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Muslimische Gemeinden

Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Islam in Niedersachsen

von Rauf Ceylan (Band-Herausgeber:in)
©2017 Sammelband 422 Seiten

Zusammenfassung

Die muslimischen Gemeinden in Niedersachsen blicken auf eine lange Geschichte zurück. Die ersten muslimischen Strukturen wurden bereits vor dem Zweiten Weltkrieg gelegt und sollten mit der Arbeitsmigration stetig ausgebaut werden. Im Laufe der Jahre entstanden zahlreiche ethnisch-konfessionell geprägte Gemeinden, von denen sich viele nach einer Phase der Konkurrenzkämpfe in den beiden großen Landesverbänden DİTİB und SCHURA zusammenschlossen. Vor diesem Hintergrund liefern die Erfahrungen der Entwicklung und Transformation der muslimischen Gemeinden in Niedersachsen wichtige Impulse für die anderen Bundesländer und die dortigen muslimischen Gemeinden, die vor ähnlichen Integrationsherausforderungen stehen. Der Band dokumentiert diese Erfahrungen und bietet Perspektiven für zukünftige Entwicklungen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Contents
  • Zu diesem Buch: Ein Überblick
  • I. Religion und Migration in Deutschland
  • Migration und Religion in Deutschland – am Beispiel der muslimischen Community
  • II. Charakterisierung der Gemeinden
  • Die SCHURA Niedersachsen – Landesverband der Muslime in Niedersachsen e.V.
  • Charakterisierung der Dachorganisation DİTİB in Niedersachsen
  • III. Historie der Muslime und muslimischen Gemeinden in Niedersachsen
  • Geschichte der deutschstämmigen Muslime in Niedersachsen
  • Die ersten muslimischen Einheitsgemeinden in Niedersachsen
  • Die Islamische Gemeinschaft Milli Görüş (IGMG)
  • Verband Islamischer Kulturzentren (VIKZ)
  • Arabische Moscheegemeinden
  • Jamaah an-Nur. Islamische Gemeinschaft des göttlichen Lichts
  • Die Entstehung der bosnischen Moscheevereine in Deutschland
  • Die ersten Moscheen der SCHURA: Schiitische Moscheegemeinden
  • Teil IV: Aktueller organisatorischer Stand der DİTİB und der SCHURA
  • Die Entwicklung des Landesverbandes DİTİB und aktueller organisatorischer Stand
  • Die Entwicklung des Landesverbandes SCHURA Niedersachsen
  • Teil V: Strukturelle Integration der muslimischen Gemeinden in Niedersachsen
  • Die Etablierung des islamischen Religionsunterrichtes in Niedersachsen
  • Das Institut für Islamische Theologie an der Universität Osnabrück
  • Der Staatsvertrag in Niedersachsen – Geschichte, Entwicklung und aktueller Stand
  • Der Aufbau einer muslimischen Wohlfahrtspflege in Niedersachsen am Beispiel der Seelsorge und Sozialen Arbeit
  • Der konfessorische Beirat für Islamische Studien der Universität Osnabrück
  • VI. Zusammenfassung und Ausblick
  • Islam in Niedersachsen – Stand und Perspektiven
  • Reihenübersicht

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Zu diesem Buch: Ein Überblick

In Niedersachsen leben bis zu 300.000 Muslime, die dort auf eine jahrzehntelange Geschichte zurückblicken. Die ersten muslimischen Strukturen wurden bereits vor der Arbeitsmigration gelegt und dann stetig ausgebaut. Im Laufe der Jahre entstanden zahlreiche ethnisch-konfessionell geprägte Gemeinden, von denen sich viele – nach einer Phase der Konkurrenzkämpfe – in den beiden großen Landesverbänden DİTİB und SCHURA zusammenschlossen und zahlreiche strukturelle Prozesse, wie die Einführung des islamischen Religionsunterrichts oder die Gründung des Instituts für Islamische Theologie an der Universität Osnabrück, mitinitiierten. Im Vergleich zu vielen Bundesländern kann Niedersachsen im Kontext der integrationspolitischen Entwicklung zahlreiche Pionierarbeiten vorweisen. Vor diesem Hintergrund liefern die Erfahrungen in der Zusammenarbeit muslimischen Gemeinden wichtige Impulse für die anderen Bundesländer und für die dortigen muslimischen Gemeinden, die vor ähnlichen Integrationsherausforderungen stehen.

Um diese wichtigen Erfahrungen zu dokumentieren, wurde im Sommersemester 2016 am Institut für Islamische Theologie im Rahmen des Seminars „Muslimische Gemeinden“ ein studentisches Projekt gestartet. Die Idee entstand aufgrund der Zugangsmöglichkeiten der Studentinnen und Studenten ins empirische Feld. Ziel war es daher, auf der Basis von Interviews und historischen Analysen die Entstehung und Entwicklung der muslimischen Gemeinden in Niedersachsen zu erfassen sowie aktuelle Herausforderungen zu identifizieren. Insofern gewähren die Interviews mit vielen Pionieren und aktuellen Multiplikatoren tiefe Einblicke in die Entstehungsgeschichte sowie den Organisationsgrad der muslimischen Gemeinden. Die Beiträge unterscheiden sich allerdings qualitativ und quantitativ voneinander. Je nach Quellenlage und Anzahl der Interviewpartner fallen zudem die Informationstiefe sowie Umfang der Artikel unterschiedlich aus. Ebenso fällt die kritische Auseinandersetzung mit dem Thema je nach Studentengruppe unterschiedlich aus. In einigen Beiträgen wird die kritische Distanz gehalten, in einigen Beiträgen – auch aufgrund der sozialen und kulturellen Nähe – dagegen nicht. Daher haben einige Beiträge eher einen Dokumentationscharakter, andere dagegen eher einen wissenschaftlichen Zugang. Andererseits ←9 | 10→hat die soziale und kulturelle dazu beigetragen, dass die Interviewpartner viel offener in den Gesprächen waren.

Der Mehrwert dieser Arbeit liegt trotz der genannten qualitativen Unterschiede – neben den oben genannten tiefen Einblicken in die Entstehung der Gemeinden sowie in die gemeindeinternen Prozesse – darin, dass sie Impulse für weitere Forschungen bieten. Wichtig sind vor allem die historischen Forschungen, weil die Pioniermigranten als wichtige Zeitzeugen zunehmend nicht mehr unter uns verweilen und mit ihnen wichtige Informationen für immer verloren gehen. Eine Archivkultur wurde in vielen Gemeinden nicht gepflegt, sodass diese Epoche in der deutschen Geschichte – vor allem die Phase von 1961 bis Ende der 1970er Jahre – nur lückenhaft dokumentiert ist. Daher sollte in allen Bundesländern der Versuch unternommen werden, durch Forschungen und Studien wertvollen Materials wie alte Vereinsordnungen, Fotos, Interviews mit Pionieren usw. diese Forschungslücke zu füllen. Wie wichtig diese Arbeit ist, zeigt sich in den neueren Entwicklungen der Institute für Islamische Theologie. Hier sind zwar durch Publikationen und Medienberichte zahlreiche Informationen für die Nachwelt gesichert, dennoch müssen viele Prozesse erst durch Gespräche mit Pionieren aus Politik, Islamischen Verbänden und Universitäten beleuchtet werden. Für das Bundesland Niedersachsen soll daher mit dieser Publikation dieses genannte Ziel verfolgt werden.

Vor diesem Hintergrund werden im ersten Themenschwerpunkt zunächst die historischen und aktuellen Herausforderungen durch die Phänomene Migration und Religion am Beispiel der Muslime diskutiert. Dieser Beitrag skizziert sozusagen die Rahmenbedingungen, innerhalb derer auch die Entwicklungen in Niedersachsen zuzuordnen und zu bewerten sind. Im zweiten Themenschwerpunkt werden zunächst die beiden Landesverbände DİTİB (Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V.) und SCHURA e.V. charakterisiert. Der dritte Themenschwerpunkt richtet den Fokus auf die Gründung der ersten muslimischen Gemeinden in Niedersachsen. Dabei werden alle relevanten ethnisch-konfessionellen Strukturen berücksichtigt. Ebenso wird die Geschichte der deutschen Muslime aufgegriffen. Im vierten Schwerpunkt wird der aktuelle organisatorische Stand der beiden genannten Landesverbände erarbeitet. Die strukturelle Integration der muslimischen Gemeinden in den Bereichen des Bildungssystems (Religionsunterricht) und der Universitäten (Institute für Islamische Theologie) usw. wird schließlich ←10 | 11→im fünften Themenschwerpunkt behandelt. Insgesamt sollen alle Schwerpunkte ein historisches und aktuelles Gesamtbild der muslimischen Gemeinden liefern. Im letzten Schwerpunkt werden schließlich auf der Basis der Gesamtergebnisse die zukünftigen Themenbereiche zusammengefasst und politische sowie wissenschaftliche Perspektiven formuliert.

Rauf Ceylan

Osnabrück, August 2017

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Rauf Ceylan

Migration und Religion in Deutschland – am Beispiel der muslimischen Community

Einleitung

Die aktuellen Diskurse über die Flüchtlinge aus dem Nahen Osten sind begleitet von politischen, medialen und wissenschaftlichen Auseinandersetzungen zum Thema Islam. Diese Assoziation von „Migration und Islam“ ist nicht nur darauf zurückzuführen, dass die meisten Geflüchteten der Weltreligion des Islam angehören, sondern zugleich diese Menschen migrationstypische Integrationsphasen durchlaufen sowie neue ethnisch-religiöse Organisationsstrukturen im Aufnahmeland initiieren. Insbesondere ist Deutschland durch die Aufnahme von über einer Million – überwiegend muslimischen – Flüchtlingen mit diesem Phänomen konfrontiert. Deutschland blickt mittlerweile auf eine über fünfzigjährige Erfahrung mit muslimischen Migranten zurück, insofern sind viele aktuelle Prozesse nicht neu. Zudem integrieren sich die neuen Migranten in die vorhandenen Strukturen, die zugleich selbst einem Transformationsprozess unterworfen sind. Insofern sollen in diesem Beitrag sowohl die historischen Entwicklungen der muslimischen Migranten als auch die neuen Herausforderungen durch die Geflüchteten aufgegriffen werden, um einen analytischen Bezugsrahmen für die Entwicklungen in Niedersachsen zu gestalten.

1.„Darul-Harb“ versus „Darul-Islam“: Migration und Islam in den 1960er Jahren

Das Wechselspiel von Migration und Religion kann in der neueren deutschen Geschichte vor allem am Beispiel der muslimischen Migranten seit den 1960er Jahren vor Augen geführt werden. Seit der Ankunft der muslimischen Arbeitsmigranten ist ein komplexer Prozess zu beobachten, der sich im Zusammenspiel von migrationstypischen Fragen sowie theologischen Herausforderungen bewegt. Mit der Diskussion um die Sendung von muslimischen Arbeitsmigranten beginnt zunächst im Herkunftsland Türkei Debatten darüber, ob es einem Muslim überhaupt gestattet sei, in einem ←15 | 16→nicht-muslimischen Land zu leben. Obwohl die Gastarbeit in Deutschland ohnehin nur temporär geplant war, wurden trotzdem islamische Fatwas aus dem Mittelalter als Gegenargument für eine Migration nach Deutschland vorgelegt. Insbesondere die Anwerbung von Gastarbeiterinnen wurde im Herkunftsland – ebenso im christlich geprägten Südeuropa – mit traditionellen Argumenten problematisiert:

„Für die deutschen Anwerbeeinrichtungen war es mindestens bis zur Rezession 1967 alles andere als einfach, für die massenhaft aus Westdeutschland eingehenden Vermittlungsaufträge geeignete weibliche Arbeitskräfte in ausreichender Zahl bereitzustellen. Gerade die Anwerbung von Frauen erforderte einen vermehrten Zeit- und Verhandlungsaufwand, da sie in den Herkunftsgesellschaften auf mehr oder weniger ausgeprägten Widerstand stieß und zum Teil mit besonderen Auflagen versehen wurde. (…) Die Anwerbung junger Frauen galt insbesondere in den katholischen Ländern Italien, Spanien und Portugal als hochsensibel und wurde dort entsprechend restriktiv gehandhabt. Italienerinnen unter 21 Jahren waren grundsätzlich von der Anwerbung ausgeschlossen. Für Spanierinnen unter 21 Jahren war die Auswanderung nur ‚im Familienverband’ erlaubt, ledige Frauen unter 25 Jahren benötigten die Zustimmung der Eltern. Letzteres galt auch für minderjährige Frauen aus der Türkei. Verheiratete Türkinnen hatten der für Auswanderung zuständigen Abteilung des Arbeitsamtes eine Einverständniserklärung ihres Ehemannes vorzulegen.“1

Dass diese Debatten allerdings die Verhältnisse aus einer Epoche wiedergeben, in der oft nicht einmal das unversehrte Leben als religiöse Minderheit garantiert war, wurde nicht berücksichtigt. Tatsächlich ist in der klassischen islamischen Theologie die Welt in „Darul-Harb“ und „Darul-Islam“ eingeteilt worden. Diese polarisierte Sichtweise auf die Welt ist bereits bei den alten Römern und Griechen (Zivilisation versus Barbarismus) vorzufinden. Ebenso hat das Christentum seit seinem Aufstieg zu einer Staatsreligion im vierten Jahrhundert eine ähnliche Perspektive auf die Welt (Christen und Heidenwelt) geworfen. Vor diesem Hintergrund sind diese theologischen Debatten in den vergangenen Jahrhunderten kein genuin islamisches Phänomen. Kritisch ist jedoch, wenn man diese Polarisierung im Zeitalter der Globalisierung weiter aufrechterhält. Offensichtlich wurden die Migrationsprozesse aus islamisch geprägten Ländern sowie die Entstehung ←16 | 17→einer „muslimischen Diaspora“ in Einwanderungsländern wie in den USA, Kanada und Deutschland als Assimilationsgefahr seitens der Theologen betrachtet. Anders ist es nicht zu erklären, warum die Arbeitsmigration der türkischen Muslime in den 1960er mit überholten theologischen Ansichten problematisiert worden ist.

Obwohl sich die meisten türkischstämmigen Migranten von diesen „theologischen Hürden“ nicht abhalten lassen haben, ist davon auszugehen, dass die Angst vor einer Assimilation diese Menschen ständig mental begleitet habt. Insbesondere als die Familien in den 1970er Jahren nach Deutschland geholt wurden, hat man die religiöse Selbstorganisation intensiviert, um die traditionellen Normen und Werte aus der Herkunftsgesellschaft in den Gemeinden weiter zu pflegen.2

Diese dichotome Weltsicht blieb allerdings nicht historisch auf die 1960er und 1970er Jahre beschränkt. Denn im Laufe der muslimischen Migrationsgeschichte gab es permanent fundamentalistische Gruppen, die dieses alte Weltbild reaktiviert und sogar von fremdenfeindlichen Gruppen Unterstützung erfahren haben, weil die Idee einer Rückkehr von Migranten mit der Ideologie von Rechtsextremisten kompatibel ist. Ein Beispiel hierfür sind die engen Kontakte der Hizbu-Tahrir-Bewegung, die aufgrund – auch antiamerikanischer und anti-israelischer Einstellungen – der Idee des „Darul-Islam“ und der Implikation einer Emigration der Muslime aus westlichen Ländern, zur NPD unterhalten hat.3 In den aktuellen Debatten der Salafisten wird dieses alte Gedankengut wieder reaktiviert und eine Auswanderung in islamisch geprägte Länder postuliert.4

Vor diesem Hintergrund förderte die psychosoziale Belastung und die Assimilationsangst der muslimischen Gastarbeiter migrationstypische Begleiterscheinungen (Bedarf nach Gemeinschaft, religiöse Rückzugsorte usw.), die man – wie oben dargestellt – u.a. durch religiöse Selbstorganisationen ←17 | 18→seit den 1970er Jahren zu kompensieren versuchte. Zwar handelt es sich bei diesen Zusammenschlüssen bis heute um primär semi-professionelle Strukturen, dennoch scheinen sie aufgrund der großen Resonanz bei den Muslimen ihre Funktionen als emotionaler Zufluchtsort und identitätsstiftende Vereine zu erfüllen. Bis heute sind über 2500 muslimische Gemeinden und Vereine entstanden, von denen die meisten Hinterhofmoscheen bilden. Trotz der Zunahme der repräsentativen Bauten werden wohl diese Hinterhofmoscheen – auch aufgrund der demografischen Entwicklungen (muslimische Bevölkerung wird abnehmen) sowie der enormen Kosten für Moscheebau und Instandhaltung – ihre Bedeutung als kleine und relativ günstige Gebetsorte nicht verlieren.

2.Von „Heimatvereinen“ zu deutsch-muslimischen Gemeinden

Der ständige Ausbau muslimischer Strukturen bis in die 1990er Jahre hinein ist daher nicht nur Ausdruck der quantitativen Zunahme der Muslime in Deutschland, sondern immer der Versuch der intergenerationalen Weitergabe der religiösen Identität. Zugleich hat die Heterogenität der Sozialstruktur als auch die Angebotsstruktur durch den hohen Organisationsgrad zugenommen. Heute prägen nicht nur Moscheen die muslimische Vereinslandschaft, sondern zahlreiche soziale Einrichtungen sind hinzugetreten. Wie die Studie „Islamisches Gemeindeleben in Deutschland“ belegt, gibt es hier keine strenge Demarkationslinie zwischen rein religiösen und sozialen Vereinen. Oft haben die Moscheegemeinden ihre Angebote entsprechend der Bedürfnisse ihrer Mitglieder ausgeweitet und das ehrenamtliche Tätigkeitsspektrum hat im Zuge dessen zugenommen, wobei in sunnitisch geprägten Gemeinden wohl die Partizipation der Frauen nach wie vor gering ausfällt:

„Die meisten Gemeinden bieten weit über religiöse Dienstleistungen hinausgehende Angebote an. Orientierungshilfen für die deutsche Gesellschaft (z.B. Sozial-, Erziehungs- und Gesundheitsberatung, Hausaufgabenhilfe) nehmen einen breiten Raum ein. Zwischen religiösen und nicht-religiösen Angeboten besteht kein Konkurrenzverhältnis. Je vielfältiger das religiöse Angebot ist, desto vielfältiger ist auch das nicht-religiöse Angebot. Ein knappes Drittel der Gemeinden bietet deutsche Sprachkurse für Jugendliche an. Frauen sind bei der Teilnahme an den Angeboten der Gemeinden unterrepräsentiert, bei den religiösen Angeboten stärker als bei den ←18 | 19→nicht religiösen. Im Fall der alevitischen Gemeinden ist der Einbezug von Frauen in alle Aktivitäten eher gleichgewichtig.“ 5

Obwohl rein zeitlich gesehen der Migrationscharakter sich im Laufe der letzten fünf Jahrzehnte hätte auflösen müssen, prägt dieser Charakter (Herkunftsorientierung, Pflege der Tradition und Kultur usw.) aus folgenden vermuteten Gründen immer noch die Vereinsstrukturen:

die deutsche Integrationspolitik, die lange Zeit muslimische Gemeinden nicht als Ansprechpartner der Integrationspolitik wahrgenommen hat (bis Ende der 1990er Jahre), förderte nicht die Öffnungsprozesse. Insbesondere die jüngeren Mitglieder, die sich nach außen hin öffnen wollten, hatten kaum Chancen und Möglichkeiten zur Partizipation.

der Einfluss ausländischer Organisationen, die bis heute auf die muslimischen Gemeinden ausgeübt wird und dadurch immer wieder den Öffnungsprozess stört. Zugleich werden die Gemeinden zur Pflege von ethnisch-nationale Traditionen gedrängt.

Die Rolle der ersten und zum Teil der zweiten Generation – die noch sehr stark emotional mit dem Herkunftsland verbunden sind –, die ihre Gemeinden als auch eine Arte „Heimatverein“ betrachten, fördern damit die Herkunftsorientierung.

Die islamophoben Debatten (Islam als Ausländerreligion“) führen zu Rückzugstendenzen und Re-Ethnisierungen. Daher wird demonstrativ die Verbundenheit mit dem Herkunftsland stärker nach außen getragen, auch als Moscheeverein.

Andererseits sind in den letzten Jahren wichtige integrationspolitische Schritte unternommen worden – wie die Empfehlungen der Deutschen Islam Konferenz vor Augen führen –, welche die „Beheimatung“ des Islam hierzulande wesentlich forciert haben. Indem die muslimischen Gemeinden – vertreten durch die Islamischen Dachverbände – als politischer Ansprechpartner in wichtigen Gremien involviert wurden und zugleich partnerschaftlich mit Behörden an akuten Fragen der strukturellen Integration gearbeitet haben, sind in diesem Kontext folgende Fortschritte erzielt worden:

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die Einführung eines islamischen Religionsunterrichts, der seit Ende der 1990er Jahre in unterschiedlichen Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen zunächst als Schulversuche eingeführt und dann in ein ordentliches Unterrichtsfach überführt wurden.

Die Gründung von Instituten für Islamische Theologie, um mittelfristig deutschsprachige muslimische Theologen für die Bereiche Gemeinde, Schule, Wissenschaft und Sozialarbeit auszubilden.

Im Kontext dieser Institute sind zahlreiche Professoren berufen und Nachwuchswissenschaftler eingestellt worden, sodass eine muslimische scientific community im Entstehen begriffen ist.

der politische Wille einen muslimischen Wohlfahrtsverband zu gründen, wurde ebenfalls von den islamischen Dachverbänden begrüßt und auf der Deutschen Islam Konferenz behandelt. Die Planung eines Studiengangs „Soziale Arbeit“ am Institut für Islamische Theologie der Universität Osnabrück korrespondiert mit diesen Plänen. Langfristiges Ziel soll sein, einen weiteren konfessionellen – neben dem jüdischen, evangelischen und katholischen – Wohlfahrtsverband zu gründen.

Der Versuch der Anerkennung muslimischer Gemeinden als Religionsgemeinschaft wurde entweder wie in Hessen erfolgreich umgesetzt oder ist man anhand von Staatsverträgen wie in Hamburg einen Schritt nähergekommen.

Die Aufwertung der muslimischen Dachverbände spiegelt sich auch in den theologischen Beiräten wider, die analog zu den Kirchen bei der Berufung und Entwicklung von Lehrplänen mitbestimmen können.6

Diese Bausteine auf dem Weg zur strukturellen Integration stellen lediglich nur einige Beispiele dar. Insgesamt ist die muslimische Community auf dem ←20 | 21→Weg heimisch zu werden. Das zeigt sich nicht nur durch diese strukturelle Integration, sondern auch durch ihre zunehmende Pluralisierung, welches nur ein natürlicher Adaptionsprozess darstellt. Denn mittel- oder langfristig wird die muslimische Community ähnliche Entwicklungen wie die evangelische oder katholische Glaubensgemeinschaft durchlaufen. Dazu zählen vor allem Säkularisierungsprozesse, wobei bereits jetzt Anhaltspunkte für diese Entwicklung absehbar sind.7

Die skizzierten Fortschritte werden jedoch immer wieder aufgrund des politischen Klimas konterkariert. Charakteristisch hierfür sind vor allem außenpolitische Konflikte, die in Deutschland ausgetragen werden. Jüngstes Beispiel ist der gescheiterte Putschversuch in der Türkei im Juli 2016 und die Widerspiegelung der Konflikte in Deutschland in der türkischen Community. Insbesondere die Spionageaffäre durch die DITIB-Imame haben schließlich in Bundesländern wie in Niedersachsen zur Stagnation der Verhandlungen über einen Staatsvertrag geführt. Leidtragende der Gesprächsabbrüche auf Landesebene waren vor allem die positiven Kräfte in den Landesverbänden und insbesondere in den lokalen Gemeinden, die seit Jahren in der Dialogarbeit aktiv sind. In den meisten Bundesländern wurde die Rolle von DITIB dennoch als Kooperationspartner in Frage gestellt, obwohl die Bundesregierung – trotz der eindeutigen Kritik an der Türkei – nach wie vor an dem Dialog festhalten möchte.8

Insgesamt kann man festhalten, dass die strukturelle Integration der Muslime im Spannungsverhältnis zwischen den außenpolitischen Entwicklungen, der zunehmenden Islamophobie, der Interessenkonflikte zwischen den Landesverbänden und den Dachverbänden sowie der zunehmenden Etablierung und Gleichstellung der Muslime durch die Politik voranschreitet. Insofern ist dieser Prozess aufgrund dieser komplexen Verflechtung sehr störanfällig. So waren beispielsweise türkischstämmige Migranten in den letzten Jahren gar nicht mehr als „Problemgruppe“ stigmatisiert, sondern eher die innereuropäische Binnenmigranten wie Rumänen und ←21 | 22→Bulgaren wurden problematisiert. Doch plötzlich werden alte Debatten aus den 1980er und 1990er Jahren über türkisch-muslimische Jugendliche revitalisiert. Damals war auch durch Studien wie „Verlockender Fundamentalismus“ (Wilhelm Heitmeyer) die stärkere Hinwendung zu national-islamischen Identitätskonzepten thematisiert worden. Heute ist ein ähnlicher Tenor festzustellen, zumal die Herkunftsorientierung der dritten Generation durch die islamisch-konservative AKP-Regierung eine neue Dimension mit sich bringt.

3.Neue erste Generation – Die Herausforderungen durch die „Neuen Muslime“

Durch den Zuzug von einer Million Geflüchteten mit überwiegend muslimischer Identität aus Krisengebieten wie Syrien, erfährt die oben skizzierte Konstellation eine neue Dynamik und neue Akteure treten in das gezeichnete Beziehungsgeflecht ein. Damit ist eine neue erste Generation an Muslimen in Deutschland angekommen, die mit allen typischen migrationsbedingten Herausforderungen konfrontiert sind, die von Petrus Han für neue Zuwanderer folgenmaßen besprochen werden:

„Individuelle Migrationsentscheidung als Prozeß“: Der konkreten Migration gehe nach Han zunächst ein langer Entscheidungsprozess voraus, indem Menschen alle erforderlichen Informationen zum Zielland auswerteten. Sowohl Push- als auch Pull-Faktoren seien also entscheidende Kriterien.9

„Existentielle Unsicherheit und Orientierungsstörung als Folgen migrationsbedingter Entwurzelung und Desozialisierung“: Hierzu schreibt Petrus Han, dass der Wechsel der Gesellschaftssysteme einer „Entwurzelung“ gleichkomme. Denn durch die Migration würden „Wertvorstellungen, Verhaltensnormen und Rollenvorstellungen“ ihre Geltung verlieren. Eine komplette Neuorientierung sei daher die Konsequenz. In allen Bereichen wie Beruf, Sprache, Identität usw. seien die Migranten daher damit konfrontiert, diese Rollen und Fertigkeiten im Aufnahmeland neu zu konstruieren.10

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„Akkulturationsprozess und psychosomatische Erkrankungen der Migranten“: Aufgrund des Wechsels des Gesellschaftssystems und die damit verbundenen Orientierungsprobleme, seien viele Migranten vor allem in den ersten Jahren von psychosomatischen Krankheiten betroffen.11

„Psychosoziale Situation der Migranten als Fremde und ‚marginal man’“: Schließlich diskutiert Han die negativen Effekte der Migration, die längerfristig anhalten können. Allerdings weist er auch in Anlehnung an Robert Park darauf hin, dass durchaus der Wechsel des Gesellschaftssystems positive Errungenschaften mit sich bringen könnte. Zudem sei in Zeiten von Globalisierung ohnehin eine traditionelle Vorstellung einer Heimat zu relativieren.12

Berücksichtigt man die oben von Han systematisierten Herausforderungen für neue Migranten, dann kann man diese ebenso auf die Geflüchteten übertragen. Nicht nur das, im Vergleich zur freiwilligen Migration wurde diese Personengruppe gewalttätig aus ihren Herkunftskontext gerissen und zur Wanderung gezwungen. Daher dürften die Geflüchteten noch stärker dem „Akkulturationsstress“ sowie psychosomatischen Krankheiten ausgesetzt sein. Allerdings führen die in Deutschland gebildeten muslimischen Strukturen dazu, dass der Kulturschock reduziert wird und die muslimischen Geflüchteten eine Orientierungshilfe erhalten. Vor allem die Politik hat die infolge der massiven Zuwanderung von Geflüchteten auf die Bedeutung der muslimischen Gemeinden hingewiesen und daher gefordert, sich ehrenamtlich zu engagieren. Für die muslimischen Gemeinden – die nur über semi-professionellen Strukturen verfügen – bringt diese Aufgabe u.a. folgende Herausforderungen mit sich:

Mobilisierung von Ehrenamtlichen, da die bisherige Zahl nur für die Arbeiten in den regulären Angeboten wie Korankurse usw. reicht.

Fortbildung von Ehrenamtlichen, um auf traumatisierte Menschen adäquat eingehen zu können.

Die bereits bestehenden Sprachkurse in den Gemeinden, müssen auf diese neue Gruppe hin neu konzipiert werden.

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Enge Kooperation mit Behörden und Wohlfahrtsverbände, um Geflüchtete Menschen je nach Problemsituation zu vermitteln.

Die Aufforderung der Politik, dass die muslimischen Gemeinden sich stärker mit den Geflüchteten beschäftigen sollen, ist zwar grundsätzlich berechtigt, doch oft verfügen die Politiker nicht über realistische Informationen über die personellen und finanziellen Kapazitäten. So sind kaum Hauptamtliche in den Moscheegemeinden beschäftigt, sodass kein Fachpersonal wie Sozialpädagogen usw. anzutreffen sind. Aufgrund des Personalmangels müssen sogar einzelne Ehrenamtliche mehreren Aufgaben nachgehen (Vorstand, Jugendbetreuer, Pressearbeit usw.). Dann spielt der ethnische Charakter der Gemeinden eine Rolle, die eine natürliche Hürde darstellen können. Arabischstämmige bzw. kurdischstämmige Geflüchtete werden sich eher von Moscheegemeinden angesprochen fühlen, die dieselbe Sprache sprechen. Ferner sitzen noch zum Teil Personen aus der ersten Generation in den Vorständen, die ihre Rolle nur in der Instandhaltung der Moschee sehen (Nebenkosten, Reparaturarbeiten usw.). Schließlich finanzieren sich die Moscheegemeinden über Mitgliedsbeiträge, die bereits mit fünf Euro beginnen. Diese Beiträge reichen in der Regel gerade aus, um die Nebenkosten der Gemeinden zu decken. Die geringen Einnahmen erlauben es vielen Gemeinden auch nicht, größere Gemeinderäumlichkeiten zu erwerben, sodass man für soziale und kulturelle Angebote kaum räumliche Möglichkeiten zur Verfügung hat.13

Details

Seiten
422
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783631707593
ISBN (ePUB)
9783631707609
ISBN (MOBI)
9783631707616
ISBN (Hardcover)
9783631707586
DOI
10.3726/b12528
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Dezember)
Schlagworte
Strukturelle Integration Deutsche Konverstiten Muslimische Migranten Islamische Dachverbände Islamische Theologie Islamischer Religionsunterricht
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 422 S., 4 s/w Abb.

Biographische Angaben

Rauf Ceylan (Band-Herausgeber:in)

Rauf Ceylan ist Professor für Gegenwartsbezogene Islamforschung (Religionssoziologie) am Institut für Islamische Theologie (IIT) der Universität Osnabrück. Seine Forschungstätigkeiten sind migrations- und religionssoziologisch ausgerichtet. Er ist Mitglied im Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) und im Rat für Migration (RfM eV).

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Titel: Muslimische Gemeinden
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