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Landschaften der Wiederholung

Tschechische und slowakische Lyrik der ‹‹Latenzzeit›› 1955–1965

von Zornitza Kazalarska (Autor:in)
©2018 Dissertation 472 Seiten
Reihe: Slavische Literaturen, Band 50

Zusammenfassung

Wer auf Wiederholungen aufmerksam wird, dem erschließt sich eine Landschaft: Vergangenes und Gegenwärtiges treten in Relation zueinander; zwischen ihnen entstehen Nachbarschaften, die zuvor nicht da waren. Wiederholungen treten dabei nicht nur als Sinn- und Strukturphänomene auf, sondern schaffen Passagen zwischen Sinn und Präsenz, bringen auch Latenzeffekte hervor. Im Zentrum der Untersuchung stehen die Erscheinungsformen der Wiederholung und ihre Effekte in der tschechischen und slowakischen Lyrik der Latenzzeit 1955–1965. Wiederholungen in und zwischen Texten – Permutationen und Variationen, Zitaten und Anspielungen, Selbstzitaten und Textvarianten, Nuancen und Ähnlichkeiten – bilden hier eine virtuelle Gesamtheit, im Rahmen derer nach einer Poetik der Wiederholung gesucht wird.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort: Landschaften der Wiederholung
  • Erster Teil: Grundlagen
  • 1 Epigonenzeit. Literaturhistorische Einführung in das Jahrzehnt 1955–1965
  • 1.1 „Tauwetter“ als Metapher für Literaturgeschichte
  • 1.2 Neue Konzepte der Literaturgeschichtsschreibung
  • 1.3 Wiederholung und Literaturgeschichte
  • 1.4 Die Denkfigur der Wiederholung im literaturkritischen Diskurs
  • 1.4.1 Zwischen Zitatmanie und Zitatphobie
  • 1.4.2 Zwischen negierter und legitimierter Intertextualität
  • 2 Wiederholungseffekte. Theorie und Poetik der literarischen Wiederholung
  • 2.1 Der Begriff der Wiederholung
  • 2.2 Hauptstationen der Begriffsgeschichte
  • 2.2.1 Die Wiederholungsfigur als Assoziationsfigur
  • 2.2.2 Die Wiederholung und die strukturalistische Tätigkeit
  • 2.2.3 Der poststrukturalistische Doppelband der Wiederholung
  • 2.2.4 Platonische vs. nietzscheanische Wiederholung (Miller/Deleuze)
  • 2.2.5 Konstruktive vs. destruktive Wiederholung (Kawin/Freud)
  • 2.2.6 Rhetorische vs. ästhetische Wiederholung (Lobsien/Kierkegaard)
  • 2.2.7 Iterativität vs. Iterabilität
  • 2.3 Die Wiederholung in „pragmatischer Beleuchtung“
  • 2.4 Typologie der Wiederholungseffekte
  • 2.4.1 Sinneffekte (Erzeugung semantischer Komplexität)
  • 2.4.2 Präsenzeffekte (Inszenierung zeitlicher Präsenz)
  • 2.4.3 Präsenzeffekte (Inszenierung räumlicher Präsenz)
  • 2.4.4 „Passagen der Wiederholung“ zwischen Sinn und Präsenz
  • Zweiter Teil: Fallstudien
  • 1 Paratextuelle Figuren des Zitats in der Lyrik Miroslav Holubs
  • 1.1 Die Figur des Mottos in Slabikář
  • 1.2 Das Motto als „Extremfall des Zitierens“
  • 1.2.1 Motto-Effekte zwischen Subordination und Koordination
  • 1.2.2 Motto-Effekte zwischen Wissenschaft und Poesie
  • 1.3 Miroslav Holub zitiert William Carlos Williams
  • 1.4 Das Motto als Vorläufer der Fußnote?
  • 2 Die Gattungsregenerierung des pásmo-Gedichts
  • 2.1 Wiederholung und latente Intertextualität
  • 2.1.1 Die (Un)Möglichkeit einer Theorie der Latenz
  • 2.1.2 Über das „Erspüren“ latenter Intertextualität
  • 2.1.3 Intertextuelle Atmosphären
  • 2.2 Intertextuelle Schwindelräume: Apollinaires Zone und die Dichtergruppe Květen
  • 2.2.1 Zone als „blinder Passagier“ in der tschechischen Lyrikgeschichte
  • 2.2.2 Vorüberlegungen zu einer Raumpoetik des Schwindels
  • 2.2.3 Von Schwindellust zur Schwindelangst (Poetismus)
  • 2.2.4 Von Schwindelangst zum Gleichgewicht (Květen)
  • 2.2.5 Das pásmo-Gedicht zwischen Synthese und Analyse
  • 2.3 Figuren der Ähnlichkeit in der Lyrik Ľubomír Feldeks
  • 2.3.1 Die Entstehungsgeschichte der slowakischen Trnava-Gruppe
  • 2.3.2 Die „Unverständlichkeit“ der modernen Lyrik
  • 2.3.3 Assoziationszüge und -flüsse in Severné leto
  • 3 Die tschechische Alltagspoesie um das Jahr 1956
  • 3.1 Bedeutungsdimensionen des Alltags
  • 3.2 Der Dichter als Zeuge des Alltags
  • 3.2.1 Die neuen Alltagsmythen (Skupina 42)
  • 3.2.2 Der sozialistische Alltag (Květen)
  • 3.2.3 Die innere Wahrheit des Alltags (Šestatřicátníci)
  • 3.3 Wie spät ist es? Lyrische Zeugenschaft und die Kunst des Augenblicks
  • 3.4 Reicht das für ein Gedicht? Strategien der Sinnverweigerung
  • 3.4.1 Haikus, Epiphanien, Alltagsgedichte
  • 3.4.2 Jaromír Jermářs kleine Formen der Lyrik
  • 3.4.3 An den Grenzen des Alltagsgedichts und jenseits der Sprache
  • 4 Wiederholung und Experiment in der Lyrik Emil Juliš’
  • 4.1 Die tschechische experimentelle Poesie im internationalen Resonanzraum
  • 4.2 Emil Juliš zwischen natürlicher und künstlicher Poesie
  • 4.2.1 Ineinanderfließende Textströmungen (Půlka člověka)
  • 4.2.2 Der Text im Wasserstrudel der Zeit (Tento nedělní večer)
  • 4.3 Die Kunst der unerwarteten Nuance
  • 4.3.1 Das Ungreifbare ergreifen (Poledne)
  • 4.3.2 Über Wortwolken und Bedeutungsatmosphären
  • 5 Ján Ondruš und das Lob der Textvarianz
  • 5.1 Das Schreiben aus dem Gedächtnis (Trnavská skupina)
  • 5.2 Wiederholung und Textvarianz
  • 5.3 Ján Ondruš als wiederholender Dichter
  • 5.4 Im Spiel der Textvarianten (Civenie do ohňa)
  • 5.5 Textvarianz zwischen Leerstellen und Leere
  • Fazit: Wiederholung und Latenz
  • Literaturverzeichnis
  • Abbildungsverzeichnis
  • Namensregister

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Vorwort: Landschaften der Wiederholung

Wir sind in der Landschaft der neuen Wiederholungen
und die Stadt auf den Hügeln unter uns kommt aus der Frühe
wie aus einem Bad heraus …1
Ivan Blatný, Rundschau

Die Latenz der Texte offenbart sich, in ihrer Wahrheit wie ihrer möglichen Unwahrheit, in der Rezeption. Sie entwickelt sich entlang der Trassen ihrer philologischen Erschließung und, was dasselbe ist im Haushalt der Latenzen, ihrer Verstellung. Philologie ist nichts anderes als die Arbeit dieser Trassierung, Spurensicherung und Verwischung.2
Anselm Haverkamp, Latenzzeit. Wissen im Nachkrieg

In der ersten Verszeile seines Gedichts Rundschau (Rozhled, 1941) – „Wir sind in der Landschaft der neuen Wiederholungen“ – führt der tschechische Dichter Ivan Blatný zwei Wortfelder zusammen, deren Zusammendenken zunächst überraschen mag. Unerwartet kommt dabei weniger die paradoxe Engführung von Wiederholung und Neuheit, die (wie sich in diesem Buch noch zeigen wird) im Denken über Wiederholungen ein Topos darstellt, sondern vielmehr die durch das Genitivattribut entstandene Verknüpfung von Landschaft und Wiederholung. Mit dieser Metapher öffnet sich eine neue Perspektive auf die Figur der Wiederholung und ihre Erneuerungseffekte. Indem Wiederholungen Gegenwärtiges mit Vergangenem in Relation setzen und zwischen beiden Nachbarschaften herstellen, die zuvor nicht vorhanden waren, erzeugen sie im Auge des Betrachters Landschaften und erlauben Zugang zu nostalgischen Erinnerungs- und Traumwelten, die dem lyrischen Subjekt zuvor unzugänglich waren.

In diesem Wechselspiel zwischen Wiederholung und Landschaft verbirgt sich ein besonderer Reiz für literaturwissenschaftliche Betrachtungen von Wiederholungen in und zwischen Texten, in und zwischen literarischen Epochen. „Landschaft“ meint hier, im weit gefassten Sinne des Wortsuffixes „-schaft“ bzw. „-scape“, einen von festen topographischen Kategorien losgelösten Raum, der durch die relationale Verknüpfung zwischen Objekten konstruiert und erst durch ← 13 | 14 → ihre Interaktion untereinander geschaffen wird.3 Wenn man die Dimensionen des Landschaftsbegriffs (Mannigfaltigkeit, Neuerungsdynamik, Deutungsoffenheit)4 und insbesondere seine Metaphorik ins interdisziplinäre Begriffsfeld der Wiederholung hineinfließen lässt, so ergeben sich daraus neue theoretische und methodologische Impulse für die Lektürearbeit an literarischen Wiederholungen. „Der metaphorische Rückgriff auf die Landschaft im ästhetischen Sinne“, schreibt Eckhard Lobsien, „erweist sich als sinnfälligste Möglichkeit, um die standpunktgebundene Betrachtung eines komplizierten und zum Horizont hin immer schlechter erkennbaren oder grundsätzlich undefinierbaren Beziehungsgeflechtes zu bezeichnen.“5 Auch Wiederholungen, so könnte man Ivan Blatnýs Metapher weiterdenken, liegt ein solches „landschaftliches Prinzip“6 zugrunde. Auch sie verbinden bestimmte Elemente durch unsichtbare Kraftlinien, stellen diese in einem dynamischen und unabgeschlossenen Feld nebeneinander, tragen die Spuren ihrer beweglichen Positionen und komplexen Beziehungen in sich. Wer auf Wiederholungen aufmerksam wird, dem erschließt sich also eine Landschaft: ein „Raum, der durchlaufen werden will,“7 um das dichte Geflecht schwer erkennbarer und kaum sichtbarer Wegmöglichkeiten zu entwirren.

Im Zentrum dieser Untersuchung stehen die Erscheinungsformen der Wiederholung und ihre Effekte in der tschechischen und slowakischen Lyrik des Jahrzehnts 1955–1965. „Landschaften der Wiederholung“ lassen sich dabei aus verschiedenen Standpunkten und auf unterschiedlichen Ebenen betrachten: Epochenlandschaften, Diskurs- und Denklandschaften, Forschungs- und Theorielandschaften, Textlandschaften und intertextuelle Landschaften der Lyrik. Zwei parallel verlaufende Untersuchungslinien verflechten sich dabei: Erstens, mit den Ergebnissen der Einzelanalysen möchte ich mich an der Um- und Neuschreibung der ostmitteleuropäischen Lyrikgeschichte nach dem Jahr 1945 beteiligen; zweitens, mit der Erhebung der Wiederholung zu einem von vielen ← 14 | 15 → poetologischen Kriterien der literaturhistorischen Periodisierung möchte ich einen Beitrag zur historischen Poetik der literarischen Wiederholung leisten.

Der einführende Teil der Arbeit spaltet sich dementsprechend in zwei Kapitel. Im ersten Kapitel wird eine literaturhistorische Verortung des Jahrzehnts 1955–1965 im östlichen Europa versucht und die Beweggründe und methodologischen Prämissen für die Neuperspektivierung dieser „Übergangszeit“ erörtert. Als Ausgangspunkt dafür dient die Beobachtung, dass die Wiederholung im literaturkritischen Tauwetter-Diskurs zunehmend an Profil als Denkfigur gewinnt, und – als diskursive Dominante – überwiegend zur Bezeichnung und Bewertung von Phänomenen literaturhistorischer Reversibilität wie Rekonstruktion, Revision, Rehabilitierung, Regeneration und Rückkehr herangezogen wird. Daraus geht auch die Ausgangsfrage hervor, ob diese Denk- und Diskurslandschaft der Wiederholung, deren Konturen sich Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre allmählich abzeichnen, auf eine entsprechende Vielfalt an Praktiken und Strategien wiederholenden Schreibens verweist und möglicherweise feine Veränderungen in der historischen Semantik von Wiederholungen anzeigt.

Das zweite Kapitel skizziert einige Hauptstationen der Begriffsgeschichte der literarischen Wiederholung im 19. und 20. Jahrhundert und bringt Vorschläge zur Pragmatisierung und Operationalisierung des Begriffs für die Analysearbeit an lyrischen Texten vor. Um die Erscheinungsformen der Wiederholung zu systematisieren und ihre Effekte in und zwischen Gedichten feinfühlig zu registrieren, wird eine Typologie erstellt, der die Kriterien „Präsenz“ und „Sinn“ zugrunde liegen. Diese Kriterienwahl deutet auf den Versuch hin, literarische Wiederholungen nicht ausschließlich als Sinn- und Strukturphänomene zu denken. Vielmehr schaffen sie, so eine der Grundannahmen dieser Untersuchung, Passagen zwischen Sinn und Präsenz, bringen Effekte einer simultanen Öffnung zu beiden Phänomenbereichen hervor.

Die theoretischen Vorüberlegungen zu einer Poetik der literarischen Wiederholung werden im Hauptteil anhand von Einzelanalysen von Gedichten und lyrischen Gattungen, von Dichtergruppierungen und ihren Programmatiken illustriert. In den Werken der tschechischen und slowakischen Dichter Milan Adamčiak, Ľubomír Feldek, Miroslav Florian, Václav Havel, Miroslav Holub, Jaromír Jermář, Emil Juliš, Ján Ondruš, Jiří Paukert (alias Jiří Kuběna), Jiří Šotola und Jan Zábrana erstreckt sich eine breite Palette von intra-, inter- und autointertextuellen Wiederholungsformen: Permutationen und Variationen, Zitaten und Anspielungen, Selbstzitaten und Autorenvarianten, Nuancen, Resonanzen und Ähnlichkeiten. Diese bilden eine virtuelle Gesamtheit – eine Textlandschaft, im Rahmen derer nach einer epochenspezifischen Poetik der Wiederholung gesucht ← 15 | 16 → und somit Aufschluss über die Periodisierung der tschechischen und slowakischen Lyrik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewonnen werden kann.

Die Aufmerksamkeit im Fazit gilt dem eingangs angedeuteten Verhältnis zwischen Wiederholung und Unsichtbarkeit, zwischen Wiederholung und Latenz. Blatnýs Metapher „Landschaft der neuen Wiederholungen“, die sich auf das literaturhistorische Jahrzehnt 1955–1965 übertragen lässt, lässt sich fruchtbar zur Beschreibung und Analyse von literaturhistorischen Latenzzeiten heranziehen. Was Latenzzeiten auszeichnet, schreibt Anselm Haverkamp in seiner Monographie Latenzzeit. Wissen im Nachkrieg, liege nicht einfach auf der Hand. Für sich selbst seien sie im außergewöhnlichen Maße blind; die in ihnen verborgenen Ursprünge, Quellen oder Keime seien erst rückblickend rekonstruierbar.8 Auch dafür liefert das lyrische Schaffen Ivan Blatnýs und seine Rezeption in der tschechoslowakischen Nachkriegszeit ein einschlägiges Beispiel. Nachdem der Dichter im Jahr 1948 überraschend nach Großbritannien emigrierte, wo er bis zu seinem Lebensende in psychiatrischen Anstalten lebte und weiterhin Gedichte schrieb, geriet er in seinem ehemaligen Heimatland in Vergessenheit. Im öffentlichen Raum wurde seine Entscheidung für das Exil tabuisiert; die Rezeption seiner in den 1940er Jahren erschienenen Lyrikbände wurde verhindert; die Wahrnehmung der im Exil entstandenen Werke konnte nur über einige wenige Samizdat-Ausgaben vermittelt werden. Erst im Jahr 1963 wurden zwei seiner Gedichte in die repräsentative Lyrikanthologie A co básník? (Und der Dichter?) aufgenommen. Im nächsten Jahr tauchte sein Name in Slovník českých spisovatelů (Wörterbuch der tschechischen Schriftsteller) plötzlich wieder auf, wobei die Exil-Dichtung aus der kurzen bio- und bibliographischen Anmerkung ausgeklammert werden musste.9

Solche Phänomene des Verbergens von Quellen, des Verschweigens von Namen, des Verzögerns von Rezeptionsprozessen, des Wiederbelebens von Lyriktraditionen zeichnen das literaturhistorische Jahrzehnt 1955–1965 aus und bringen viele Fragen mit sich: „Was also passiert mit dem, was vorher war? Wie gerät etwas in Vergessenheit, wie wirkt es unterschwellig weiter und nach welchen ← 16 | 17 → Gesetzen taucht es wieder auf?“.10 Das Jahrzehnt 1955–1965 als Latenzzeit der tschechischen und slowakischen Literaturgeschichte zu bezeichnen, würde folglich bedeuten, diese Übergangsperiode nachträglich einer Analyse zu unterziehen, der sich die Literatur sowie die Literaturkritik derselben Zeit entzieht: einer Analyse der blinden Flecken, Verknotungen und Stauungen des literaturhistorischen Zeitflusses, die sich in keine chronologische Ordnung bringen lassen und schwer qualifizierbar bleiben.

Als Symptome solcher „symptomlos“ verlaufenden Latenzzeiten, „wo die Kunst, unfähig zu bilanzieren […] wiederholt, zurückholt, abweist, weitermacht“,11 können Wiederholungen interpretiert werden. Im „Dickicht der Latenzen“12 kann sich der Literaturhistoriker13 an Wiederholungsphänomenen orientieren; gleichermaßen umgekehrt: Ein dichtes Gewebe aus komplexen Wiederholungen14 kann auf literaturhistorische Latenzsituationen verweisen. Diesem Zusammenhang zwischen Latenz und Wiederholung in Literatur und Literaturgeschichte geht diese Untersuchung nach und beschreibt dabei die Stationen eines Forschungsweges, der von Wiederholungs- zu Latenzbeobachtungen führt.


1 Rozhled: „Hle, jsme v krajině nových opakování / a město na pahorcích pod námi vystupuje z jitra / jak z lázně …“. Blatný, Ivan: Landschaft der neuen Wiederholungen. Tschechisch-deutsch. Übersetzt aus dem Tschechischen von Radim Klekner. Weihermüller: Leverkusen 1992, S. 24–25.

2 Haverkamp, Anselm: Latenzzeit. Wissen im Nachkrieg. Kadmos: Berlin 2004, S. 29.

3 Cf. zur Bedeutung des Wortsuffixes „-scape“ Dünne, Jörg: „Dynamisierungen: Bewegung und Situationsbildung“. In: id./Mahler, Andreas (Hrsg.): Handbuch Literatur & Raum. De Gruyter: Berlin; Boston 2015, S. 41–54.

4 Cf. zum Begriff der Landschaft Frank, Hilmar/Lobsien, Eckhard: „Landschaft“. In: Barck, Karlheinz et al. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 3. Metzler: Stuttgart; Weimar 2001, S. 617–665.

5 Ibid., S. 663.

6 Das „landschaftliche Prinzip“ definiert Marshall McLuhan in einem Brief an Ezra Pound als „juxtaposition of forces in field“. Ibid., S. 663.

7 Collot, Michel: „Landschaft“. In: Dünne, Jörg/Mahler, Andreas (Hrsg.): Handbuch Literatur & Raum, op. cit., S. 151–159, hier S. 156.

8 Haverkamp, Anselm: Latenzzeit, op. cit., S. 83.

9 Brousek, Antonín: „Návrat ztraceného básníka“ [Die Rückkehr des verlorenen Dichters]. Kritický sborník (4) 1982, S. 10–29, hier S. 16. Brousek bezieht sich dabei auf folgende Publikationen: Šotola, Jiři/Šiktanc, Karel/Brabec, Jiří (Hrsg.): A co básník. Antologie české poezie 20. století [Und der Dichter? Anthologie der tschechischen Poesie des 20. Jahrhunderts]. Mladá Fronta: Praha 1963; Havel, Rudolf et al. (Hrsg.): Slovník českých spisovatelů [Wörterbuch der tschechischen Schriftsteller]. Československý spisovatel: Praha 1964.

10 Zumbusch, Cornelia: „Latenz in den Künsten“, retrieved 15.12.2017 from http://www.warburg-haus.de/forschung/schwerpunktthemen/. „Latenz in den Künsten“ lautete das Schwerpunktthema des Hamburger Warburg-Hauses für den Zeitraum 2017–2018; die Veranstaltungsreihe zum Thema wurde von Cornelia Zumbusch konzipiert.

11 Haverkamp, Anselm: Latenzzeit, op. cit., S. 84.

12 Ibid., S. 13.

13 Aus sprachökonomischen und stilistischen Gründen wird im Text auf die Doppelnennung femininer und maskuliner Formen verzeichtet. Stattdessen werden Kurzformen im Plural verwendet.

14 Cf. Belyj, Andrej: Masterstvo Gogol’a. Issledovanie [Die Kunst Gogol’s. Eine Abhandlung]. Gosizdat: Moskva et al. 1934, S. 247: «ткань сложного повтора».

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Erster Teil: Grundlagen

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1 Epigonenzeit. Literaturhistorische Einführung in das Jahrzehnt 1955–1965

Пришла весна

Журчат ручьи, щебечут пташки.

Опять листвой оделся лес,

Резвятся разные букашки,

Сияет солнышко с небес!

(из журнала „Новый мир“)

Весна пришла

Опять листвой оделся лес.

Сияет солнышко с небес.

Журчат ручьи, щебечут пташки.

Резвятся разные букашки.

(из журнала „Октябрь“)

Весна

Щебечут разные букашки,

Резвится солнышко с небес,

Журчит листвой одетый лес,

Опять ручьи, сияют пташки!

(из журнала „Звезда“)15

Abbildung 1: Vaca, Karel „Ohne Titel“16

illustration

Die oben angeführten Zitate aus Gedichten fiktiver sowjetischer Dichter erschienen im Mai 1957 in der tschechischen Literaturzeitschrift Literární noviny.17 ← 21 | 22 → Aus diesen repräsentativen und fast identischen Gedichtfragmenten über die Erneuerungskraft des kommenden Frühlings ergibt sich ein ironisch-sarkastisches Bild der kulturpolitischen Situation in den Ländern des Ostblocks um das Jahr 1956. Gegenstand der von Sergej Švecov parodierten „Poesie der literarischen Monatsschriften“ sind die trügerische Euphorie der herrschenden Tauwetterstimmung im Konkreten und das zweifelhafte Innovationspotenzial von Wiederholungen in Literatur und Kunst im Allgemeinen. Neben den drei Pseudo-Zitaten ließ Literární noviny ein Spottbild vom Dichter als Leierkastenmann (Abb. 1) abdrucken. Die Karikatur thematisiert zwar die zeitlose Problematik der mangelhaften künstlerischen Kreativität, verweist aber zugleich auf den epochenspezifischen Charakter der Frage „Wiederholung oder Innovation?“, der im Rahmen der zeitgenössischen Literaturdebatten erhebliche Bedeutung zugemessen wird. Das Bild des (sich) wiederholenden Dichters mit dem Leierkasten wird zu einem der emblematischen Zeichen des Jahrzehnts zwischen 1955 und 1965 in Ost- und Ostmitteleuropa; die Voraussetzungen und Umstände dieser Verwandlung stehen im Zentrum der folgenden literaturhistorischen Einführung.

1.1 „Tauwetter“ als Metapher für Literaturgeschichte

Details

Seiten
472
Jahr
2018
ISBN (PDF)
9783631753439
ISBN (ePUB)
9783631753446
ISBN (MOBI)
9783631753453
ISBN (Hardcover)
9783631749661
DOI
10.3726/b13869
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Dezember)
Schlagworte
Präsenz Intertextualität Alltag Tauwetter konkrete Poesie Atmosphäre
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2018. 471 S., 21 s/w Abb.

Biographische Angaben

Zornitza Kazalarska (Autor:in)

Zornitza Kazalarska ist Literaturwissenschaftlerin und Slawistin. Sie promovierte am Institut für Slawistik an der Humboldt-Universität zu Berlin und ist dort als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig. Ihre Forschungsinteressen umfassen die moderne Lyrik des 20. Jahrhunderts, Samizdat- und Dissidentenliteratur, Schreibszenen kleiner Formen.

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