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Die Neue Türkei

Eine grundlegende Einführung in die Innen- und Außenpolitik unter Recep Tayyip Erdoğan

von Yunus Yoldaş (Band-Herausgeber:in) Burak Gümüș (Band-Herausgeber:in) Wolfgang Gieler (Band-Herausgeber:in)
©2015 Sammelband 425 Seiten

Zusammenfassung

Dieser Sammelband bietet einen umfassenden Einblick in das Wesen der «Neuen Türkei». Die seit 2002 ununterbrochen regierende moderat-islam(ist)ische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung und ihr damaliger Anführer und heutiger Staatspräsident Erdoğan haben den innen- und außenpolitischen Wandel der Türkei vorangetrieben und selbstbewusst die «Neue Türkei» proklamiert. Allerdings weicht die anfängliche Euphorie der Ernüchterung. Der EU-Beitrittsprozess steckt fest, während Vorwürfe über autoritäre Tendenzen, Korruption, Einmischung in die Privatsphäre, Reislamisierung der Innen- und Außenpolitik lauter werden. Experten aus Deutschland und der Türkei liefern in diesem Sammelband kritische Einblicke in die Innen- und Außenpolitik des sich im Umbau befindlichen Landes und erläutern sowohl Errungenschaften als auch Probleme der türkischen Transformationsgesellschaft.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • Auftakt zur Neuen Türkei
  • I. Innenpolitische Perspektiven der Neuen Türkei
  • Die neue Türkei: Ergebnisse der Parlamentwahl 2015
  • Autoritäre Tendenzen in der AKP-Politik
  • Die Entkemalisierung der Türkei durch die AKP
  • Regimewechseldebatten: Präsidialsystem
  • Debatten über Verfassungsänderung in der „Neuen Türkei“ politische und rechtliche Institutionen“
  • Die neue Führung der Türkei unter Recep Tayyip Erdoğan. Die Präsidentenwahl am 10. August 2014
  • Zur führungscharismatischen Inszenierung des „Großen Meisters“ – Recep Tayyip Erdoğan und sein Charisma
  • Minderheiten in der Türkei – Eine kritische Bestandsaufnahme
  • II. Außenpolitische Perspektiven der Neuen Türkei
  • Neue außenpolitische Herausforderungen und die Rolle der Neuen Türkei
  • Aufstieg und Fall der Türkei im Nahen Osten
  • Die türkisch-amerikanischen Beziehungen vor neuen Herausforderungen: Die Außenpolitik der AKP-Regierung und der Krieg in Syrien
  • Die Afrikapolitik der Neuen Türkei
  • Die Beziehungen der Neuen Türkei zu den Turk-Republiken
  • Die Neue Türkei auf dem Weg nach Europa?
  • Die neue Diasporapolitik der neuen Türkei
  • AKP als neuer Akteur in der türkeistämmigen transnationalen Diaspora in Deutschland: Spielräume und Grenzen ihrer Mobilisierungsmöglichkeiten
  • Transnationale Migration zwischen Deutschland und der Neuen Türkei
  • Über die Autorinnen und Autoren

Vorwort

Seit ihrer Staatsgründung im Jahre 1923 hat die Türkei einen Modernisierungsprozess durchschritten, der ihre Gesellschaft, Wirtschaft und Politik tiefgreifend verändert hat. Nicht nur wegen ihrer geopolitischen und strategischen Position, sondern auch wegen ihrer blühenden Wirtschaft in der letzten Dekade, so dass ihr noch mehr großes Interesse zukommt. Spektakuläre, visionäre und zukunftsweisende gigantische Bauprojekte wie der geplante 45 km lange Istanbuler Kanal nordwestlich des Bosporus, die dritte Bosporus-Brücke und der dritte internationale Flughafen prägen, wie die sich seit dem letzten Jahrzehnt sich in den Himmel erstreckenden unzähligen Wolkenkratzer, das (Selbst-)Bild der sich unter Staatschef Erdoğan ihren Möglichkeiten wieder gewahr gewordenen engagierten und sich mit ihrer osmanischen Vergangenheit im Klaren befindlichen Neuen Türkei, mit der die EU Beitrittsverhandlungen begonnen hat.

Das Bild des Landes zwischen Europa und Asien, das sich zwischen der arabisch- islamischen Welt und dem Westen als selbstbewusster Vermittler betätigen und innenpolitische Freiheiten für Unternehmer und Muslime sowie Minderheiten werden wollte, beginnt sich allerdings negativ zu wandeln. Die anfängliche Euphorie weicht der Ernüchterung und der Beitrittsprozess steckt seit Jahren fest, während Vorwürfe über autoritäre Tendenzen, Einmischung in die individuelle Privatsphäre von Bürgern, Reislamisierung der Innen- und Außenpolitik lauter werden und das polizeiliche Vorgehen bei den landesweiten Gezi-Proteste sowie die halbherzige Intervention gegen die glaubensfanatische Terrormiliz Islamischer Staat Ankara regional und international zunehmend isolieren. Zahlreiche deutsche und deutsch-türkische sowie türkische Politikexperten liefern in diesem Sammelband Einblicke in die Innen- und Außenpolitik des sich im Wandel befindlichen Landes und erläutern sowohl Errungenschaften und Probleme der Transformationsgesellschaft.

Hüseyin Bağcı, Ankara
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Yunus Yoldaş, Burak Gümüş und Wolfgang Gieler

Auftakt zur Neuen Türkei

Anläßlich Erdoğans Veröffentlichung seiner Agenda 2023 zum 100-jährigen Jubiläum der Gründung der türkischen Republik, wurde der Begriff „neue Türkei“ zur Abgrenzung von der kemalistischen Sichtweise der „alten Türkei“ verwendet. Mit diesem Begriff hat der Staatspräsident Erdoğan bezweckt, die Türkei als eine neue und selbstbewusste Regionalmacht in Europa zu präsentieren.

Die Parlamentswahlen vom 7. Juni 2015 warteten mit einigen Neuigkeiten auf. Zwar ging die seit ihrem Regierungsantritt in 2002 ununterbrochen allein regierende ehemalige Partei Erdoğans wieder mal als stärkste Kraft hervor. Sie verfehlte aber nicht nur die für die Verfassungsänderung in eine autoritäre Präsidialrepublik „alla Turca“ notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit, sondern auch die für eine zur Ausrufung einer Volksabstimmung zur Einführung eines das Staatsoberhaupt mit weitreichenden Machtbefugnissen ausstattenden Präsidialsystems nötige Drei-Fünftel-Mehrheit. Erstmalig verfehlte die AKP die absolute und somit die Regierungsmehrheit und muss sich einen oder zwei Koalitionspartner unter den Oppositionsparteien suchen, gegen die sie beim polarisierten Wahlkampf gewettert hatte, in dem Präsident Erdoğan unter Missachtung der verfassungsmäßigen Neutralitätsgebots für seine ehemalige Partei geworben und dabei eine kontrollierte Polarisierung zur Mobilisierung von Wählerstimmen betrieben hatte.

Somit erteilten die Wähler eine Absage für den Umbau der bisherigen Staatsform und gegen die autoritären Tendenzen des sich allmählich in der Entstehung befindenden und Regierungskreisen als „Neue Türkei“ bezeichneten und von Korruptionsvorwürfen belasteten Erdoğan-Regimes. Möglich wurde dieser Umstand nicht nur durch den Rückgang der Wählerstimmen für die AKP und mit dem Stimmenzuwachs für die post-kemalistisch-sozialdemokratische CHP und die rechtsnationalistische MHP, sondern auch vor allem durch den Achtungserfolg der diesmal als eigene Partei im Wahlkampf als türkei-orientierte, pro-kurdische und sich als postmaterialistisch-emanzipatorisch-links auftretenden HDP. Im Gegensatz zu den, als politischer Arm der PKK verbotenen, Vorgänger-Parteien übersprang sie deutlich die Zehn-Prozent-Hürde, auch mit türkischen Leihstimmen von Erdoğan-Verdrossenen im Westen des Landes, und verhinderte somit den Übergang der Sitze auf die ins Parlament einziehende AKP. Als Folge muss die AKP zur Regierungsbildung entweder bis zu den Neuwahlen als Minderheitenregierung weiter regieren oder eine Koalition mit der einer oder zwei der zuvor ← 9 | 10 → von ihr bedrängten Oppositionsparteien eingehen, die im Wahlkampf eine Regierungspartnerschaft mit der ihr kategorisch abgelehnt hatten. Zumindest theoretisch kann die Opposition eine AKP-lose, bunte und ideologisch widersprüchliche Koalitionsmöglichkeit zwischen post-kemalistischen Sozialdemokraten, rechtsgerichteten türkischen Nationalisten und emanzipatorisch-postmaterialistisch auftretenden pro-kurdischen Aktivisten in Betracht ziehen.

Sowohl die ideologische Polarisierung unter den Oppositionsparteien als auch zwischen ihnen und der AKP-Regierung erschwert die Bildung einer Regierungskoalition, der durch tiefe Gräben politisch, kulturell, sozial, konfessionell und ethnisch mehrfach entzweiten türkischen Gesellschaft. Diese einen Tag nach der Wahl von der boulevardistischen Tageszeitung Post in Anspielung auf die von der AKP ausgerufenen „Neue Türkei“ als „brandneue Türkei“ („Yepyeni Türkei“) bezeichnete Situation scheint vorerst das außenpolitisch neo-osmanische und innenpolitisch autoritäre Erdoğan-Regime seine Grenzen aufgezeigt zu haben. Gleichzeitg scheint dies eine Zerreißprobe innerhalb der AKP zu begünstigen, in denen partei-interne Erdoğan-Kritiker sich verstärkt zu Wort melden und sich gegen dessen Einflussversuchen zur Wehr setzen werden.

Im vorliegenden Sammelband findet sich eine Auswahl von Beiträgen, die die beachtliche Bandbreite im Rahmen der „alten“ und „neuen“ Türkei dokumentieren sollen, innerhalb deren sich Erdoğans Vision von einer neuen Türkei bewegt. Der vorliegende Band soll hier als Anregung und Nachdenken über kritische Debatten über die „neue“ Türkei im Kontext der Politikwissenschaft dienen.

Diskussionen um die Neue Türkei sind mit diesem Werk weder eröffnet noch beendet, da der Sammelband lediglich einführende Einblicke über Debatten bietet, die durch die Buchbeiträge nachgezeichnet werden. Der vorliegende Band reicht natürlich nicht aus, alle Facetten des Themas im theoretischen Diskurs vollständig und abdeckend zu erörtern. Das Buch teilt sich in zwei Abschnitte auf. Der erste Abschnitt behandelt die innenpolitische Perspektiven der Neuen Türkei. Im zweiten Abschnitt werden außenpolitische Perspektiven der Neuen Türkei analysiert.

Im innenpolitischen Abschnitt setzen sich die AutorInnen mit den Ergebnissen der Parlamentwahl 2015, den autoritären Tendenzen der AKP-Regierung, mit dem Übergang der Türkei in ein präsidentielles System und mit Regimewechsel unter dem Führungscharismatiker Recep Tayyip Erdoğan auseinander, der schrittweise das kemalistische Establishment und die Militärs des sich eigentlich auf dem Weg in die EU sich befindenden Türkei ausgeschaltet und den Weg in eine islamische Republik geebnet hat. ← 10 | 11 →

Wolfgang Gieler und Christian Johannes Henrich analysieren in ihrem Beitrag „Die neue Türkei: Ergebnisse der Parlamentwahl 2015“ aus aktueller Perspektive die Wahlergebenisse vom 7.Juni 2015. Olaf Leiße und İlknur Üreyen beschäftigen sich in ihrem Beitrag „Autoritäre Tendenzen in der AKP-Politik“ mit der Abkehr der Türkei von einer liberal-demokratischen Gesellschaft, während Özlem Becerik Yoldaş sich die Frage stellt, ob ein Regimewechsel in der sich auf dem Weg in ein Präsidialsystem befindenden Türkei überhaupt mit demokratischen Mitteln zu erreichen ist. Auch Kutluhan Bozkurt thematisiert in seinem kritischen Beitrag zu Debatten über Verfassungsänderungen den Regimewechsel mittels binnenstruktureller Reformen von politischen und juristischen Institutionen. Yunus Yoldaş analysiert vor dem Hintergrund der direkten Präsidentschaftswahl im August 2014, bei der der bis dahin amtierende Premierminister Recep Tayyip Erdoğan mit der Hälfte der Stimmen des Wahlvolkes zum Staatsoberhaupt gewählt wurde, funktionale und strukturelle Probleme im politischen System der Türkei.

Mahir Tokatlı lüftet in seinem Beitrag über die führungscharismatische Inszenierung Erdoğans als „großer Meister“ das Erfolgsgeheimnis des sich vom Staatsoberhaupt zum autoritär regierenden Staatschef wandelnden mächtigsten Mann in der türkischen Politik. Burak Gümüş beschreibt in seinem kritischen Beitrag über die Entkemalisierung der Türkei durch die AKP, wie die traditionale türkisch-säkulare Staatselite in der Politik, Wissenschaft, Justiz und Medien sowie in der Generalität mittels rechtstaatlich fragwürdigen Methoden bei politisierten „Putsch-Prozessen“ so sehr geschwächt wurden, dass sie die drohende Reislamisierung der Gesellschaft „von oben“ und Zugeständnisse der Regierung an die Kurdische Arbeiterpartei nicht mehr verhindern konnten. Arndt Künnecke nimmt in seinem Beitrag eine Bestandsaufnahmen der türkeischen Minderheitenpolitik vor.

In folgenden Abschnitt über den Wandel der Außenpolitik der Neuen Türkei analysieren die AutorInnen die Hinwendung der AKP-Regierung zum Nahen Osten und Afrika sowie die Folgewirkungen auf die Beziehungen der Türkei zur Europäischen Union, zu den Turk-Republiken und den Vereinigten Staaten, wobei die verstärkte Parteinahme Ankaras in die regionalen Konflikte in der Islamischen Welt nach der sogenannten Arabellion zur Isolierung der Türkei kritisch thematisiert wird. Christian Johannes Henrich beschreibt die Ausgangslage für die außenpolitische Rolle der Türkei nach dem Regierungsantritt der AKP bei der Anwendung der vom damaligen Außenminister Ahmet Davutoğlu hervorgehobenen Thesen sich verstärkt im regionalen Umfeld engagierenden und mit ihrer imperial- osmanischen Vergangenheit aussöhnenden Türkei als „Vermittler“, während ← 11 | 12 → Burak Çopur in seinem Beitrag über den „Aufstieg und Fall der Türkei im Nahen Osten“ die Kehrseite der zur politischen Isolation der AKP-Türkei führenden Anwendung des „Davutoğlu“-Doktrins Strategische Tiefe kritisch aufzeigt. Tural Bahadır durchleuchtet vor diesem Hintergrund in diesem Prozess die türkisch-amerikanischen Beziehungen vor neuen Herausforderungen: Die Außenpolitik der AKP-Regierung und der Krieg in Syrien“, während sich İsmail Ermağan mit der verstärkten Tätigkeit der Neuen Türkei in Afrika auseinandersetzt. Fahri Türk kritisiert die Folgewirkung der Nahost- und Afrikaorientierung der Neuen Türkei für die dahinsiechenden Beziehungen des Landes zu den Turk-Republiken und nimmt dabei dennoch eine Unterscheidung zu den der AKP entstammenden Präsidenten Abdullah Gül (2007–2014) und Recep Tayyip Erdoğan (seit 2014) vor. Meral Avcı sucht eine Antwort auf die Frage nach dem Weg der Neuen Türkei auf dem Weg nach Europa das politische Beziehungsdreieck „Türkei – Europäische Union – Deutschland“ die Auswirkungen der innenpolitischen Entwicklungen des Landes auf die Beziehungen zwischen Ankara, Brüssel und Berlin. Die weiteren Beiträge beschreiben die Beziehungen der Neuen Türkei zur türkischen Diaspora in Deutschland und in Westeuropa auch vor dem Hintergrund der transnationalen Migration. Can Ünver und Yaşar Aydın untersuchen in ihren Beiträgen über die Diasporapolitik der Neuen Türkei auch die Handlugen, Spielräume und Grenzen der Mobilisierungsmöglichkeiten der AKP-Regierung, während demgegenüber Caner Aver neueste Daten über die transnationale Migration zwischen Deutschland und der Neuen Türkei liefert.

Wir möchten uns herzlich bei den AutorInnen dieses Bandes für ihre großzügigen Beiträge zu den Debatten über die „Neue Türkei“ bedanken, die intensiv die folgenden Themen recherchiert haben, ohne diese der vorliegende Sammelband nicht zustande gekommen wäre. Als Herausgeber wünschen wir dem Buch einen breiten LeserInnenkreis über die Universitäten hinaus.

Die in diesem Band wiedergegebenen Darstellungen und vorgetragenen Meinungen stellen keine Meinungsäußerungen der Herausgeber dar. Die AutorInnen sind für die Auswahl der Fakten und die in diesem Sammelband vertretenen Meinungen allein verantwortlich und daher für die Herausgeber nicht bindend. ← 12 | 13 →

I.  Innenpolitische Perspektiven der Neuen Türkei

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Wolfgang Gieler und Christian Johannes Henrich

Die neue Türkei: Ergebnisse der Parlamentwahl 2015

Die Agenda 2023 der AKP

Im Herbst 2012 veröffentlichte die seit 2002 in der Türkei mit absoluter Mehrheit regierende islamisch-konservative Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) ihre politische Vision für 20231, dem 100. Jahrestag der Gründung der Republik Türkei. Darin will die Regierungspartei Optionen diskutieren, das politische System zu verändern. Als mögliche Lösungen sieht die AKP einen parteigebundenen Präsidenten, eine semipräsidentielles Regierungssystem oder eine präsidentielles Regierungssystem mit einem starken Staatspräsidenten an der Spitze.2

Die Präferenzen des damaligen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan (AKP) lagen dabei klar bei der präsidentiellen Demokratie. Bereits nach dem zweiten Wahlsieg der AKP im Jahre 2007 initiierte Erdoğan eine Verfassungsreform, die am 21. Oktober in einem Referendum von fast 69 Prozent angenommen wurde. Unter anderem wurde damit Artikel 101 der Türkischen Verfassung geändert. Der Staatspräsident wird nun nicht mehr vom Parlament, sondern direkt vom Volk gewählt. Außerdem wurde die Amtszeit von sieben Jahren auf fünf Jahre reduziert, dafür kann der Präsident einmal wiedergewählt werden.3 Am 10. August 2014 wurde Ministerpräsident Erdoğan der erste türkische Staatspräsident, der direkt vom Volk gewählt wurde. Er erzielte knapp 52 Prozent der abgegebenen Stimmen.4

Im April 2015, einen Monat vor den Parlamentswahlen in der Türkei, stellt Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu (AKP) seinen 100 Artikel umfassenden Neuen ← 15 | 16 → Türkei Vertrag 20235 vor. Darin legt sich die AKP auf den Umbau der Türkei von einer parlamentarischen in eine präsidentielle Demokratie fest.6 Weitere Punkte der ambitionierten Agenda sind die Türkei zu einer der zehn größten Volkswirtschaften der Welt zu machen7 und die Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union anzustreben.8

Die Parlamentswahl 2015

Am 7. Juni 2015 fanden die Wahlen zur 25. Großen Nationalversammlung der Türkei9 statt. Diese Wahl galt als eine der bedeutendsten und wegweisendsten Wahlen der jüngeren Geschichte. Die Türken wählten nicht nur eine neue Regierung, sondern sie stimmten auch über das politische System der Türkei ab. Erdoğan hat als Wahlziel der AKP 330 Sitze im Parlament vorgegeben. Diese Dreifünftel-Mehrheit ermöglicht der AKP eine Verfassungsänderung zur Einführung eines Präsidialsystems in der Türkei auf den Weg zu bringen. „Erdoğan will sich als Präsident zusätzliche Vollmachten geben lassen, was von der Opposition als Schritt in die Diktatur gesehen wird.“10 Mit 367 Sitzen, also der Zweidrittel-Mehrheit, hätte die AKP die Verfassung alleine im Parlament ändern können.11

Nachdem die regierende AKP 2002, 2007 und zuletzt 2011 sämtliche Parlamentswahlen für sich entscheiden konnte, gab es 2015 eine andere Stimmung vor der Wahl. Es wurde allgemein davonausgegangen, dass die AKP mit Stimmenverluste rechnen müsste.12 Die personellen Veränderung im Lager der AKP ← 16 | 17 → waren enorm: Erstmals zog die Partei mit Davutoğlu als Spitzenkandidat in den Wahlkampf. Zudem durften 68 Abgeordnete aufgrund einer parteiinternen Regelung zur Maximierung der Amtszeiten nicht mehr antreten. Unter den ausscheidenden Politikern waren auch die ehemaligen Minister Ali Babacan, Bülent Arınç, Cemil Çiçek und Taner Yıldız. Außerdem auch die in den Korruptionsskandal im Dezember 2013 verwickelten Minister Muammer Güler, Mehmet Zafer Çağlayan und Erdoğan Bayraktar.13

Der Wahlkampf wurde sehr hart geführt. Der Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu (CHP) warf der Staatsführung und der Regierungspartei Korruption und Prunksucht vor.14 Der türkische Menschenrechtsverein (İHD)15 teilte mit, dass während des Wahlkampfs in der Türkei mehrere Brandanschläge und bewaffnete Übergriffe auf die Veranstaltungen der einzelnen Parteien verübt wurden. Insgesamt kamen mehr als 125 Menschen zu Schaden, davon 114 auf Veranstaltungen der HDP16, zwei HDP-Anhänger starben bei dem Bombenanschlag vom 5. Juni in Diyarbakır.17

Neben diesen Aggressionen im Vorfeld, gab es zudem einerseits zahlreiche Wechselwähler, die mit einer Stimmabgabe für eine der Oppositionsparteien die Einführung eines Präsidialsystems verhindern wollten, andererseits votierten viele Kurden für die Demokratische Partei der Völker (HDP)18. Erdoğan hatte den Unmut zahlreicher Kurden auf sich gezogen, weil er im vergangenen Jahr die kurdischen Verteidiger der nordsyrischen Stadt Kobani im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) allein gelassen hat.19

Rund 56,6 Millionen Bürgerinnen und Bürger waren aufgerufen, an 174.240 Wahlurnen ihre Stimme abzugeben. Die Wahlbeteiligung lag bei knapp 84 Prozent und damit in etwa auf dem gleichen Niveau der beiden Wahlen 2007 und ← 17 | 18 → 2011. Die Wahl endete mit den erwarteten deutlichen Stimmenverlusten der regierenden islamisch-konservativen AKP von Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu. Zwar wurde sie mit 41 Prozent erneut stärkste Kraft im Parlament, hat aber fast 9 Prozentpunkte bzw. 69 Sitze verloren und ist nun nach drei Wahlerfolgen mit absoluter Mehrheit der Sitze erstmals auf einen Koalitionspartner angewiesen.

Zweitstärkste Partei wurde die kemalistisch-sozialdemokratische Republikanische Volkspartei (CHP)20 unter ihrem Vorsitzenden Kılıçdaroğlu. Erneut gelang der CHP nicht der erhoffte Befreiungsschlag. Sie verliert mit einem Prozent leicht an Zustimmung und erhält zukünftig 132 Sitze.

img1

Den Umfragen entsprechend hat die HDP tatsächlich den Sprung über die Zehn-Prozent-Hürde geschafft und zieht mit über 13 Prozent und damit mit 80 Abgeordneten als erste pro-kurdische Partei ins türkische Parlament ein. Bisher sind kurdische Abgeordnete immer als Einzelkandidaten angetreten, um so die sehr hohe Sperrklausel auszuhebeln. Parteichef Selahattin Demirtaş hat somit nach seinem Achtungserfolg bei der Präsidentenwahl 2014, als er aus dem Stand 9,76 Prozent erreichte, sein Wahlziel mit der HDP die Zehn-Prozent-Hürde zu überspringen, erreicht. ← 18 | 19 →

img2

Die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP)21 unter Parteiführer Devlet Bahçeli konnte über drei Prozentpunkte hinzugewinnen und zieht wie die HDP mit 80 Abgeordneten ins Parlament ein. Somit sind die HDP und die MHP die beiden einzigen Parteien im Parlament, die mehr Stimmen und Sitze errungen haben, als bei der Wahl 2011.22

Die Wahl brachte einige interessante Ergebnisse hervor. Der Nationalversammlung gehören nun 98 Frauen an, das entspricht einem Anteil von 18 Prozent (2011: 14 Prozent). Die HDP verzeichnet mit 40 Prozent den höchsten Anteil weiblicher Abgeordneter. Zudem sind unter den gewählten 550 Abgeordneten erstmals vier Christen vertreten. Es sind die drei Armenier Garabed Paylan (HDP), Markar Esayan (AKP) und Selina Doğan (CHP), sowie der Aramäer Erol Dora (HDP). Für die HDP sind mit Feleknas Uca und Ali Atalan ebenfalls zwei Jesiden ins Parlament eingezogen.23 Zum ersten Mal in der türkischen Parlamentsgeschichte ist mit Özcan Purçu (CHP) ein Vertreter der Roma-Minderheit im Parlament ← 19 | 20 → vertreten.24 Der frühere SPD-Europaabgeordnete, Ozan Ceyhun (AKP), verfehlte im Wahlkreis Izmir den Einzug ins Parlament, der Vorsitzenden der Alevitischen Union Europas (AABK)25, Turgut Öker (HDP), hingegen hat einen Sitz in Ankara erhalten.26 Ebenfalls für die HDP zog mit Dilek Öcalan eine Nichte des PKK-Führers Abdullah Öcalan ins Parlament ein.27

Wahlverhalten der Türken in Deutschland

Nach dem die Auslands-Türken erstmals bei der Präsidentschaftswahl 2014 in ihren Wohnländern wählen durften, konnten sie nun auch an einer Parlamentswahl teilnehmen. Laut der Statistik des Hohen Wahlrates der Republik Türkei (YSK)28 haben von den 1.405.015 in Deutschland registrierten türkischen Wahlberechtigten 482.746 Personen in den 13 Wahllokalen in Deutschland abgegeben, dies entspricht einer Wahlbeteiligung von 34,4 Prozent.29 Der türkische Botschaftsrat Mustafa Songür teilte mit, dass zudem 51.373 Personen, also 3,66 Prozent, an den türkischen Grenzübergängen ihre Stimme abgegeben haben.30 Demnach lag die gesamte Wahlbeteiligung der in Deutschland registrierten türkischen Staatsbürger bei knapp 38 Prozent. Im Vergleich zu den Präsidentschaftswahlen 2014, bei denen 112.705 türkische Bürger in den Wahllokalen in Deutschland ihre Stimme abgegeben hatten, hat sich nun die Zahl der Wählerinnen und Wähler um das 4,2-fache erhöht.31 In diesem Kontext wird deutlich, welche Bedeutung diese Wahl für die Türkei hatte. ← 20 | 21 →

Schlussfolgerungen und Ausblick

Festzuhalten ist zunächst, dass die Wahl nach Einschätzung der Wahlbeobachter von der OSZE bis auf wenige Ausnahme korrekt verlief. Vor allem die hohe Wahlbeteiligung von rund 85 Prozent zeigt, dass die Wähler durchaus ein demokratisches Bewusstsein haben. Der von zahlreichen Beobachtern prognostizierte Wahlausgang stellt die politischen Akteure jedoch vor eine große Herausforderung. Laut Artikel 116 der türkischen Verfassung muss nach der Wahl des Parlamentspräsidenten innerhalb von 45 Tagen das Kabinett gewählt sein, oder es kommt zu Neuwahlen.32 Theoretisch gibt es folgende Regierungsmöglichkeiten:

  • –  eine große Koalition aus AKP und CHP
  • –  eine Koalition aus AKP und HDP
  • –  eine Koalition aus AKP und MHP
  • –  eine Minderheitsregierung der AKP
  • –  eine Koalition aus CHP, HDP und MHP

In der Praxis scheiden allerdings einige Optionen aus. MHP-Vorsitzender Bahçeli schließt eine Koalition mit der CHP und HDP kategorisch und mit markigen Worten aus: „wenn es welche gibt, für die eine solche [Koalition] denkbar ist, müssen wir diese zum Arzt bringen.“33 Seine Einstellung steht fest, obgleich CHP-Chef Kılıçdaroğlu ihm sogar den Posten des Ministerpräsidenten angeboten hat.34

Es kann demnach nur eine Koalition unter Führung der AKP geben. Dies hatte die HDP unlängst ausgeschlossen. Demirtaş: „Dies ist unsere klare Position: Wir werden mit der AKP nicht koalieren.“35

Somit verbleiben die Große Koalition aus AKP und CHP, sowie eine national-islamische Koalition aus AKP und MHP. Doch die Gräben zwischen der säkularen CHP und der islamisch-konservativen AKP sind sehr tief. Das Misstrauen zwischen beiden Lagern scheint kaum überbrückbar. Knackpunkte sind die unterschiedlichen Auffassungen über Meinungsfreiheit, eine unabhängige Justiz und die Verfolgung der seit Ende 2013 anhängigen Korruptionsvorwürfe gegen ← 21 | 22 → ehemalige Minister und andere der AKP-nahestehenden Personen. Hinzu kommt die Forderung, dass Erdoğan sich zukünftig aus der Tagespolitik heraushält.

Auch wenn von den meisten türkischen Kommentatoren eine AKP-MHP-Koalition für die wahrscheinlichste Option gehalten wird, gibt es auch hier keine Vertrauensbasis. Bahçeli forderte kürzlich sogar, dass auch gegen den Präsidentensohn, Bilal Erdoğan, wegen Korruption ermittelt werden müsse.36 Die AKP kann die Wiederaufnahme der Korruptionsermittlungen nur akzeptieren, wenn sie sich gleichzeitig von ihrem Übervater Erdoğan emanzipiert. Dies gilt jedoch als eher unwahrscheinlich, da Erdoğans Einfluss auf die Partei weiterhin sehr stark ist.

Der Präsident wird trotz öffentlich bekundeter Warnungen37 auf Neuwahlen Ende 2015 setzen, in gutem Glauben, dass die Wähler die AKP wieder mit einer absoluten Mehrheit ausstatten. Allerdings droht bei einer Neuwahl weiteres Ungemach für die AKP: Seit März halten sich hartnäckig Gerüchte, dass es zu einer Parteigründung durch den ehemaligen Staatspräsidenten Abdullah Gül, der von Erdoğan ins politische Abseits gestellt wurde und Parlamentspräsidenten Bülent Arınç kommen könnte, beide AKP-Gründungsmitglieder und langjährige Weggefährten Erdoğans.38

Literaturverzeichnis

Das politische System der Türkei, https://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/184968/das-politische-system-der-tuerkei.

Türkische Verfassung in der Fassung vom 29.03.2011, https://www.tbmm.gov.tr/anayasa/anayasa_2011.pdf.

Bericht der Wahlkommission zur Präsidentschaftswahl 2014, http://www.ysk.gov.tr/ysk/content/conn/YSKUCM/path/Contribution%20Folders/HaberDosya/2014CB-Kesin-416_d_Genel.pdf.

Political Vision of AK parti (Justice and Development Party) 2023, https://www.akparti.org.tr/english/akparti/2023-political-vision. ← 22 | 23 →

The New Turkey Contract 2023, https://www.akparti.org.tr/site/haberler/yeni-turkiye-sozlesmesi-2023/73285#1.

Wolfgang Gieler (2012), „Die neue Außenpolitik der Türkei zwischen Neo-Osmanismus und Regionalmachtstellung – unter besonderer Berücksichtigung der Unruhen der arabischen Welt“, in: Sabine Ruß-Sattar, Peter Bender, Georg Walter (Hrsg.), Europa und der Arabische Frühling. Deutschland Frankreich und die Umbrüche der EU-Mittelmeerpolitik, NOMOS, Baden-Baden, S. 213–225.

– (2013), „Bestandsaufnahme der türkischen Aussenpolitik (2/2)“, in: Allgemeine Schweizerische Militärzeitschaft, Nr. 8, August 2013–179 Jg., S. 15–17.

Details

Seiten
425
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653061963
ISBN (ePUB)
9783653960280
ISBN (MOBI)
9783653960273
ISBN (Hardcover)
9783631667002
DOI
10.3726/978-3-653-06196-3
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (August)
Schlagworte
Regierungssysteme Transnationale Migration Internationale Beziehungen
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 425 S., 9 s/w Abb., 9 Tab.

Biographische Angaben

Yunus Yoldaş (Band-Herausgeber:in) Burak Gümüș (Band-Herausgeber:in) Wolfgang Gieler (Band-Herausgeber:in)

Yunus Yoldaş ist Assoziierter Professor an der Fakultät für Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaft, Çanakkale Onsekiz Mart Universität, Türkei. Burak Gümüş ist Assoziierter Professor an der Fakultät für Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaft der Trakya Universität, Edirne, Türkei. Wolfgang Gieler ist Professor am Fachbereich Politikwissenschaft der Friedrich-Schiller Universität Jena und der Universität Vechta.

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Titel: Die Neue Türkei
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