ist nach Claudia VON WERLHOF «zu verstehen als ein sich ausbreitender und vertiefender Prozess, der zu einem System tendiert, aber nicht abgeschlossen ist und im Prinzip auch nicht werden kann».6 Dies steht im Gegensatz zu einer Auffassung, welche im Patriarchat nur eine ‹Vater-Herrschaft› erkennen will und diese – zumindest im westlichen Kulturkreis – historisch gar für überwunden glaubt. Eine Periodisierung der Entstehungsbedingungen des Patriarchats bietet jedoch die Möglichkeit, dem Grund des Herrschen-Wollens im Prozess der Patriarchalisierung auf die Spur zu kommen. Dieser Prozess, dessen globale Tendenz uns den Blick für das Vorhandensein gesellschaftlicher Alteritäten verstellen und uns glauben machen möchte, das Patriarchat wäre die einzig mögliche, ‹natürliche› menschliche Vergesellschaftung, lässt dabei spezifische Grundprinzipien und Funktionsweisen erkennen, welche nach wie vor unvermindert im Spiel sind, ja zur Aufrechterhaltung des Patriarchats im Spiel sein müssen. Die Aufrichtung patriarchaler Herrschaftsformen, wie sie für unseren westlichen Kulturkreis bestimmend geworden waren,7 lässt deutlich werden, dass sich die Grundprinzipien und Funktionsweisen der Patriarchalisierung auf einen historischen Bruch mit einer bis dahin gültigen, wesentlich älteren Ordnung stützen. Dieser historisch markante Bruch, welchem ein gesellschaftlicher Umbruch folgt, fokussiert sich in der historisch völlig neuartigen und im interkulturellen Vergleich völlig unsinnigen ‹Beantwortung› der Grundfrage einer jeden menschlichen Gemeinschaft: Woraus geht das Leben hervor?

Mit der Institutionalisierung des Patriarchats treten damit die ersten Theorien über die Zeugung als Er-Zeugung auf den Plan; Theorien mit dem Ziel der Enträtselung und Okkupation weiblicher Generativität, welche fortan plausibel machen sollen, dass das Leben angeblich von den Männern geschaffen wird und daraus noch zu begründen versuchen, dass eben darum einem ebenso abstrakten ← 16 | 17 → wie utopischen Prinzip, welches nun als ‹männlich› kodiert wird, die Herrschaft über dessen Geschaffenes als Erzeugtes zustehen würde.8 Wird die Frage nach dem Grund dieses Herrschen-Wollens aufgeworfen, so lässt sich erkennen, dass die damit proklamierte Herrschaft keinesfalls per se als männliches Bedürfnis gedeutet werden kann. Dies wird durch das Vorhandensein einer Vielzahl von Gesellschaftsformen widerlegt, in welchen Männer es nach wie vor bewusst ablehnen, jemals Frauen abzuwerten, um in der Folge Herrschaft über sie auszuüben und darüber hinaus diese gar ersetzen zu wollen.9 Die utopischen Ansprüche des Patriarchats beschränken sich zudem keineswegs auf eine Form von Herrschaft als Unterdrückung, sondern lassen als visionäre Grundlage bestimmte Enteignungs-, Ersetzungs- und Usurpationsstrategien erkennen, deren strategische Absicht es nur sein kann, den mütterlichen Ursprung des Lebens für sich zu reklamieren.10 Das Ziel wäre dann eine von den Müttern losgelöste, technologisch realisierte Neuschöpfung des Menschen; eine nie zu realisierende Utopie, die sich aus diesem Grunde immer eifriger unter den Ansprüchen der ‹Verbesserung› zu verwirklichen versucht. Der Prozess der Verwirklichung dieser Utopie, der Realisierung des offenkundig Unrealisierbaren, lässt sich jedoch nur in Kategorien einer Kriegsführung beschreiben.

Die historische Basis für diesen Anspruch nach Transformation durch Kriegsführung bilden Wortschöpfungen, Wortbedeutungen, welche diesem Anspruch einen Anschein von Natürlichkeit verleihen sollten. Die kriegerischen Impulse fokussieren sich insbesondere im Begriff des ‹Pater›, des ‹Vaters›, dem Grund-Begriff des Patriarchats. Dieser Begriff setzt sich aus den beiden Begriffen pater und arché zusammen. Während wir für den Begriff pater eine scheinbar klar umrissene Vorstellung zu haben glauben, lässt die Bezeichnung arché eine grundsätzliche Ambivalenz erkennen: Arché wird heute gemeinhin mit Herrschaft übersetzt. Seine ursprüngliche und seinem Wesensgehalt näher kommende Bedeutung klingt jedoch in weiteren Bedeutungsinhalten an. So bezeichnet arché auch ‹Ursprung›, ‹Beginn›, ‹Anfang›, aber auch unmittelbar ‹Gebärmutter›. Der Begriff Patriarchat würde damit eine Gesellschaftsform bezeichnen, in welcher ‹am Anfang die Väter›, oder, gar völlig konträr zur Realität, ‹Väter mit Gebärmutter› stehen würden. Dieser scheinbare Widerspruch lässt sich erklären, wenn die Wortbedeutung von «Pater» untersucht und dazu in Beziehung gesetzt wird.

Die Begriffs- und Bedeutungsgeschichte von «Pater», also Vater, bezeichnet ein Rollenverständnis, welches nicht aus der sinnlich wahrnehmbaren Realität entstanden sein kann. Denn der Begriff Vater «entstammt nicht Lallsilben der Kindersprache. Für lallende Kinder ist diese Art Vater aber gar nicht wesentlich da».11 ← 17 | 18 → Pater ist ein Begriff «aus der rechtlichen Ordnung» der aufzeigt, dass der Vaterbegriff «einen politischen Schwerpunkt, einen Kern von Macht hat, der sein eigentliches Wesen ausmacht».12 So ist es nicht die Biologie, sondern die Kultur, die Väter mit ihren Kindern an einen Tisch bringt, wie Jürgen GRIESER(1998) betont: «Die Vaterschaft im kulturellen Sinn basiert nicht auf einer natürlichen Gegebenheit, sondern sie ist Ausdruck der symbolischen Regeln der Kultur», einer Kultur des Patriarchats wie zu ergänzen ist.13 Eben diese herrschaftliche Politik des Patriarchats sorgt mit der Einsetzung eines Vaters, seiner Inthronisierung im gesellschaftlichen Kontext dafür, dass die Mutter-Kind-Gemeinschaft zu einer sozialen Gruppe aufgebrochen wird, welche fortan durch den Vater nicht einfach nur erweitert, sondern hierarchisch strukturiert ist. Der pater familias bleibt, wie die römische Rechtsordnung verkündet, seiner Ehefrau und seinen Kindern übergeordnet, ja entscheidet sogar über deren Recht über Leben und Tod.

Ein Blick auf andere Kulturräume macht deutlich, «dass das in unserer Kultur typische Modell, in dem zum Begriff Vater primär der biologische Vater assoziiert wird, nur eines unter vielen verschiedenen ist».14 Dass diese Installation eines herrschaftlich strukturierten Vaters eine historische, das heißt, auf die gesellschaftliche Verfasstheit des Patriarchats beschränkte Erscheinung darstellt, lässt sich daran erkennen, dass Gesellschaftsformationen, welche nicht patriarchal strukturiert sind, auch den Begriff «Vater» als Institution nicht anerkennen. Wenngleich auch die biologischen Zusammenhänge bekannt sind, so erhalten sie in nicht patriarchal strukturierten Gesellschaftsformen, wie den matriarchalen Clangesellschaften keine politische Relevanz.15

Im Patriarchat, in welchem, um erneut auf die Wortbedeutung zurückzukommen, die Behauptung aufgestellt wird, am Anfang wären Väter, «Väter mit Gebärmüttern», wird fortan der Versuch unternommen, den Beweis dafür zu erbringen, dass aus den Vätern das Leben entstehen würde. Dass jenes, angeblich durch die Väter geschaffene Leben ‹besser› sei als das vorhandene, aus den Müttern Entstammende, und dass künftig Väter gar ohne Mütter imstande wären, ‹besseres›, ‹gesünderes› und ‹höherwertiges› Leben entstehen zu lassen. Um diese utopischen Ansprüche realisieren und damit gesellschaftlich durchsetzen zu können, installiert sich ein allgegenwärtiges Kriegssystem, welches als Gegenentwurf zu den mütterlichen Clangesellschaften die Patriarchalisierung der Gemeinschaft forcieren soll. Das System der fortschreitenden Patriarchalisierung bezeichnet damit eine historische Enteignungs- und Ersetzungsstrategie, deren utopischer Anspruch die Idee der Verwirklichung einer mutterlosen Gesellschaft bleibt: Eine Gesellschaft, in welcher nicht nur das bereits entstandene Leben, sondern die Lebensentstehung ← 18 | 19 → selber unter Kontrolle der ‹Väter› als ‹besserer› Mütter steht. Dieser utopische Anspruch ist nur durch die ständig von neuem unternommene Unterwerfung der Frauen, dem Kampf gegen eine vermeintlich feindlich gesinnte Natur, das Vorhandensein matriarchaler Restformen der unterworfenen Gesellschaften, letztlich gar gegen die Realität durchzusetzen. Aus diesem Grund erfolgte eine Um- und Abwertung der Göttin zur Nähr-Mutter, zur Amme, welche das Leben, nun gestiftet von einem angeblich göttlichen männlichen Samen, angeblich nur austragen, hegen und pflegen würde. Auf Basis dieser Abwertung der Göttin zum Weib, welchem die Schlechtigkeit der Welt entstammen würde, wird nun aber die Grundlage dafür geschaffen, dass der Eros der Frauen zur Sexualität umgedeutet und einem gesellschaftlichen Kontrollsystem untergeordnet wird.16 Damit wird deutlich, dass es einen Friedenszustand im Patriarchat per definitionem nicht geben kann, nicht nach innen und nicht nach außen. Die allgegenwärtige Kriegsführung im Innern, erst gegen die Frauen, gegen deren Anteil an der Göttlichkeit, dann gegen die Subsistenzproduktion matriarchaler Clangesellschaften zum Zwecke der Aneignung erst von Frauen, dann von Gütern und Kapital. Und schließlich im Äußern gegen Konkurrenten im patriarchalen Eroberungsfeldzug.

Gerda LERNER(1991) und Carola MEIER-SEETHALER(1988) konnten überzeugend nachweisen, dass in den Zeiträumen der Installierung von Patriarchaten die herrschaftliche Verfügung über die Reproduktionskraft von Frauen den Ausgangspunkt für die Ausdifferenzierung in soziale Klassen bildet. Das Patriarchat bezeichnet eine herrschaftlich organisierte Gesellschaftsform, eine Gesellschaft des Staates, die die Unterwerfung ihrer Frauen zur Grundvoraussetzung hat.17 Diese Form der Gewaltanwendung, die Installation patriarchaler Verhältnisse also, kann nicht als ‹natürliche Entwicklung›, als ‹natürliches› und ‹gewachsenes› Phänomen in der Menschheitsgeschichte bezeichnet werden. Nichts ist weniger ‹natürlich› als das Patriarchat, darum musste diese epochale Wende, dieser markante Umbruchpunkt in der Geschichte der Menschheit tief reichende Risse im Gesellschaftsgefüge hinterlassen. In ihrer Rekonstruktion der Begriffsgeschichte von ‹Pater› weist Claudia VON WERLHOF nach, dass jene sich dabei ergebende Ordnung der Wunden sich im Begriff «Pater» reflektiert.18 Der Bedeutungsgehalt von «Pater» erschöpft sich demnach nicht in der Proklamation einer biologischen Vaterschaft und einer daraus abgeleiteten Herrschaftsposition. «Väter» verkörpern nun die zentrale Institution herrschaftlicher Verfügungsgewalt und verstehen sich zwar fortan als die Herrscher über die von ihnen eroberten Gebiete, den ‹Paradiesgärten›, welche sie zu ihrem physischen wie metaphysischen Reich umgewertet ← 19 | 20 → haben; sie sind es jedoch nur Kraft der Behauptung, dass sie die Schöpfer des Lebens und dadurch in gewisser Weise auch Mütter wären. Die Väter sind es nun, welche angeblich das Wissen über die Zusammenhänge und die Geheimnisse der Lebensentstehung besitzen würden, ein Wissen, welches, wie oft genug betont wird, nicht immer schon in ihrem Besitz gewesen war, sondern geraubt werden musste. Dieser vermeintlich ‹bewilligte› Raub basierte auf der Um- und Abwertung der Göttin zur mütterlichen Amme, zu einer ‹getöteten› Mutter, einer «Totenbraut».19 Neben einer Neuordnung der Genealogie, vom mütterlichen zu einem abstrakten ‹väterlichen› Prinzip, werden nun neue Paarmodelle, neue Begegnungsformen der Geschlechter ins Spiel gebracht: Nicht mehr die Göttin und ihr Heros überwinden im Ritus der Heiligen Hochzeit Tod und Sterblichkeit, sondern fortan tritt ein Bezwinger der Göttin ins Spiel, ein «Held», der sich die Göttin durch Raub aneignet und so zu ihrem Herrn wurde. Dieser ‹Held› figuriert dabei als Doppelgemahl, physisch als Ehemann, der sich auf eine metaphysische Gottesposition beruft, der den Raub der Göttin und ihrer Lebenskraft angeblich bewilligt hätte.20 Die einstige Göttin tritt fortan als Geraubte und als «Totenbraut» in Erscheinung, als Vertreterin einer Weiblichkeit, der angeblich nur noch alles Übel der Welt entstammt, und die unter Kontrolle gehalten werden soll. Weiblichkeit wird so zum Inbegriff des Schlechten stilisiert, ein Prinzip, welches überwunden werden müsse, um die Menschen erlösen zu können. Diese Um- und Abwertung der Göttin und damit der Generativität des Weiblichen überhaupt, zieht eine Reihe von Implikationen mit sich. Wir können diese insbesondere an drei markanten Strukturmerkmalen erkennen:

Details

Seiten
414
Jahr
2009
ISBN (PDF)
9783653060645
ISBN (ePUB)
9783653949957
ISBN (MOBI)
9783653949940
ISBN (Paperback)
9783631551745
DOI
10.3726/978-3-653-06064-5
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Juni)
Schlagworte
Judenverfolgung Rassenpolitik Nationalsozialismus Rassenschande Antisemitismus
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2009. 414 S., zahlr. Abb.

Biographische Angaben

Franco Ruault (Autor:in)

Der Autor: Franco Ruault, Mag.phil, Dr.phil., geboren 1969 in Hohenems (Österreich); Studium der Politikwissenschaft, Zeitgeschichte und Medienforschung an der Universität Innsbruck; Forschungsschwerpunkte: Sexualisierte Gewaltformen im Nationalsozialismus und NS-Pressegeschichte.

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