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Alexander von Humboldt – Zwischen Europa und Amerika

Eine inhaltliche Untersuchung des Essai politique sur le royaume de la Nouvelle-Espagne unter Berücksichtigung seiner intertextuellen Bezüge

von Sebastian Krumpel (Autor:in)
©2018 Dissertation 396 Seiten
Reihe: Hispano-Americana, Band 59

Zusammenfassung

Anhand einer inhaltlichen Untersuchung der französischen fünfbändigen Oktavausgabe seines Essai politique sur le royaume de la Nouvelle-Espagne (1811), unter besonderer Berücksichtigung der intertextuellen Bezüge, wird Alexander von Humboldt auf multiplen Ebenen als Denker zwischen Europa und Amerika ausgewiesen. In seinem Werk über Neuspanien durchbricht er die Inferiorisierung amerikanischer bzw. kreolischer Wissenschaftler und schafft ein Bewusstsein fernab eurozentrischer Denkmuster. Dies äußert sich unter anderem in Humboldts unvoreingenommener intertextueller Einbeziehung von Vertretern verschiedener Strömungen der Aufklärung, insbesondere des kreolischen aufklärerischen Denkens.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • 1 Historische Grundlinien
  • 1.1 Vor Humboldts amerikanischer Reise – Europäischer Erfahrungs- und Motivationshorizont
  • 1.1.1 Spanien – Konkrete Vorbereitung auf die Reise
  • 1.1.2 Aufenthalt in Neuspanien – Informationsnetz, Begegnungen und Kontakte
  • 1.1.3 Humboldts Rückkehr und die Niederschrift des Essai
  • 1.1.4 Bonplands Werdegang nach der amerikanischen Reise
  • 1.2 Humboldts taktische Vorgehensweise
  • 2 Essai politique – Methode, Struktur, Intertext
  • 2.1 Zum strukturellen und inhaltlichen Aufbau des Essai
  • 2.2 Atlas géographique und die Analyse raisonnée
  • 2.2.1 Atlas géographique
  • 2.2.2 Zur Bedeutung der Analyse raisonnée
  • 2.3 Von den Tablas zum Essai – Eine Entwicklungslinie
  • 2.4 Ganzheit und Differenziertheit
  • 2.4.1 Das Wissenschaftsverständnis Humboldts und seine Bedeutung für die Gegenwart
  • 2.4.1.1 Kritische Betrachtung der heutigen Wissenschaftspraxis
  • 2.5 Intertextualität
  • 2.5.1 Unterschiedliche Funktionen intertextueller Bezugnahme
  • 3 Humboldt zwischen den Zeilen
  • 3.1 Strömungen der Aufklärung
  • 3.2 Das Bild des Indianers – von Kolumbus bis Rousseau. Ein kurzer ideengeschichtlicher Überblick
  • 3.3 Kritik an de Pauw, Raynal, Robertson
  • 3.3.1 De Pauw
  • 3.3.2 Raynal
  • 3.3.3 Robertson
  • 3.4 Würdigung kreolischer Wissenschaftler
  • 3.5 Instrumente, Tabellen, Statistiken
  • 3.6 Sprachen und Völker: Wilhelm von Humboldt, Herder, Schlegel
  • 3.7 Der Begriff des Gemäldes im Lichte der Romantik
  • 3.8 Jesuitische Autoren und ihr kulturelles Umfeld
  • 4 Inhalt des Essai und seine intertextuellen Bezüge
  • 4.1 Natürliche Beschaffenheit des Landes
  • 4.2 Demographische Entwicklung Neu-Spaniens
  • 4.3 Altmexikanische Kultur und Zerstörung
  • 4.4 Der Essai und Pittoreske Ansichten
  • 4.5 Ethische Aspekte
  • 4.6 Bergbau
  • 4.6.1 Geologische und metallurgische Studien
  • 4.6.2 Untersuchung einzelner Erzgänge und Ermittlung ihrer Erträge
  • 4.6.3 Zur Berechnung der nach Europa gelieferten Edelmetallmenge
  • 4.7 Landwirtschaft
  • 4.7.1 Relation zwischen Landwirtschaft und Bergbau
  • 4.7.2 Betrachtungen zur Fruchtbarkeit und Bewirtschaftung des neuspanischen Bodens
  • 4.7.3 Nahrungspflanzen und Kolonialwaren in Neu-Spanien
  • 4.7.4 Ursprung und Verbreitung von Kulturpflanzen in Amerika
  • 4.7.5 Spaniens politische Einflussnahme auf den Ackerbau in seinen amerikanischen Kolonien
  • 4.8 Handel
  • 4.8.1 Historische Grundlinien des Schiffsverkehrs zwischen Spanien und Amerika
  • 4.8.2 Spaniens wirtschaftspolitisches Kalkül im Rahmen des Comercio libre
  • 4.8.3 Aspekte, die der Entwicklung des Wirtschaftspotentials entgegenstehen
  • 5 Quantitative Analyse der intertextuellen Bezüge
  • 5.1 Auswertung der Übersichtstabelle
  • 5.1.1 Numerische Übersicht der Werke
  • 5.1.2 Herkunft der Autoren
  • 5.1.3 Schwerpunktthemen
  • 5.1.3.1 Geographie
  • 5.1.3.2 Kultur und Geschichte
  • 5.1.3.3 Bergbau und Geologie
  • 5.1.3.4 Landwirtschaft
  • 5.1.3.5 Handel und Finanzen
  • 5.1.3.6 Medizin, Botanik und Zoologie
  • 5.1.3.7 Weitere Themenschwerpunkte
  • 5.2 Zeitschriften
  • 5.2.1 Amerikanische Fachzeitschriften
  • 5.2.2 Europäische Fachzeitschriften
  • 5.3 Handschriften und Archivarbeit
  • 5.3.1 Zur Bedeutung von Handschriften und der Archivarbeit in Mexiko
  • 5.3.2 Manuskripte zur altamerikanischen Kultur
  • 5.3.3 Manuskripte aus jüngerer Zeit
  • 5.4 Expeditionen und Reiseberichte
  • 5.4.1 Einführung zur allgemeinen Typologie, Evaluation und Bedeutung von Reiseliteratur zu Lateinamerika
  • 5.4.2 Einbindung von Expeditions- und Reiseberichten im Essai
  • 5.5 Humboldts Verweise auf intertextuelle Bezüge
  • 6 Zur Bedeutung des Essai für Mexiko
  • 6.1 Entdeckung und Identität
  • 6.2 Humboldts Essai zur Reorganisation des Landes
  • 6.3 Mexikanische Rezeptionen des Essai
  • 7 Schlussbetrachtung
  • 8 Anhang
  • 8.1 Tabellarische Übersicht der intertextuellen Bezüge
  • 8.2 Abkürzungsverzeichnis zur tabellarischen Auswertung
  • 8.3 Abbildungsverzeichnis
  • 8.4 Tabellenverzeichnis
  • 8.5 Literaturverzeichnis
  • Reihenübersicht

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Einleitung

Finanziell unabhängig und frei von politischen Interessen und Verpflichtungen bewegte sich der sprachgewandte preußische Kosmopolit Alexander von Humboldt zwischen zahlreichen Ländern Europas und jenen Kontinenten, die er auf seinen umfangreichen und langen Forschungsreisen wissenschaftlich erschloss. Dabei löste er sich von dem eurozentrischen Systemdenken sowie den Vorurteilen der Philosophie und Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts und schuf auf der Grundlage eigener Ideen von Transdisziplinarität, Interkulturalität und Kosmopolitik eine Wissenschaftskonzeption, welche die empirisch gewonnenen Ergebnisse seiner mannigfaltigen natur- und kulturwissenschaftlichen Forschungsarbeiten nicht in ihrer jeweiligen Isoliertheit betrachtete, sondern den ihnen zugrunde liegenden inneren Zusammenhängen und Wechselbeziehungen nachging. Zu diesem Zweck bediente sich Humboldt eines transnationalen Wissensreservoirs, das er zu einem länder- und sprachübergreifenden Wissensnetzwerk verband und bewegte sich in einem literarischen Raum, dem einseitige Beschränkungen auf europäische oder amerikanische Autoren fremd waren. Es war für ihn essentiell, die Denkmuster einer europäischen Wissenschaft zu überwinden, die alles, was in Abgrenzung zu der eigenen Sichtweise stand, als inferior ansah. Er vertrat die Überzeugung, dass ein grundlegendes Verständnis anderer Kulturen die Einsicht in das Vorhandensein einer Pluralität kulturell bedingter Perspektiven voraussetzt. Fremderkenntnis konnte für ihn nicht aus einem rein europäischen Denken und einer einzigen Sprache entstehen; nur durch das Bestreben und die Fähigkeit zur Relativierung der eigenen, bei gleichzeitiger Annahme der fremden Anschauung, sei die Wahrnehmung des Anderen und letztlich das bessere Verstehen des Eigenen möglich. Die sich in solchen Ansichten widerspiegelnden moralischen Bemühungen Humboldts zielten auf das Ideal einer gerechteren und friedvolleren Welt mit einer von kolonialer Abhängigkeit befreiten multipolaren Ordnung, in der die gleichwertige gesellschaftliche Integration der Indianer sowie die Abschaffung der Sklaverei eine notwendige Bedingung für einen dauerhaften Frieden innerhalb der Gesellschaften darstellen. Zu internationalem Ruhm verhalf ihm vor allem seine fünfjährige amerikanische Forschungsreise, während der er zwischen 1799 und 1804 die heutigen Staaten Venezuela, Kuba, Kolumbien, Ekuador, Peru und Mexiko bereiste. Im Vergleich mit den übrigen spanischen Besitzungen nahm Neuspanien für Humboldt eine herausragende Stellung ein; einerseits hinsichtlich seiner reichen natürlichen Ressourcen (Ackerbau, Bergbau), andererseits aufgrund seiner weltwirtschaftlich ← 11 | 12 → vorteilhaften geographischen Lage zwischen dem Pazifischen und dem Atlantischen Ozean. Hierbei ging es ihm nicht um die Festigung einer europäischen geostrategischen und ökonomischen Hegemonie, sondern um den politischen Eigenwert des Vizekönigreichs und dessen transatlantische sowie transareale Verflechtung und Vernetzung.1 Sein Aufenthalt in Neuspanien (1803–1804) umfasste den geografischen Raum des ehemaligen aztekischen Kernlandes von Acapulco am Pazifischen Ozean bis Veracruz am Atlantischen Ozean, mit einem längeren Forschungsaufenthalt in Mexiko-Stadt. Humboldts Betrachtungen über Neuspanien als Teil eines globalen Weltzusammenhanges erhalten ihren spezifischen Ausdruck in seinem Essai politique sur le royaume de la Nouvelle-Espagne.2 In dieser insgesamt (inklusive der Analyse raisonnée) 2.133 Seiten umfassenden fünfbändigen Oktavausgabe werden explizit Themen der Geographie, Demographie, Altamerikanistik, Agrarwirtschaft, Industrie, Verwaltungsgliederung sowie des Bergbaus, Handels und Staatshaushaltes behandelt. Durch die Wahl der literarischen Form des Essai gelingt es Humboldt, fern von einem streng formal orientierten Aufbau, die Darlegungen seiner Forschungsarbeiten an allgemeinen Verständigungshorizonten auszurichten und die wechselseitigen Zusammenhänge von kulturellen, gesellschaftlichen, naturwissenschaftlichen und politischen Themen zu verdeutlichen. Hierbei erschöpfen sich für ihn die Beschreibungen von Phänomen nicht in einem aus rein empirischen Daten geformten Wissen; vielmehr setzt er dieses Wissen in Relation zu ethischen und ästhetischen Aspekten, um ein umfassendes und lebendiges Bild Neu-Spaniens zu vermitteln. Auffällig ist, dass Humboldt zwischen den Begriffen Mexiko und Neuspanien keine eindeutige Linie zieht. Gleich zu Beginn des Essai3 kommt er zwar auf die ← 12 | 13 → Bedeutung und den indianischen Ursprung des Wortes Mexiko4 zu sprechen und gibt Auskunft über die geografische Ausdehnung Neu-Spaniens5, vermeidet jedoch eine klare Abgrenzung zwischen beiden Begriffen und gebraucht sie weitgehend synonym.

Nur mit Blick auf Humboldts gesamtes amerikanisches Reisewerk Voyage aux régions équinoxiales du Nouveau Continent kann der Essai vollends verstanden werden. Humboldt selbst weist in seiner Relation historique darauf hin, dass seine und Aimé Bonplands Forschungsgegenstände so vielfältig waren, dass die Autoren den Bericht über deren Resultate auf mehrere Einzelwerke verteilen mussten. Die Bearbeitung sei jedoch „dans le même esprit“ geschehen und die behandelten Themen stünden in Beziehung zueinander.6 Den Auftakt zum amerikanischen Reisewerk bildet der 1807 erstmalig auf Französisch erschienene Essai sur la géographie des plantes accompagné d’un tableau physique des régions équinoxiales. Im gleichen Jahr brachte Humboldt eine veränderte deutsche Fassung mit dem Titel Ideen zu einer Geographie der Pflanzen nebst einem Naturgemälde der Tropenländer heraus.7 Die Erstauflage des Essai politique sur le royaume de la Nouvelle-Espagne erschien zwischen 1808 und 1811. Dem folgten die Vues des Cordillères et Monumens des Peuples Indigènes de l’Amérique ← 13 | 14 → (1810–1813)8. Sein Essai politique sur l’Île de Cuba wurde 1826 veröffentlicht. In den Jahren 1814, 1819 und 1825 erschien die Relation historique du voyage aux régions équinoxiales du Nouveau Continent9 in drei Bänden, in denen er in einer zeitlichen Abfolge seinen Reiseverlauf schilderte.10 Neben seinem Essai politique sur le royaume de la Nouvelle-Espagne wurde die Relation historique zu einem grundlegenden Werk, was das „[…] Selbstverständnis Lateinamerikas im 19. und auch noch im 20. Jahrhundert […] von Bolívar über Martí bis in die heutige Zeit entscheidend mitgeprägt [hat].“11 Die Relation historique blieb allerdings fragmentarisch, da Humboldt wegen seiner Reise nach Asien beim Schreiben des dritten Bandes nur bis zur Ankunft in Kolumbien kam. Zu einem vierten Band, in dem er ausführlich seine Reise in den Andenraum darstellen wollte (welcher die heutigen Staaten von Kolumbien, Ecuador und Peru umfasste), kam es nicht mehr.12 Zwischen 1809 und 1814 wurde die deutsche Übersetzung des Essai veröffentlicht, jedoch in gekürzter Form und ohne deutsche Fassung des Atlas‘. Die englische Übersetzung von John Black wurde 1811 vom Londoner Verlag Longman herausgegeben, während die italienische Publikation zwischen 1827 und 1829 nach der zweiten französischen Ausgabe im Jahr 1827 erschien. Nach Teilübersetzungen im spanischen Kulturraum kam 1822 in Paris ← 14 | 15 → beim Verlag Rosa eine Gesamtübersetzung in spanischer Sprache heraus, der fünf Jahre später (1827) eine zweite Auflage folgte.13

Um eine authentische Untersuchung vornehmen zu können, wurde für diese Arbeit auf die französische fünfbändige Oktavausgabe des Essai von 1811 zurückgegriffen. Diese Erstausgabe, die in Paris veröffentlicht wurde, schrieb Humboldt auf Französisch, weil es als anerkannte Wissenschaftssprache galt und der Verbreitung seines Werkes förderlich war. Es kam ihm dabei zugute, dass er Jahre seines Lebens in Paris verbracht hatte und Französisch perfekt beherrschte.14

Auf dieser Basis ist es das Anliegen vorliegender Arbeit, anhand einer inhaltlichen Untersuchung des Mexiko-Werkes, unter besonderer Berücksichtigung der intertextuellen Bezüge, Humboldt auf multiplen Ebenen als Denker zwischen Europa und Amerika, und mehr noch, als Vordenker einer globalisierten Wissenschaft auszuweisen. Zu diesem Zweck wird der Essai vorrangig unter drei Blickwinkeln analysiert: 1) Einerseits sind all jene Aspekte von Interesse, die als konstitutives Element Humboldts geistigen, auf ganzheitliches Denken ausgerichteten Hintergrund beleuchten, der sich in (a) seinem Wissenschaftsverständnis, (b) seinem Welt- und Menschenbild, sowie (c) seinen ethischen Überzeugungen spiegelt. 2) Andererseits erfolgt eine differenzierte inhaltliche Untersuchung der konkreten thematischen Schwerpunkte aller fünf Bände, aus der der äußerst komplexe und vielschichtige Charakter der Humboldt’schen Studien hervortritt. 3) Schließlich wird auf der Grundlage der für diese Untersuchung eigens erstellten Übersichtstabelle (Tabelle 5, siehe Anhang) eine quantitative Auswertung der von Humboldt herangezogenen internationalen Literatur durchgeführt.

Die vorliegende Arbeit gliedert sich in folgende Kapitel:

1. Zu Beginn werden historische Grundlinien skizziert, die für das Verständnis des Essai erforderlich sind. In drei Schritten wird darauf eingegangen, was Humboldt vor seiner amerikanischen Reise im europäischen Kulturraum und speziell in Spanien kennenlernte, was er während seines Aufenthaltes im Vizekönigreich Neuspanien tat und was er nach seiner Rückkehr von der amerikanischen Reise bei der Niederschrift seines Essai in Paris integrierte. Zuerst werden mit Blick auf den Essai verschiedene Gesichtspunkte betrachtet, ← 15 | 16 → welche die Bedeutung der europäischen Vorbereitungszeit für seine amerikanische Reise verdeutlichen. Das sind u. a. seine Bekanntschaften mit Kollegen aus Neuspanien, die er an der Bergakademie in Freiberg knüpfte und Kontakte zu französischen und spanischen Wissenschaftlern. Ebenso wichtig waren für ihn Besuche von botanischen Gärten und Archiven sowie die Sammlung von Daten, die auf französischen und spanischen Expeditionen erhoben wurden, einschließlich geologischer und astronomischer Untersuchungen. Die Ausführungen finden ihren Abschluss mit Blick auf das taktische Verhalten des protestantischen preußischen Barons Alexander von Humboldt bezüglich der Vorgehensweise bei der Realisierung seiner amerikanischen Reise. Im zweiten Schritt wird Humboldts Aufenthalt im Vizekönigreich Neuspanien erörtert. Im Mittelpunkt stehen dabei Kontakte und Begegnungen, die seine Reise und Forschungstätigkeit förderten. So wird neben dem Vizekönig auf den Kreis von spanischen Beamten hingewiesen, die seine wissenschaftliche Tätigkeit unterstützten. Im dritten Schritt finden jene Aspekte Berücksichtigung, die bei der Verfassung des Essai zusätzlich eingearbeitet wurden. Dazu gehören u. a. Archivstudien in Rom und Madrid.

2. Methode, Struktur, Inhalt und Intertext des Essai werden in diesem Kapitel behandelt. Hervorgehoben wird die Bedeutung der geografischen-astronomischen Einleitung für das Mexiko-Werk, die vordergründig Einblick in Humboldts kartographische Methodik gibt, gleichzeitig aber auch die Funktion eines Bindeglieds einnimmt, das den Leser an eine Essai-Atlas gesteuerte Lektüre heranführt. Dabei werden auch der Atlas géographique et physique du royaume de la Nouvelle-Espagne und die Tablas geográfico politicas del Reino de Nueva España in die Untersuchungen mit einbezogen. Da die globale Denkweise und der Kulturvergleich Humboldts ein zentrales Kettenglied für das inhaltliche Verständnis des Essai bilden, wird in diesem Kapitel auch die Frage nach seinem Wissenschaftsverständnis erörtert mit einem Exkurs zu dessen Bedeutung für die Gegenwart. Daran anschließend wird auf die Bedeutung von Intertext bzw. intertextuellen Bezügen eingegangen, mithilfe derer Humboldt seinen Diskurs über Neuspanien stützt.

3. Für Alexander von Humboldt waren die Wahrnehmung des Eigenwerts fremder Kulturen sowie die Toleranz und der Respekt ihnen gegenüber von grundlegender Bedeutung. Hierin unterschied er sich von der vorwiegend eurozentrischen Perspektive der Aufklärung des 18. und 19. Jahrhunderts. Im Essai äußert sich sein kosmopolitisches Denken in seiner Offenheit gegenüber jeder aufklärerischen Strömung. Es wird aufgezeigt, inwiefern sich die Strömungen (Weimarer Klassik, Berliner Aufklärung, Ideale der Französischen ← 16 | 17 → Revolution, kreolische Aufklärung, spanische Aufklärung, nordamerikanische Aufklärung) mit unterschiedlichen intertextuellen Bezügen zu Autoren und ihren Arbeiten im gesamten Essai widerspiegeln. Desweiteren ist unter verschiedenen Gesichtspunkten seine Abkehr vom europäischen philosophischen Systemdenken seiner Zeit von Interesse. Für ihn entsprach ein vorwiegend konjekturales Vorgehen, das jeglicher objektiver und aktueller Erkenntnisse über den Neuen Kontinent entbehrte, nicht seinem Verständnis von Wissenschaft. Damit verbunden ist ebenso seine strikte Ablehnung der Auffassung von einer Inferiorität Amerikas.

4. Eine differenzierte inhaltliche Untersuchung der konkreten thematischen Schwerpunkte der fünf Bände erfolgt im vierten Kapitel. Hier verdeutlicht die Untersuchung seine perspektivische Flexibilität, die mithilfe der Methode des Vergleichs und durch einen Blick nach innen das historische, kulturelle, ökonomische und politische Selbstverständnis Neuspaniens bestärkt und zugleich das Vizekönigreich, in Verbindung mit dem gesamten Neuen Kontinent, in das Licht eines globalen Zusammenhangs rückt. In Anbetracht der im Essai enthaltenen Fülle intertextueller Bezüge zeigen ausgewählte Beispiele, wie Humboldt sie in seinem Diskurs über Neuspanien mit seinen eigenen Forschungen vernetzt.

5. Auf der Grundlage der im Anhang beigefügten Übersichtstabelle (Tabelle 5) wird eine quantitative Auswertung der von Humboldt herangezogenen Literatur vorgenommen. Dabei werden unterschiedliche Schriftwerke (Zeitschriften, Manuskripte, Karten etc.), die nationale Zugehörigkeit der Autoren sowie die behandelten Themenbereiche bezüglich ihrer Gewichtung zwischen jenen aus Europa und Amerika analysiert. In diesem Zusammenhang erfolgt eine separate Darstellung von Bezugstexten, die im Essai politique einen hervorgehobenen Stellenwert einnehmen (Reiseberichte, Fachzeitschriften und Manuskripte). Seine Auswertung u. a. des Mercurio Peruano und der Gazeta de México hat, wie auch die von ihm in Archiven gefundenen Handschriften, zu einer inhaltlich vertieften Darlegung historischer Ereignisse und des aufklärerischen Denkens im Essai beigetragen. Im Rahmen der kritischen Auseinandersetzung mit der Tabelle wird ebenfalls auf Humboldts Umgang mit der Angabe von Bezugstexten eingegangen.

6. Im Mittelpunkt des letzten Kapitels steht die Frage nach der Bedeutung des Essai für Mexiko nach der Erlangung der Unabhängigkeit von Spanien. Humboldt hatte nach der Niederschrift in Paris aufmerksam die weitere Entwicklung in Mexiko verfolgt. In historischen Grundzügen werden politische Entwicklungslinien nach seiner Rückkehr dargelegt. Lucas Alamán hatte ← 17 | 18 → Humboldt 1824 eingeladen, nach Mexiko zu kommen. Das kam seinem Vorhaben, wie er seinem Bruder Wilhelm mitteilte, entgegen, dort ein großes Zentralinstitut der Naturwissenschaften des freien Amerika zu gründen.
Dazu kam es zwar nicht, aber dies ist auch ein Anlass zu fragen, wie heute, nach fast 200 Jahren, Humboldts Essai in Mexiko rezipiert wird. Aus diesem Grund werden in diesem Kapitel anhand ausgewählter Beispiele vier verschiedene Rezeptionsebenen in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt. Erstens die sozialkritisch-philosophische, zweitens die soziologisch-wissenschaftstheoretische, drittens die landeskundliche und viertens die literarische Ebene.


1 Vgl. Jensen, Henning; Mackenbach, Werner: Vorwort. In: Zentralamerika – Centroamérica – Alexander von Humboldt. Herausgegeben von Héctor Pérez Brignoli 2011, S. viii–xv, S. xii. <http://www.avhumboldt.de/wp-content/uploads/2011/11/A.v.Humboldt-Centroam%C3%A9rica_Zentralamerika.pdf> (16.04.2017).

2 Der Essai politique sur le royaume de la Nouvelle-Espagne wurde erstmals zwischen 1808 und 1811 in 2 Quartbänden veröffentlicht; 1811 erschien er in 5 Oktavbänden. Der Inhalt ist in beiden Auflagen gleich, sie unterscheiden sich lediglich in der Paginierung. Vgl. Leitner, Ulrike: Humboldt’s works on Mexico. In: HiNInternationale Zeitschrift für Humboldt-Studien I, (2000) H. 1, o. S. <http://www.hin-online.de>. Die vorliegende Arbeit nimmt Bezug auf die französische Originalausgabe: Humboldt, Alexander von: Essai politique sur le royaume de la Nouvelle-Espagne. Paris: Oktavausgabe in 5 Bänden, F. Schoell 1811.

3 Wenn im Folgenden die Begriffe Essai oder Essai politique verwendet werden, geschieht dies stets mit Bezug auf den Essai politique sur le royaume de la Nouvelle Espagne.

4 Vgl. Humboldt, Alexander von: Essai politique sur le royaume de la Nouvelle-Espagne. Tome premier, S. 219.

5 „La dénomination de Nouevelle Espagne désigne, en général, la vaste étendue du pays sur laquelle le vice-roi du Mexique excerce son pouvoir. […] Le nom de Nouvelle Espagne fut d’abord donné, l’année 1518, qu’à la province de Yucatan. […] Cortez, dans sa première lettre adressée à l’empereur Charles-Quint, en 1520, étend déjà la dénomination de Nouvelle Espagne à tout l’empire de Montezuma.“ Humboldt, Alexander von: Essai politique sur le royaume de la Nouvelle-Espagne. Tome premier, S. 215 u. 217. Dt. Übers.: „Unter der Benennung Neu-Spanien begreift man überhaupt die ungeheure Länderstrecke, welche der Botmäßigkeit des Vice-Königes von Mexico unterworfen ist. […] Der Name Neuspanien ward zuerst im J. 1516 und zwar allein der Provinz Yucatan beigelegt. […] In seinem ersten Briefe an Kaiser Carl den Fünften, im Jahre 1520, dehnt Cortes schon die Benennung Neu-Spanien auf Motezuma’s ganzes Reich aus.“ Humboldt, Alexander von: Versuch über den politischen Zustand des Königreichs Neu-Spanien. Erster Band, S. 5 u. 6.

6 Vgl. Humboldt, Alexander von/Bonpland, Aimé: Voyage aux régions équinoxiales du Nouveu Continent, fait en 1799, 1800, 1801, 1802, 1803 et 1804. Première Partie. Relation historique. Tome premier. Paris: J. Smith et Gide Fils 1814 [–1817], S. 1.

7 Neben den Ideen zu einer Geographie der Pflanzen erschienen 1808 die Ansichten der Natur. Beide Werke blieben die einzigen, die Humboldt in deutscher Sprache verfasste.

8 Wenn im Folgenden aus den Vues des Cordillères et monumens des peuples indigènes de l’Amérique zitiert oder Bezug auf sie genommen wird, geschieht dies stets anhand der deutschen Übersetzung: Humboldt, Alexander von: Ansichten der Kordilleren und Monumente der eingeborenen Völker Amerikas. Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer. Editiert und mit einem Nachwort versehen von Oliver Lubrich und Ottmar Ette. Frankfurt am Main: Eichborn Verlag 2004.

9 Für eine Übersicht aller zum amerikanischen Reisewerk gehörenden Werke vgl. Unterpunkt 1.1.3.

10 Wenn im Folgenden aus der Relation historique du voyage aux régions équinoxiales du nouveau continent zitiert oder Bezug auf sie genommen wird, geschieht dies stets anhand der deutschen Übersetzung: Humboldt, Alexander von: Reise in die Äquinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents. 2 Bde. Herausgegeben von Ottmar Ette. Mit Anmerkungen zum Text, einem Nachwort und zahlreichen zeitgenössischen Abbildungen sowie einem farbigen Bildteil. Frankfurt am Main: Insel Verlag 1991.

11 Ette, Ottmar: Der Blick auf die Neue Welt. Nachwort. In: Humboldt, Alexander von: Reise in die Äquinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents. 2. Bd. Herausgegeben von Ottmar Ette. Mit Anmerkungen zum Text, einem Nachwort und zahlreichen zeitgenössischen Abbildungen sowie einem farbigen Bildteil. Frankfurt am Main: Insel Verlag 1991, S. 1563–1597, S. 1588.

Details

Seiten
396
Jahr
2018
ISBN (PDF)
9783631771464
ISBN (ePUB)
9783631771471
ISBN (MOBI)
9783631771488
ISBN (Hardcover)
9783631770153
DOI
10.3726/b14810
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Januar)
Schlagworte
Neuspanien Mexiko Intertextualität Amerikanisches Reisewerk Politischer Essai
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2018. 391 S., 5 Tab., 2 Graf.

Biographische Angaben

Sebastian Krumpel (Autor:in)

Sebastian Krumpel studierte Internationale Fachkommunikation an der Hochschule Madgeburg-Stendal und promovierte am Institut für Romanistik an der Universität Potsdam. In seinen wissenschaftlichen Arbeiten setzte er sich mit Alexander von Humboldts politischem Essai über Neuspanien auseinander.

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Titel: Alexander von Humboldt – Zwischen Europa und Amerika
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