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Das Liebeshindernis

Zur Semantik der Liebe in der französischen Literatur vom Mittelalter bis zur Gegenwart

von Gesa Kresse (Autor:in)
©2015 Dissertation 373 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch untersucht das Liebeshindernis als historische Variable im französischen Roman vom hohen Mittelalter bis zur Gegenwart. Im Vordergrund des Buches steht der Prozess der Verinnerung, einer im Laufe der Zeit immer stärkeren Verlagerung des Liebeskonflikts ins Innere der Figuren. Das Liebesmotiv betrachtet die Autorin im übergreifend geschichtlichen Kontext sowie im Strukturzusammenhang der Werke als Zentrum sich kontinuierlich wandelnder Wirklichkeitsentwürfe. Ihre besondere Aufmerksamkeit gilt dabei der Rolle des Anderen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhalt
  • Einleitung
  • 1. Die „Entdeckung“ der Liebe im hohen Mittelalter: amour fou und amour courtois
  • 1.1 Liebe als Leidenschaft: die Tristan-Sage
  • Das Liebeshindernis in der Tristan-Fassung von Béroul
  • Das Liebeshindernis in der Tristan-Fassung von Thomas
  • 1.2 Liebe als Aufgabe: Chrétien de Troyes‘ Erec et Enide
  • 1.3 Tristan versus Chrétien – Subjekt und Wirklichkeit im Versroman des hohen Mittelalters
  • 2. Zwischen passion und raison – zum Liebeskonflikt in drei Prosaformen der französi-schen ‚Klassik‘
  • 2.1 Zwischen Gefühl und Institution: Mme de Villedieus Désordres de l’amour – Seconde Partie
  • 2.2 Liebe als Bedrohung: Mme de La Fayettes Princesse de Clèves
  • 2.3 Amare amabam: Guilleragues‘ Lettres portugaises
  • 2.4 Die Heldinnen der ‚Klassik‘ zwischen raison und passion
  • 3. Zwischen Aufklärung und Empfindsamkeit – zur Liebesvorstellung im französischen Briefroman
  • 3.1 Liebe oder Tugend? Jean-Jacques Rousseaus Julie ou La Nouvelle Héloïse
  • 3.2 Liebe oder Macht? Choderlos de Laclos’ Liaisons dangereuses
  • 3.3 Die (Un-)Möglichkeit der Liebe in der Welt des Briefromans
  • 4. „Liebesverrat“ und Ehebruch in Romantik und Realismus
  • 4.1 Je veux être aimé – Benjamin Constants Adolphe
  • 4.2 Ein Traum von der Liebe – Gustave Flauberts Madame Bovary
  • 4.3 Liebe als Illusion bei Constant und Flaubert
  • 5. Liebe und Körperlichkeit im Roman der Gegenwart
  • 5.1 Liebe als Lust – Marguerite Duras’ L’amant
  • 5.2 Das Ende einer Liebe? Jean-Philippe Toussaints Faire l’amour
  • 5.3 Die Welt des Körpers bei Duras und Toussaint
  • Schlussbetrachtung
  • Literaturverzeichnis

Einleitung

„Urimur igne pari“ – wir wurden entflammt vom gleichen Feuer –, schreibt Hero in Ovids Heroides (ca. 10 vor Chr.) an Leander. Von einer „passio quaedam innata“, einem angeborenen Leiden, spricht Andreas Capellanus in seinem De amore (um 1180). In Montaignes Essai „De l’amitié“ (1588) ist von „la soif de la jouissance sur un objet désiré“ die Rede, und Rousseaus Held Saint-Preux aus der Nouvelle Héloïse (1761) erlebt „un feu dévorant qui porte son ardeur dans les autres sentiments“.1 Alle diese Formulierungen von der Antike bis zur Empfindsamkeit umschreiben den gleichen Gegenstand – die Liebe. Und ihre Verfasser verbindet über die Jahrhunderte hinweg das gleiche Ziel: einem im Inneren erfahrenen Gefühl durch Worte und Bilder äußeren Ausdruck zu verleihen.

Die Liebe, in der historischen Anthropologie neben Kategorien wie Tod, Geburt, Zeit, Körper und Sexualität als existenzielle menschliche Grunderfahrung verstanden (Dressel 1996, 80), ist seit der Antike ein immer wiederkehrendes Thema in der Literatur. Zum einen ist sie Gegenstand vieler theoretischer Abhandlungen; ‚Liebestheoretiker‘ wie Ovid (Ars amatoria), Andreas Capellanus (De Amore) und Stendhal (De l’amour) definieren in ihren Schriften verschiedene Arten der Liebe, äußern sich dazu, was ‚wahre‘ Liebe ist, und geben Ratschläge, wie Liebe hervorgerufen und aufrechterhalten werden kann.2 Zum anderen ist sie auch ein zentrales Thema in der erzählenden Literatur, dessen Darstellung bis zur Gegenwart einem ständigen Wandel unterliegt.

Insbesondere anhand literarischer Erzählungen zeigt sich in herausragender Weise, wie sich Wahrnehmung, Bedeutung und Umgang mit dem Thema der Liebe in verschiedenen Epochen, Gesellschaften und Kulturen verändern. Was ← 9 | 10 → die Menschen in vergangenen Zeiten tatsächlich gefühlt haben, wenn sie von Liebe sprachen, kann heute nicht mehr nachvollzogen werden. Aber die Liebesentwürfe in der Literatur können untersucht und auf diese Weise kann etwas darüber ausgesagt werden, wie die Liebe in einem größeren Zusammenhang verstanden wurde und nach welchen Mechanismen sie funktionierte. Denn Liebe ist nicht nur ein subjektives Gefühl und eine sinnliche Erfahrung, sondern vor allem auch eine kulturell, gesellschaftlich und historisch geprägte Erscheinung.3 Sanders spricht von einer „historisch variablen Grammatik der Liebe“4; Trepp, die Liebe sowohl als gesellschaftlichen Wert als auch als erlebte Emotion untersucht, bezeichnet Gefühle als „wesentliche historische Variable“ (Trepp 2002, 91), und Luhmann untersucht die Liebe nicht als Gefühl, sondern als „symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium“, als „Kommunikationscode, nach dessen Regeln man Gefühle ausdrücken, bilden, simulieren, anderen unterstellen, leugnen“ kann (Luhmann 1982, 23).5

Die Darstellung der Liebe in der Literatur zeigt aber nicht nur Kommunikations- und Verhaltensmechanismen zwischen einzelnen Individuen, sondern sie ist immer auch Indikator für die Konflikte einer Epoche, für die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft.6 Vor diesem Hintergrund konzentriert sich diese Arbeit auf die Erzählformen der Prosa, insbesondere den Roman. Denn gerade der Roman kann große Zusammenhänge vermitteln und Ereignisse und Erlebnisse von Figuren in den gesellschaftlichen und kulturellen Kontext einer Epoche einbetten. „Es ist der Roman, der aufgrund seiner sprachlichen Grundverfassung, aus einer langen Reihe von Sätzen zu bestehen, in der Lage ist, umfassende Räume, lange Zeitverläufe und ganze Lebensgeschichten zu ← 10 | 11 → modellieren.“, formuliert Sanders (Sanders 2013, 4). Nach Matzat kann der Roman „die individuelle und subjektive Erfahrung des Helden im Rahmen einer vom Erzähler als objektiv gesetzten gesellschaftlichen Welt […] präsentieren“, während die Lyrik „die Stimme des individuellen Subjekts privilegiert und das Drama vornehmlich auf die dialogische und intersubjektive Sphäre bezogen ist“ (Matzat 2003, 519).

Dieses Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft, das der Roman aufzeigt, wird wiederum in besonderer Weise durch die Liebeserfahrung und die in diesem Zusammenhang von den Figuren erlebten Widerstände deutlich. Denn die Liebe als subjektive Einzelerfahrung bricht sich in Erzählungen zumeist an den Umständen, die ihre Erfüllung hindern, und offenbart damit gleichzeitig die Konflikte zwischen dem Einzelnen und der Außenwelt. Ohne Konflikt, der die Erfüllung des Begehrens blockiert, ist eine Liebesgeschichte das Erzählen nicht wert, weil ihr das Sujet fehlt – „L’amour heureux n’a pas d’histoire.“ (Rougemont 1972, 11). In dieser Arbeit geht es deshalb nicht global um die Darstellung der Liebe als solche, sondern insbesondere um die Inszenierung der Widerstände, auf die sie jeweils stößt: die Liebeshindernisse.

Das Liebeshindernis ist ein elementarer Bestandteil jeder Erzählung, in der die Liebe im Zentrum steht; es ist ein „Grundmuster der Literatur“ (von Matt 1989, 21). Bis zum Beginn der Romantik bzw. zum Teil noch darüber hinaus gilt die Liebe in der abendländischen Kultur als nahezu unvereinbar mit der Institution der Ehe, die in der Regel ein wirtschaftliches und/oder familienpolitisches Zweckbündnis ist.7 Das individuelle Liebesbegehren muss also außerhalb der Institution und der geltenden Wertesysteme verwirklicht werden. Insbesondere in den traditionalen Kulturen und Gesellschaften8 wird die Liebe ← 11 | 12 → deshalb als problematisch betrachtet, weil sich in ihr Subjektivitätsstrukturen äußern, die die normative Ordnung bedrohen. Der Erfüllung des subjektiven Begehrens stehen in diesen Gesellschaften daher zumeist die Repräsentanten der normengebenden Institutionen entgegen – die Liebe ist vor allem äußeren, sozialen und familiären, Zwängen unterworfen. Im Zuge der Auflösung der ständischen Ordnung und der Herausbildung des Bürgertums, einhergehend mit der in der Romantik erhobenen Forderung, Liebe als Grundlage für die Ehe zu verstehen, kommen die Widerstände, die den Liebenden begegnen, immer weniger aus der Gesellschaft – innerseelische Konflikte treten in den Vordergrund.

In der vorliegenden Arbeit werden als Liebeshindernisse externe, außerhalb des Binnenraums einer Liebesbeziehung angelegte, oder interne, innerhalb der Beziehung bzw. in der Tiefe des Subjekts selbst angelegte, Faktoren verstanden, die die Liebeserfüllung – eine dauerhafte seelische und körperliche Realisierung der Liebe – blockieren oder die Entwicklung des Gefühls der Liebe selbst verhindern. Anhand repräsentativer, aus ihrer Epoche herausragender Einzelwerke der französischen Epik und Prosa wird aufgezeigt, wie sich die Konstruktion der Liebeshindernisse vom hohen Mittelalter bis zur Gegenwart wandelt. Dabei wird das Liebeshindernis nicht nur als thematisches, sondern vor allem auch als strukturelles und strukturbildendes Element behandelt, indem weitere, für das Thema konstitutive Komponenten wie das Repertoire der Figuren, Einleitung und Lösung des Problems sowie kulturelle und gesellschaftliche Dimensionen der jeweiligen Epoche betrachtet werden.

Gleichzeitig wird auch danach gefragt, wie die Welt im Roman und das Subjekt, das die Liebe erfährt, konstruiert sind. Denn die Erfahrung der Liebe impliziert zumeist nicht nur eine völlig neue Selbstwahrnehmung des Subjekts,9 ← 12 | 13 → sondern mit ihr ist immer auch eine ganz eigene Erfahrung der Wirklichkeit verbunden – sie wird zur „Chiffre einer besonderen, näher zu charakterisierenden Erfahrung der Wirklichkeit überhaupt“ (Sanders 1987, 106). So zeigt sich im Roman, der das subjektive Begehren der einzelnen Figuren oft als Widerspruch zu den Anforderungen der Außenwelt präsentiert, immer auch ein bestimmter Entwurf des Subjekts im Verhältnis zur Konstruktion der Wirklichkeit.10

Einer Untersuchung, die sich mit dem Thema des Liebeshindernisses befasst, kann es aber nicht nur um das liebende Subjekt selbst gehen. Denn die Erfahrung der Liebe erfordert immer auch ein Objekt, einen Auslöser und Träger der Liebe, ein Gegenüber in der Liebesbeziehung – kurz: einen Anderen. „Der Mensch wird am Du zum Ich“ (Buber 1954, 32) – eine Erfahrung, die für die Liebe in besonderer Weise zutrifft. Dabei sagt die Konstellation von Subjekt und Anderem, die sowohl von Kongruenz als auch von Divergenz bestimmt sein kann, immer auch etwas über die im Text entworfene Wirklichkeit aus.

In dieser Arbeit soll also nicht nur der Wandel in der Struktur der Liebeshindernisse analysiert werden, sondern aus diesem Wandel soll auch ein Rückschluss auf die jeweiligen Entwürfe von Subjekt, Wirklichkeit und Anderem gezogen werden, wie durch das folgende Schaubild verdeutlicht wird:11 ← 13 | 14 →

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Der Fokus der bisherigen literaturwissenschaftlichen Forschung zum Thema der Liebe und Liebessemantik richtet sich zumeist auf eine bestimmte Epoche oder einen Epochenübergang.12 Einen übergreifenden, mehrere kulturgeschichtliche Epochen umfassenden Ansatz bietet zum Beispiel von Matt, der in Liebesverrat – die Treulosen in der Literatur anhand verschiedener Beispiele aus der Weltliteratur vom Mittelalter bis zur Gegenwart das Motiv des Betrugs in der Liebe, insbesondere durch den Ehebruch, untersucht (von Matt 1989). Auch Luhmann zieht in Liebe als Passion – zur Codierung von Intimität zahlreiche Zitate zumeist ← 14 | 15 → aus populären Romanen des 17. und 18. Jahrhunderts, aber auch aus Essays, Maximen, Lyrik und theoretischen Abhandlungen heran – ohne dabei allerdings zwischen den unterschiedlichen Erzählformen zu differenzieren – und macht daran einen Wandel in der Liebessemantik13 vom 12. Jahrhundert bis zur Romantik im Zuge der sich steigernden Herausbildung von „personaler Intimität“ fest (Luhmann 1982, 23).

Luhmann identifiziert in seiner Untersuchung im Zeitraum vom hohen Mittelalter bis zur Gegenwart mit Blick auf den Wandel der Liebessemantik zwei große Übergänge,14 und zwar zum einen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, wo sich nach Luhmann insbesondere in Frankreich ein besonderer Code für passionierte Liebe („amour passion“) entwickelt habe. So begründe sich die Liebe nun nicht mehr wie die höfische Liebe des hohen Mittelalters durch die Kenntnis der vollkommenen Eigenschaften des begehrten Objekts („Idealisierung“), sondern sie rechtfertige sich durch Imagination.15 Die zweite entscheidende Veränderung bei Codierung und Begründung der Liebe sieht Luhmann nach einigen Vorboten im 18. Jahrhundert um 1800 mit dem Entstehen der Konzeption der romantischen Liebe: „Als selbstreferenzieller Kommunikationszusammenhang rechtfertigt die Liebe sich selbst.“ (Luhmann 1982, 51 f.). Auch wenn es sich bei dieser Einteilung um ein relativ grobes Schema handelt, für das Luhmann viele literarische Werke als Argumentationsgrundlage heranzieht, ohne dabei im Detail auf die Werke einzugehen, markieren die von Luhmann ← 15 | 16 → herausgearbeiteten zeitlichen Schwerpunktsetzungen in der Tat nicht nur einen Wandel in der Codierung und Begründung der Liebe in der Literatur, sondern vor allem auch in der Konstruktion und Wahrnehmung der Widerstände, die ihr begegnen. Vor diesem Hintergrund wird der zeitlichen Einteilung Luhmanns in den ersten drei Kapiteln der vorliegenden Arbeit gefolgt; es werden Werke aus dem hohen Mittelalter, der Klassik und der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts untersucht.

In Kapitel 4 und 5 werden schließlich jeweils zwei Werke des 19. Jahrhunderts und der Gegenwart behandelt. Zwar verändern sich nach der Herausbildung des empfindsamen bzw. romantischen Liebesideals Codierung und Begründung der Liebe nicht mehr wesentlich, vor dem Hintergrund der fortschreitenden Modernisierungsprozesse und der immer stärkeren Herauslösung des Individuums aus den traditionalen sozialen Strukturen und Bindungen im Laufe des 19. Jahrhunderts wandeln sich jedoch sowohl die Liebeserfahrung des Subjekts als auch die Konstruktion der die Liebe blockierenden Hindernisse auf besondere Weise. So ist die Liebeserfahrung selbst immer mehr von Unsicherheit und Unbeständigkeit geprägt – die Widerstände mit Blick auf die Liebe und Liebeserfüllung kommen immer weniger von außen und immer mehr aus den Tiefen der Subjektivität.

In Kapitel 1 dieser Arbeit richtet sich der Blick zunächst auf den französischen Versroman der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, nach Haug die „Geburtsstunde der modernen Liebesidee“ (Haug 2001, 143). Dort bilden sich, auch unter dem Eindruck der antiken und arabischen Liebeslyrik und –mystik, verschiedene, zum Teil gegensätzliche Konzeptionen der Liebe heraus – vom fin’amors der Troubadourlyrik bis zum amour courtois im höfischen Roman. In der Epik stehen sich dabei insbesondere zwei Liebesentwürfe gegenüber: die leidenschaftliche, ehebrecherische Liebe Tristans und Isoldes in den altfranzösischen Tristan-Fassungen von Thomas und Béroul und die an einen strengen und klar definierten ritterlichen Wertekodex gekoppelte ‚höfische‘ Liebe in den Werken Chrétien de Troyes‘. Während die Liebe von Tristan und Isolde als gesellschaftsfeindliche, die normative Ordnung bedrohende Liebe entworfen wird, versucht Chrétien in Erec et Enide, das hier als ein Beispiel für den höfischen Roman untersucht wird, eine Liebeskonzeption zu etablieren, die eine Einhegung der Liebe in die Ehe und die gesellschaftliche Ordnung ermöglicht.

In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts verändert sich nicht nur die Codierung und Begründung der Liebe, sondern vor allem auch die mit der Liebe verbundene Problemstellung. So rückt in verschiedenen Erzählungen für die ← 16 | 17 → Protagonisten die Frage in den Mittelpunkt, ob dem Liebesbegehren tatsächlich nachgegeben werden soll und welche Konsequenzen sich daraus ergeben. Der zentrale Konflikt insbesondere der weiblichen Heldinnen der Klassik resultiert aus dem erfahrenen Spannungsverhältnis zwischen passion und raison, zwischen der Unkontrollierbarkeit der individuellen Leidenschaft und einem zumeist moralisch orientierten Vernunftdenken. Die unterschiedliche Ausgestaltung dieses Konflikts in den verschiedenen Prosaformen der Epoche – Roman, Novelle und Briefroman – wird in Kapitel 2 untersucht: in Madame de La Fayettes La Princesse de Clèves, dem wohl bedeutendsten psychologischen Roman des ‚siècle classique‘, in der zweiten Novelle der Désordres de l’amour von Madame de Villedieu sowie dem Briefroman Lettres portugaises von Guilleragues, der bereits eine Überleitung zu den Liebeskonzeptionen des 18. Jahrhunderts darstellt.

Im 18. Jahrhundert, geprägt durch die Aufklärung und das Entstehen der bürgerlichen Gesellschaft, identifiziert Luhmann eine „Individualisierung und Personalisierung“ der Liebesbeziehungen (Luhmann 1982, 123 ff.). Auch nach Warning markiert die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts „in der Geschichte der Liebessemantik den Übergang von jenem vorindividuellen amour passion des 17. Jahrhunderts zur romantischen Vorstellung grenzenloser Selbststeigerung im Glück der Intimkommunikation“ (Warning 2006, 379). Besonderen Ausdruck findet dieser Wandel in der Literatur in der Gattung des Briefromans, die im Fokus von Kapitel 3 steht. So entwirft Rousseau in der Nouvelle Héloïse unter dem Schlüsselbegriff der sensibilité eine von individueller Empfindung bestimmte Liebeskonzeption, die nur auf die abstrakte Subjektivität der aus allen sozialen Bezügen herausgelösten Liebenden abhebt. In der Nouvelle Héloïse wird aber auch eine Welt bürgerlicher Moral- und Wertvorstellungen präsentiert, die in einem nicht zu überwindenden Gegensatz zu dem individuellen Liebesbegehren der Protagonisten steht. Einen Gegenentwurf dazu stellen die Liaisons dangereuses von Choderlos de Laclos dar, der die empfindsame Liebeskonzeption destruiert und eine von Doppelmoral und Libertinismus durchsetzte Welt des Adels zeigt, in der jede authentische Empfindung dem rationalen Kalkül zum Opfer fällt.

In Kapitel 4 werden zwei herausragende Werke der französischen Romantik bzw. des französischen Realismus einander gegenübergestellt, die beide zum einen das Thema der untreuen Frau in den Blick nehmen und zum anderen Helden präsentieren, die sich von der Liebeserfüllung persönliches Glück versprechen, in der Wirklichkeit jedoch scheitern. Dieses Dilemma wird in Constants Adolphe und Flauberts Madame Bovary allerdings ganz unterschiedlich inszeniert. Constants Werk ist vor allem von der widersprüchlichen und schwankenden ← 17 | 18 → Innerlichkeit des Helden geprägt, der zwar lieben will, es aber letztlich aufgrund äußerer und innerer Zwänge nicht kann. Emma Bovary dagegen versucht immer wieder, ihr leidenschaftliches, aber auch triviales Liebesbegehren in der Wirklichkeit zu leben, muss aber schließlich feststellen, dass sowohl ihre Liebhaber als auch sie selbst nicht zu außergewöhnlichen Empfindungen fähig sind. In der Welt, die Flaubert entwirft, wird bereits die Möglichkeit einer authentischen Liebeserfahrung negiert.

In Kapitel 5 schließlich werden zwei Werke vom Ende des 20. bzw. Beginn des 21. Jahrhunderts behandelt, die beide auf der einen Seite Elemente tradierter Liebeskonzeptionen aufnehmen, auf der anderen Seite aber auch eine Abkehr vom Ideal romantischer Liebe vollziehen: Marguerite Duras‘ L’amant und Jean-Philippe Toussaints Faire l‘amour. Während sich die Liebenden bei Duras nicht nur mit inneren, sondern auch mit äußeren, sozialen Hindernissen konfrontiert sehen, entwirft Toussaint eine Welt ohne äußere Hindernisse, die die Liebeserfüllung bedrohen würden. Der Konflikt der Liebenden entwickelt sich aus dem Inneren der Person heraus. Gleichwohl wird in beiden Romanen – wenn auch auf unterschiedliche Weise – eine moderne Erfahrung der Liebe präsentiert, bei der Körper und Körperlichkeit eine besondere Rolle spielen. ← 18 | 19 →

                                                   

1    Die Zitate stammen aus folgenden Werken: Ovidius Naso 2000, Heroides – Briefe der Heroinen; Capellanus 2003, De Amore – Über die Liebe; Montaigne 2009, Les essais; Rousseau 1988, Julie ou La Nouvelle Héloïse.

2    Dies immer bezogen auf die erotische Liebe zwischen Mann und Frau, die im Fokus dieser Arbeit steht. Gleichzeitig werden seit der Antike aber auch andere Formen der Liebe, wie Geschwisterliebe, Liebe zu Eltern oder Kindern, homosexuelle Liebe, freundschaftliche Liebe, Gottesliebe etc., immer wieder in der Literatur thematisiert. Die abendländische Literatur unterscheidet im Sinne Platons z. B. zwischen Eros, Agape und Philia, zwischen der leidenschaftlichen geschlechtlichen Liebe, der selbstlosen, nur das Wohl des anderen im Auge habenden Liebe und der gegenseitigen, freundschaftlichen und auf beidseitiges Vergnügen und Interesse ausgerichteten Liebe. Vgl. Haug 2001, 148 f., und Lewis 1986.

3    Die Bedeutungsgeschichte des Begriffs der Liebe untersucht z. B. Jäger 1988.

4    Übernommen aus der Vorlesung „Prosa der Gegenwart“ von Hans Sanders, Universität Hannover, Sommersemester 2004.

5    Unter „symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien“ versteht Luhmann „semantische Einrichtungen, die es ermöglichen, an sich unwahrscheinlichen Kommunikationen trotzdem Erfolg zu verschaffen“, die also Schwellen senken sollen, damit Kommunikation überhaupt zustande kommen kann (Luhmann 1982, 21). Eines dieser Medien ist nach Luhmann die Liebe, die in verschiedenen Epochen unterschiedlich codiert, also an bestimmten Verhaltensmodellen ausgerichtet sei, welche von den Beteiligten derart verinnerlicht seien, dass sie eine Kommunikation ermöglichten (Luhmann 1982, 23).

6    Kaiser definiert literarische Lebensformen als „der von Zwängen und Bedürfnissen der Realität entlastete und dadurch geformte Teil einer umfassenden Ästhetik des Lebens“ und „Indikator für Zustand und Veränderungen in der geistig-seelisch-sozialen Befindlichkeit einer Gesellschaft“ (Kaiser 1983, 80).

7    Rougemont, der vom Tristan-Mythos ausgehend in seiner Schrift „L’amour et l’occident“ den aus seiner Sicht zwingenden Konflikt zwischen Leidenschaft und Ehe im Abendland beschreibt (Rougemont 1972, 14), identifiziert das Hindernis („l’obstacle“) in der Liebe gar als zentrales Begehren der Menschen des Abendlandes, da nur durch die ständige Konfrontation mit Hindernissen der Leidenschaftlichkeit der Liebe Dauer verliehen werden könne (Rougemont 1972, 37).

8    Nach Max Weber, der gesellschaftliches Verhalten als „traditional“ bezeichnet, das durch verinnerlichte Gewohnheit und den Glauben an die Unwiderruflichkeit schon lange etablierter Ordnungen bestimmt ist: „Traditional soll eine Herrschaft heißen, wenn ihre Legitimität sich stützt und geglaubt wird aufgrund der Heiligkeit altüberkommener (‚von jeher bestehender‘) Ordnungen und Herrengewalten.“ (Weber 19765, 130) Nach Habermas bezieht sich der „Ausdruck ‚traditionale Gesellschaft‘ […] auf den Umstand, dass der institutionelle Rahmen auf der fraglosen Legitimationsgrundlage von mythischen, religiösen oder metaphysischen Deutungen der Realität im Ganzen – des Kosmos ebenso wie der Gesellschaft – ruht.“ (Habermas 1969, 67). Beispiele für traditionale, vormoderne Gesellschaften vor dem Entstehen der modernen Industriegesellschaft sind die Ständegesellschaft, die Feudalgesellschaft sowie die frühe bürgerliche Gesellschaft („vormoderne Gesellschaft“, Hillmann 20075, 948).

9    Einen Überblick über die Geschichte des Subjekts und der modernen Subjektivität gibt z. B. Bürger 1998. Zur Theorie der Kategorie Subjekt im 20. Jahrhundert unter Einbeziehung seiner Geschichte vom Auftauchen des modernen Subjekts bis zum von den Poststrukturalisten proklamierten „Tod des Subjekts“ und seiner möglichen Wiederauferstehung siehe auch Geyer und Schmitz-Emans 2003. Sanders bezeichnet das Subjekt heute als ein vor allem „theoretisches Konstrukt“. Nach Freud habe es sich „vom Ort gelebter Erfahrung zu einem, das nicht anders kann, als sich selbst im Blickwinkel der Theorie in den Blick und das heißt immer zugleich sich als Objekt zu nehmen“, gewandelt (Sanders 1994, 284 f.).

Details

Seiten
373
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653054897
ISBN (ePUB)
9783653972269
ISBN (MOBI)
9783653972252
ISBN (Hardcover)
9783631659991
DOI
10.3726/978-3-653-05489-7
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (März)
Schlagworte
historische Variable Verinnerung Liebeskonflikt Liebesmotiv
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 373 S.

Biographische Angaben

Gesa Kresse (Autor:in)

Gesa Kresse studierte Romanistik und Anglistik/Amerikanistik an der Universität Hannover. Nach ihrer Promotion im Fach Französische Literaturwissenschaft arbeitet sie als Parlamentsstenografin.

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Titel: Das Liebeshindernis
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