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Entkoppelte Gesellschaft – Ostdeutschland seit 1989/90

Band 2: Umbau

von Yana Milev (Autor:in)
©2019 Monographie 494 Seiten

Zusammenfassung

Seit das «Ende des Kommunismus» auf 1990 festgeschrieben und der «Unrechtsstaat DDR» der Justiz übergeben wurde, inszenieren neue Institutionen, Stiftungen und Behörden auf Bundesebene den ökonomischen, kulturellen und moralischen Erfolg des Rechtsstaates. Dabei wird die Mehrheit der Neubürger mit Schockereignissen des krassen sozialen Wandels und der gesellschaftlichen Stigmatisierung konfrontiert. Konzepte wie «Transformation», «Modernisierung» und «Demokratisierung» treten als Euphemismen auf, die über eine neoliberale Annexion der «Neuländer» hinwegtäuschen. Das Investmentprojekt «Aufschwung Ost» ist ein Laborfall der Globalisierung. Über eine Aufarbeitung der DDR im Totalitarismus- und Diktaturenvergleich hinaus ist eine politische Soziologie der Landnahme, des Gesellschaftsumbaus und des strukturellen Kolonialismus in Ostdeutschland längst überfällig. Das Forschungsprogramm «Entkoppelte Gesellschaft. Liberalisierung und Widerstand in Ostdeutschland seit 1989/90. Ein soziologisches Laboratorium» will im dreißigsten Jahr der «Einheit» diesem Thema mit einer mehrbändigen Publikation Rechnung tragen.
Der Band «Umbau» analysiert das Einrücken der Gesetzeskraft des Kernstaates in das Beitrittsgebiet und belegt die Vollstreckung und Verwerfung der ostdeutschen Gesellschaft. Entgegen herrschender Meinung wurde die Ermächtigung für die Übernahme der DDR durch die BRD nicht von der DDR-Bevölkerung erteilt. Der vorliegende Band leitet die Zusammenhänge einer bis heute wirkenden Kulturkatastrophe her, deren Aufarbeitung erst am Anfang steht.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titelseite
  • Impressum
  • Inhalt
  • Anschluss, Umbau und Exil in Ostdeutschland seit 1989/90 (2)
  • Wer profitiert eigentlich von der unvollendeten „Einheit“?
  • 1. Liberalisierung statt Friedensverträge: Die Demokratieräson des Westens und die offene Deutschlandfrage
  • 1.1. Komplizenschaft der West-Alliierten mit den Alt-Eliten
  • 1.2. Die Besatzungszone der West-Alliierten – ein neoliberaler Schurkenstaat?
  • 2. Besatzungszustand und offene Deutschlandfrage – welche Vorteile ergeben sich daraus für den alliierten Westen?
  • 3. Nichtvollendete deutsche Einheit
  • 3.1. Artikel 23: Kolonisierungsmandat oder „Königsweg zur Einheit“?
  • 3.2. „Die große Preisfrage bleibt: Wann wird Deutschland wirklich souverän – 1991,1992 oder gar später?“
  • 4. Die Löschung der DDR beginnt mit ihrer Herabsetzung zur Fußnote der Deutschen Gesellschaftsgeschichte
  • 5. Wer profitiert von der unvollendeten „Einheit“?
  • Teil 2: Umbau
  • 1. Global Governance: Die Willkür der enthegten Governance
  • 2. Responsibility to Protect (R2P): Die demokratische Wohltätigkeitsfassade der neoliberalen Entkopplung
  • 3. Zum Beispiel Chemnitz
  • 4. „Die DDR ist überall“: Ein Modellfall des neoliberalen Gesellschaftsumbaus
  • A / Gewalten
  • 1. Staatensukzession und Subjektlöschung in 1 Ostdeutschland seit 1990
  • 1.1. Die Staatensukzession von der BRD I zur BRD II
  • 1.2. Die Staatensukzession von der BRD I zur BRD II als völkerrechts- und verfassungsrechtsverletzende Handlung
  • 1.3. Die Staatensukzession von der BRD I zur BRD II als staatsrechtsverletzende Handlung
  • 1.4. Die Staatensukzession von der BRD I zur BRD II als menschenrechtsverletzende Handlung
  • 2. Gesetzeskraft und Gesetzesreform in Ostdeutschland seit 1990
  • 2.1. Die vier Staatsverträge
  • 2.1.1.  Erster Staatsvertrag: Die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion (WWSU) und das Treuhandgesetz (TreuhG), synchron Restitutionsgesetz (EALG)
  • 2.1.2. Zweiter Staatsvertrag: Der Einigungsvertrag (EV) im Anschluss an den Beitrittsbeschluss und die Verordnungsermächtigung zum EV (Einigungsvertragsgesetz, EVG)
  • 2.1.3. Dritter Staatsvertrag: Der Zwei-plus-Vier-Vertrag (Regelungsvertrag)
  • 2.1.4. Vierter Staatsvertrag: Die EG-Recht-Überleitungsverordnung (die ‚‚stille‘‘ EU-Erweiterung)
  • 2.1.5. Fünfter Staatsvertrag: Rundfunkstaatsvertrag (RStV)
  • 2.2. Öffentliches Recht: Das Grundgesetz (GG) – ist keine Verfassung
  • 2.3. Privates Recht: Das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB)
  • 2.3.1. Das BGB als Schutzverantwortung der Privatautonomie
  • 2.3.2. Der Einzug der privatautonomen Freiheitsmandanten in den Ostländern und die rückwirkende Verurteilung der privatrechtlichen Einschränkung ab 1945 als Unfreiheit und als Unrecht an der Privatautonomie, deswegen „Unrechtsstaat“
  • 2.4. Tabelle der einrückenden Gesetze in das Beitrittsgebiet zwischen 1990 und 1994, chronologisch per Ausfertigung ab 18. März 1990
  • B / Vollstreckung
  • 3. Vollstreckung und Löschung in Ostdeutschland seit 1989/90
  • 3.1. Die DDR auf dem Vollstreckungs- und Übernahmemarkt
  • 3.1.1. Die Umkehrung der treuhändischen Modernisierungsdevise „Sanierung vor Privatisierung“ zur Vollstreckungsdevise „Privatisierung vor Sanierung“
  • 3.2. Die Treuhand AG (THA) 1990 – 1994
  • 3.2.1. Der Beschluss der Reformregierung Modrow über eine Anstalt zur treuhändischen Verwaltung des volkseigenen Vermögens (VV)
  • 3.2.2. Die Pervertierung des Modrow'schen Treuhandgesetzes vom 1. März 1990 durch die Regierung de Maizière
  • 3.2.3. Die neoliberale Übernahme des volkseigenen Vermögens durch die THA
  • 3.2.4. Der THA-Kriminalskandal
  • 4. Industrie
  • 4.1. Vollstreckung und Löschung der volkseigenen Betriebe (VEB), der Produktionsgenossenschaften des Handwerks (PGH) und der Kombinate
  • 4.1.1. Liste der durch die Treuhand AG liquidierten volkseigenen Betriebe (VEB) und PGH
  • 4.1.2. Liste der durch die Treuhand AG liquidierten oder teilübernommenen Kombinate
  • 5. Landwirtschaft
  • 5.1. Vollstreckung, Löschung und Umwandlung der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) und der volkseigenen Güter (VEG)
  • 6. Medien
  • 6.1. Vollstreckung und Löschung der DDR-Verlage
  • 6.1.1. Liste der durch die Treuhand AG liquidierten volkseigenen Verlage
  • 6.2. Vollstreckung und Löschung der Zeitschriften, Magazine und Fachjournale
  • 6.2.1. Liste der durch die Treuhand AG liquidierten Zeitschriften, Magazine und Fachjournale
  • 6.2.2. Abwicklung und Übernahme der DDR-Tageszeitungen
  • 6.2.3. Tabelle der abgewickelten und von Medienkonzernen übernommenen DDR-Tageszeitungen
  • 7. Kultur
  • 7.1. Vollstreckung und Löschung der Kulturlandschaft der DDR
  • 7.1.1. Die „Geiselnahme“ des Ostens durch die D-Mark
  • 7.1.2. Der Zerfall der Einheit von Arbeit, kulturellen Praxen und Lebensräumen
  • 8. Wissenschaft
  • 8.1. Verordnete Säuberung: Einigungsvertrag Art. 38 Wissenschaft und Forschung
  • 8.2. Die Säuberung des öffentlichen Dienstes in den Neuländern: Abwicklung und Überführung der wissenschaftlichen Einrichtungen, Fachbereiche, Forschungsprogramme und Eliten der DDR
  • 8.2.1. KAI: Die akademische Abwicklungsbehörde
  • 8.2.2. Tabelle der Wissenschaftsabwicklung
  • 8.3. Elitestudien im Vergleich
  • 9. Raum
  • 9.1. Deindustrialisierung und Schrumpfung in den Neuländern seit 1990
  • 9.1.1. Tabelle der industrie- und raumsoziologischen Ordnung der DDR-Bezirke
  • 9.1.2. Vom Industriestaat zum Entwicklungsland
  • 9.1.3. Welche Zukunft?
  • C / Schock
  • 10. Gesellschaftsreform und Schock in Ostdeutschland seit 1990
  • 10.1. Die vierfache Supranationalisierung in Ostdeutschland zwischen 1990 und 2021
  • 10.2. Die Wirtschaftsperformance der Schockstrategie
  • 10.3. Die Politikperformance der Schockstrategie
  • 10.3.1. Die Suprematie der liberalen Demokratie und ihre Defekte
  • 10.4. Ausweitung der Marktzone: Die vier neoliberalen Schock-Reformen in Ostdeutschland und Ereignisse zwischen 1990 und 2021
  • 10.4.1. Tabelle der vier neoliberalen Schock-Reformen und (supra)nationalen Ereignisse zwischen 1990 und 2021
  • 10.5. Gesellschaftsreform als Kulturkatastrophe
  • 10.5.1. Treuhandakten vs. „Stasi“-Akten / 250 km vs. 111 km
  • 10.5.2. Sozialer Schock in der Sackgasse
  • 10.5.3. Abschließende Bilanz des Ost-West-Konfliktes in der deutschen Gesellschaft (aktuelle Studien auf einem Blick)
  • 1. Gesamtdeutsches Parlament im Deutschem Reichstag
  • 2. Die BRD ist nicht souverän, auch nach „2 + 4“ nicht. Dokument über die Teil-Wiedererlangung der völkerrechtlichen Souveränität der Bundesrepublik Deutschland (Ergänzung Einleitungskapitel)
  • 3. Dokument über die Deutsche „Wiedervereinigung“ als Vorgang der Vollständigwerdung im Völkerrechtssubjekt „Deutsches Reich“ (Ergänzung Kapitel A / Gewalten)
  • 4. Dokument über die Deutsche „Wiedervereinigung“ als Vorgang der Vollständigwerdung im Völkerrechtssubjekt „Deutsches Reich“ (Ergänzung Kapitel A / Gewalten)
  • 5. Dokument über die Deutsche „Wiedervereinigung“ als Vorgang der Vollständigwerdung im Völkerrechtssubjekt „Deutsches Reich“ (Ergänzung Kapitel A / Gewalten)
  • 6. Einigungsvertragsgesetz (Ergänzung Kapitel A / Gewalten)
  • 7. Forderung einer Verfassunggebenden Versammlung (Ergänzung Kapitel A / Gewalten)
  • 8. Forderung einer Verfassunggebenden Versammlung (Ergänzung Kapitel A / Gewalten)
  • 9. Dokument zum Rentenüberleitungsgesetz / Ungleichbehandlung vor dem Gesetz (Ergänzung Kapitel A / Gewalten)
  • 10. Dokument zum Rentenüberleitungsgesetz / Ungleichbehandlung vor dem Gesetz (Ergänzung Kapitel A / Gewalten)
  • 11. Dokument Lohndumping in Ostdeutschland / Ungleichbehandlung vor dem Gesetz (Ergänzung Kapitel A / Gewalten)
  • 12. Antrag des ZRT zur Gründung einer Treuhandanstalt zur Wahrung der Anteilsrechte der Bürger mit DDR-Staatsbürgerschaft am „Volkseigentum der DDR“
  • 13. Beschluss zur Gründung der „Ur-Treuhandanstalt“, 1. März 1990, Regierung Modrow (Ergänzung Kapitel B / Vollstreckung)
  • 14. Auszug aus dem DDR-Gesetzblatt / Gründung einer „Ur-Treuhandanstalt“, Regierung Modrow (Ergänzung Kapitel B / Vollstreckung)
  • 15. Was war die DDR wert? Und wo ist der Wert geblieben? (Ergänzung Kapitel B / Vollstreckung)
  • 16. Das Vermögen der DDR und die Privatisierung durch die Treuhand
  • 17. War die DDR pleite? Widerlegung einer immer wieder gebrauchten Lüge (Ergänzung Kapitel B / Vollstreckung)
  • 18. Löschung einer Gesellschaft wegen Vermögenslosigkeit (Ergänzung Kapitel B / Vollstreckung)
  • 19. Übernahme von Unternehmen in der Krise (Ergänzung Kapitel B / Vollstreckung)
  • 20. Die größte Vernichtung von Produktiveigentum zu Friedenszeiten, Gespräch mit Christa Luft, 2018 (Ergänzung Kapitel B / Vollstreckung)
  • 21. Beschlagnahmung der DDR-Vermögen (Ergänzung Kapitel B / Vollstreckung)
  • 22. Fortschritt. Die Zukunft Ostdeutschlands
  • Literatur
  • Personen- und Begriffsregister
  • Edition E.G.

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Anschluss, Umbau und Exil in Ostdeutschland seit 1989/90 (2)

Wer profitiert eigentlich von der unvollendeten „Einheit“?

„…. denn wir wollten ja keinen Friedensvertrag. Wir hatten ja schon im Herbst die Anfrage aus Moskau, ob die Bundesregierung möglicherweise bereit sein könnte zu einem Friedensvertrag. Wir haben einen Friedensvertrag von vornherein abgelehnt – nicht zuletzt wegen der Gefahr von Reparationsforderungen. Und da wäre ja nicht nur Griechenland ein Fall gewesen, sondern bekanntlich war das Nazi-Regime mit über 50 Ländern dieser Welt im Kriegszustand. Und stellen Sie sich vor, wir hätten im Rahmen eines Friedensvertrages Reparationsforderungen von über 50 Staaten auf dem Tisch gehabt.“15


15 Zitat Horst Teltschik, in: „Alle Forderungen erledigt“, Horst Teltschik im Gespräch mit Thielko Grieß, Deutschlandfunk, 14.03.2015, In: https://www.deutschlandfunk.de/zwei-plus-vier-vertrag-alle-forderungen-erledigt.694.de.html?dram:article_id=314217&dram:audio_id=352433&dram:play=1, Stand vom 30. September 2018.
Horst M. Teltschik war enger Vertrauter Helmut Kohls und als politischer Beamter im Bundeskanzleramt tätig. Er war zwischen 1970 und 1991 eine Schlüsselfigur im Stab Helmut Kohls. Neben Eduard Ackermann zählte er zu dessen engsten Mitarbeitern und beriet den aufsteigenden Politiker weit über außenpolitische Belange hinaus. 1989/90 war er Sonderbeauftragter für die Verhandlungen mit Polen; er war an den deutsch-deutschen Verhandlungen der „Wendezeit“ und der deutschen „Wiedervereinigung“ beteiligt.

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1. Liberalisierung statt Friedensverträge:
Die Demokratieräson des Westens und die offene Deutschlandfrage

1.1. Komplizenschaft der West-Alliierten mit den Alt-Eliten

In der vorliegenden Auseinandersetzung wird eine Zeitdiagnose der Demokratieräson des Westens vorgenommen. Die Differenzierung zwischen dem politischen Westen und dem politischen Osten ist ein dem Forschungsprojekt „Entkoppelte Gesellschaft. Liberalisierung und Widerstand in Ostdeutschland seit 1989/90. Ein soziologisches Laboratorium“16 inhärenter Auftrag. Eine Teilung der politischen Welt in die geopolitischen Hemisphären Ost und West trat unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges mit dem Zerfall der Anti-Hitler-Koalition auf den Plan. Diese Zusammenhänge wurden bereits im Band „Anschluss“17 benannt, sie sollen an dieser Stelle nur in groben Umrissen nochmals vorgeführt werden, da der heute herrschende Demokratiebegriff nicht loszulösen ist von der geopolitischen Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg, der europäischen Nachkriegsordnung, und ihrem Verschwinden seit 1990.

Das Potsdamer Abkommen, das letzte dieser Art, das von der Anti-Hitler-Koalition zwischen 1941 und 1945 auf den internationalen Konferenzen unterzeichnet wurde, diente gleichzeitig den Westmächten als Steilvorlage für einen Vertragsbruch. Die Besatzungsmächte in den westlichen Besatzungszonen drängten daher auf einen schnellen Ausstieg aus den Vertragsverbindlichkeiten des Potsdamer Abkommens. Mit einer zügigen Reindustrialisierung des zunächst zur Trizone unter amerikanischer, britischer und französischer Kontrolle, später zur Bizone zusammengeschlossenen vereinigten Wirtschaftsgebiets Westdeutschland, das nun auf der Basis des Marshallplans Konjunktur hatte, die schnelle Wiedereingliederung von Nazi-Eliten in Wirtschaft und Politik vorantrieb und den Aufschwung durch Reparationsaussetzung beförderte, befand sich der Westen bereits kurz nach Kriegsende jenseits der internationalen Vertragsbedingungen des Potsdamer Abkommens. Durch die Umgehung der Reparationspflichten des Westens an die Sowjetunion (aber auch an Polen, Griechenland, Jugoslawien und etwa 45 weitere Länder), die nachweislich zu 98% von der SBZ18 für Gesamtdeutschland geleistet wurden sowie durch die Aus←24 | 25→klammerung einer nachhaltigen Entnazifizierung, verbürgt durch die schnelle Einführung von Amnestie-, Verjährungs- und Wiedereingliederungsgesetzen und der dadurch bedingten unverzüglichen Inamtsetzung von ehemaligen NS-Juristen und NSDAP-Mitgliedern in politischen Ämtern, prosperierte die Bizone im westlichen Teil Deutschlands zu einer aufstrebenden Wirtschaftszone, deren Wirtschafts-, Finanz-, Medien- und Politikeliten, die einstigen NSDAP-Eliten, von den West-Alliierten protegiert wurden19. Die Komplizenschaft zwischen den West-Alliierten (USA, England, Frankreich) und Westdeutschland hält nicht nur bis heute an, sondern förderte damals die vereinigte Gegnerschaft zur Sowjetunion und zum „Ostblock“, der als solcher seit 1990 nicht mehr existiert. Entgegen den Potsdamer Vertragsbedingungen entschied sich ←25 | 26→die Westzone weiterhin für eine baldige Wiederbewaffnung und Inamtsetzung ehemaliger Vertreter der Nazi-Streitkräfte, die Einführung einer vom Dollarmarkt kontrollierten Währung 1948, für weitere Kredite und Subventionen durch die USA, die Fusion mit dem transatlantischen Wirtschaftsraum20 und die Fusion mit dem Nordatlantischen Verteidigungsbündnis (NATO).

Der Deutschlandvertrag von 1952 beinhaltet einerseits die Beendigung des Kriegszustands zwischen den Westmächten und der BRD, andererseits die Osmose der BRD als transatlantischer „Partner“ in einem übergeordneten, liberalen Kriegsplan, der sich erneut gegen Osten ausrichtet. Der Deutschlandvertrag garantiert den West-Alliierten durch Vorbehaltsrechte ihre Legitimität aus dem Besatzungsstatut. Diese sind im Aufenthaltsvertrag, im NATO-Vertrag und im alliierten Kontrollgesetz festgelegt. Der Beitritt der BRD zur NATO 1955 schuf die Grundlagen für den Kalten Krieg und forcierte in Ostdeutschland, der SBZ und ab 1949 in der DDR eine Existenzkrise, die mit dem Mauerbau 1961 beantwortet wurde. Das von allen Besatzungsmächten 1945 unterzeichnete Potsdamer Abkommen mit Ziel eines europäischen Friedensvertrags sowie einer Staatsneugründung Deutschlands zur Wiedererlangung seiner Souveränität gemäß Artikel 146 GG wurde sowohl 195221 als auch 199022 nicht zuletzt von den West-Alliierten vereitelt und blieb bis heute aus. Mit dem Deutschlandvertrag23, auch Generalvertrag, wechselten die Alliierten lediglich das Mandat – vom Mandat einer britisch-amerikanischen Besatzungssouveränität in Westdeutschland zum Mandat der dauerhaften alliierten Vorbehaltsrechte mit Inkrafttreten des Besatuzungsstatuts, vorläufig bis zur deutschen Wiedervereinigung auf der Grundlage einer Staatsneugründung. Dazu kam es, entgegen der öffentlichen Meinung, auch 1990 nicht. Der Zwei-plus-Vier-Vertrag war kein Friedensvertrag, sondern eine Regelung zum Abzug der sowjetischen Streitkräfte unter der Bedingung, dass die Vorbehaltsrechte für die West-Alliierten weiter←26 | 27→hin bestehen blieben, was durch den Austausch geheimer Noten auch garantiert wurde. Das durch den Truppenabzug der sowjetischen Streitkräfte neu entstandene Vakuum im Osten wurde ab 1994 zuverlässig von den alliierten Streitkräften, den NATO-Verbündeten, übernommen. Mit der Gründung der BRD 1949 wurde bis heute, trotz Grundgesetz und Bürgerlichem Gesetzbuch (BGB), das Besatzungsmandat der West-Alliierten nicht aufgehoben. Für die BRD ist dies bis heute eine Schutzhaftung der Alliierten, die einstige NSDAP-Eliten in Wirtschaft, Recht, Medien und Politik deckten und wieder ins Amt brachten. Der Drehtürskandal der Demokratie begann spätestens 1949 mit der parlamentarischen Mitte-Position ( CDU/CSU) der alten Protagonisten und ab 1990 im neuen Design der gesamtdeutschen Regierung mit dem Gesetz zur Umsetzung des Beschlusses des Deutschen Bundestages von 1991 im Gebäude des alten Reichstages einzog.24

Ohne Staatsneugründung, ohne verfassunggebende Versammlung, ohne Friedensverträge mit den europäischen Nachbarn, im Bewusstsein der immer noch offenen Deutschlandfrage, im Bewusstsein der nicht vollendeten deutschen Einheit und im Bewusstsein des alliierten Besatzungsstatus bzw. Kriegszustands nach der Haager Konferenz, im Bewusstsein einer inexistenten Staatssouveränität wird seit 1990 im „vereinigten Deutschland“ wieder das „Deutschlandlied“ gesungen, die Nationalhymne der Weimarer Republik,25 so als hätte es keine „Stunde Null“ gegeben. Der Parlamentarismus der Weimarer Zeit wird auch für die Post-DDR wiederbelebt, so als hätte es zu keiner Zeit eine Volkskammer, einen sozialistischen Parlamentarismus26 oder einen Nationalrat27 gegeben. Das Bürgerliche Gesetzbuch zum Schutz des Privateigentums gilt ab 1990 auch für ehemalige DDR-Bürger, die 40 Jahre im Volkseigentum lebten und demnach kein Privateigentum besaßen, was einer Farce gleichkommt. Die Wiedereinführung der Privatautonomie in der Post-DDR zielte sicher auf eine Entrechtung und Enteignung ehemaliger DDR-Bürger. Die DDR fiel nach 1990 an die Westalliierten zurück und zudem zurück in die Weimarer Zeit. Es gilt spätestens seit 1994, seit dem restlosen Abzug der sowjetischen Streitkräfte aus Ostdeutschland, auch dort uneingeschränkt das Deutschlandgesetz, der Generalvertrag.

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Damit war der Kalte Krieg beendet und der Zweite Weltkrieg in seiner letzten Etappe gewonnen. Es begann die lange Ära der „Liberalisierung als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln“28.

Entgegen einer üblichen Rhetorik der Westmächte, die behauptet, dass die BRD im Verbund mit den Alliierten, später als NATO-Mitgliedsstaat, präemptiv gegen den Feind im Osten habe aufrüsten müssen, wird dieser Polemik das Argument der deutschen Kriegsschuld und der Friedenspflicht aus dieser Schuld entgegengesetzt. Eine ebenfalls bereits an mehreren Stellen dieses Projektes ausgearbeitete Opferstatistik belegt, dass mit den Reparationen, welche die SBZ der Sowjetunion zu leisten hatte, ebenso wie auch mit den Kriegsgerichten, die vor allem in der SBZ aktiv waren, nur ein Bruchteil dessen, was an Kriegsschuld von deutscher Seite ausging, beglichen wurde. Ebenfalls wurden bis heute keine Reparationen29 an Jugoslawien30, Polen31 oder Griechenland32 gezahlt. Diese Tatsache belegt zweierlei: zum einen, dass die deutsche Industrie und das deutsche Finanzwesen, die Hitler stark machten, nach der Debellation des Deutschen Reiches 1945 wieder erstarken sollten. Eine Konjunktur, wie sie die Westzone, später BRD, tatsächlich erlebte, wäre allein durch reguläre Reparationszahlungen ausgeschlossen gewesen. Und sie belegt zum anderen, dass der BRD die (neo) liberale Demokratieräson näher ist als der Friedensvertrag. Der Friedensvertrag ←28 | 29→mit der Sowjetunion und mit den europäischen Nachbarn hätte zwar die Tilgungsforderung der Kriegsschuld beinhaltet, aber auch die Friedensforderung, die darin bestünde, die Neutralität zu wahren – und damit dann auch den souveränen „Schlussstrich unter den Krieg“33 infolge schließlich vereinigter Staatssouveränität und Staatsneutralität.

Alle drei Forderungen, die der Schuld(en)tilgung, die der Friedensverantwortung durch Neutralität und die der Beendigung des alliierten Kriegszustands durch Souveränität, können erst durch eine Staatsneugründung, so wie sie im Grundgesetz von 1949 im Artikel 146 niedergeschrieben steht, und durch daran anschließende Friedensverträge erfüllt werden. Alle drei Forderungen scheiterten an der fehlenden Bereitschaft der BRD zur Staatsneugründung mit der damaligen DDR sowohl 1952 als auch 1990 sowie an der fehlenden Bereitschaft zu friedensvertraglichen Regelungen und Ratifizierungen und an der fehlenden Bereitschaft zur Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung für einen Volksentscheid34. Die BRD verweigerte zweimal seit Kriegsende den Friedensvertrag mit der Sowjetunion, der eine Souveränität Deutschlands vorausgesetzt hätte, welche ausschließlich erst mit der Staatsneugründung nach Artikel 146 GG möglich geworden wäre. Die BRD bevorzugte stattdessen die Demokratieräson des Liberalismus und die Allianz mit den Westmächten unter der Bedingung des „ewigen Krieges“, zumindest so lange von der BRD aus nicht die Entscheidung für eine Staatsneugründung nach Artikel 146 GG, die nämlich zur Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung unter der Wiedererlangung der vollumfänglichen Staatssouveränität ausgeht, mit dem sich die BRD zum Friedensauftrag und zur Staatsneutralität verpflichtet hätte. Begründet wurde diese Umgehung stets und ständig mit dem kausalen Nexus: Der Pakt mit den Westmächten verhindere Stalins übergreifendes Gulag-System in Gesamtdeutschland, man sehe es ja an der SBZ, was der Übergriff bedeute. Der politische Westen Deutschlands hat keine Minute lang seine Kriegsschuld und Kriegsschulden, vor allem diejenigen, die er in der Sowjetunion mit gut 30 Millionen Toten und irreparablen Verwüstungen von Städten, Gütern und Ländern hinterließ, ernst genommen. Die BRD hat keine Minute lang ihre Friedenspflicht aus der bis heute größten humanitären Katastrophe, die der Zweite Weltkrieg, vor allem die deutschen Angriffskriege, mit sich brachten, in Erwägung gezogen, denn sonst hätte die BRD auf einer Staatsneugründung insistiert und diese auch erwirkt, entweder 1952 oder spätestens 1990. Die BRD sieht nach ←29 | 30→wie vor ihre Kapitulation und Niederlage, die in den Abkommen von Potsdam ratifiziert wurden, als Auftrag für eine Wiedergutmachung gegenüber der deutschen Nation, die im Rahmen des europäischen Wirtschaftsraums wieder erstarken sollte, was im Umkehrschluss heißt, als Rache gegen die Mächte, die es so weit erst kommen ließen. In dieses Verdikt, das der Liberalismus fördert, passt kein Friedensvertrag. Fortan und seit 1950 spielt der politische Westen eine Demokratieräson des Liberalismus gegen den Frieden aus, was sich schließlich ab 1990 in einer Kolonisierung der DDR niederschlägt. Im Jahr 1952 offerierte Stalin dem ersten Bundeskanzler der BRD, Konrad , ein Friedensangebot (Stalin-Note35), das ablehnte. Der Grund wird bis heute verborgen gehalten; und doch ist es genau dieser Grund, der zum Kalten Krieg führte, später zum Zusammenbruch und Ausverkauf des „Ostblocks“ und auch heute wieder zur Herabsetzung Russlands als Regionalmacht und zur neuen Angriffsbereitschaft in Form partieller bis totaler Kriegserklärungen36. Die BRD war nicht gewillt, einer Vereinigung im Sinne einer Staatsneugründung als Verfassungsstaat zuzustimmen, in dem Staatsneutralität und Basisdemokratie verankert wären. Adenauer stand wirtschaftspolitisch für das System der sozialen Marktwirtschaft, des Liberalismus und somit für die Restrukturierung der Kriegs- und Finanzwirtschaft. Etwa 600 Nazi-Juristen gingen direkt in die Ära Adenauers über37. Er, der Alliierten-Kanzler, verfolgte einen antikommunistischen Kurs38 im Inland wie auch gegenüber der Sowjetunion und deren „Satellitenstaaten“. Die Argumente in der offiziellen Meinung gegen einen Friedensvertrag bauen auf dem Axiom des kausalen Nexus und der Totalitarismusdoktrin auf. Auf diese Weise wird gespalten, übertragen und verworfen. Es werden der Friedensvertrag und die Neutralität verworfen, die Wiedergutmachungspflicht aus Schuld und Schulden und der Sozialauftrag des inneren Friedens durch einen basisdemokratischen Verfassungsschutz sowie letztendlich die Staatssouveränität

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Deutschlands. Gleichzeitig wird diese Verwerfung übertragen und delegiert: „Merkwürdigerweise wurde in der Diskussion der Blick auf die reale Politik Stalins und seiner Nachfolger oft ausgeblendet: die brutale Durchsetzung des Kommunismus in den Anfangsjahren der DDR, den Aufstand vom 17. Juli 1953 zwischen Ostsee und Thüringer Wald, die Volkserhebung von 1956 in Ungarn. Wer diese Beispiele der Unterdrückung jeglicher demokratischen Kräfte im sowjetischen Machtbereich vor Augen hat, kann eigentlich nicht zu dem Schluss kommen, der sowjetische Diktator habe tatsächlich an ein neutrales, freies und demokratisches Deutschland gedacht.“39 Die Euphemisierung des Liberalismus und der liberalen Demokratie in der BRD seit 1949/50 ist dem Konstrukt des kausalen Nexus40 verpflichtet. Ein bis heute verbreitetes Narrativ besagt, dass sich in der BRD die liberale und rechtsstaatliche Demokratie seit 1950 durchgesetzt habe, während in der SBZ/DDR der „Unrechtsstaat“ regiert habe – der Stalinismus auf deutschem Boden. Ein weiteres Narrativ infolgedessen besagt, dass mit der „Vereinigung“ der Osten Deutschlands aus den Fängen des Stalinismus befreit worden sei, wie auch die Menschen aus einem „Unrechtsstaat“. Der Verfassungsstaat DDR wurde nach dem zweiten Regierungssturz und ab 1990 in einem historisch einmaligen Tempo atomisiert, das Gebiet der DDR enteignet und privatisiert, das Volks- und Staatsvermögen von der BRD übernommen und die Bevölkerung enteignet und dem BGB41 unterworfen, was in erster Hinsicht ihren Ausschluss aus Recht und Gesetz bedeutete42.

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1.2. Die Besatzungszone der West-Alliierten – ein neoliberaler Schurkenstaat?

Bevor sich der Begriff des „Unrechtsstaats“ als Bannspruch gegen die Existenz und Legitimität der DDR etablierte, war der Begriff des „Schurkenstaats“ jener Bannspruch gegen unliebsame Staaten, der von den USA der Bush-Ära ausgerufen wurde. Zu den von der US-Regierung (oder West-Alliierten) geächteten Staaten gehörten bis 2006 Libyen, Südjemen als Nachfolger der Demokratischen Volksrepublik Jemen, Irak, die Demokratische Volksrepublik Korea (Nordkorea) und Kuba; seit dem 11. September 2001 sind es der Iran, der Sudan, Ägypten, Gaza oder Syrien, die auf der US-Agenda des Umbaus des Nahen und Mittleren Ostens stehen und deshalb Schurkenstaaaten sind. Seit 1990 ist die DDR ein solcher Schurkenstaat oder übersetzt in den deutschen Schreckensbegriff, ein „Unrechtsstaat“. Die gewollte Oszillation zwischen dem NS-Unrechtsstaat und der DDR als „Unrechtsstaat“ wurde ausführlich im Band „Anschluss“43 ausgearbeitet.

Die Crux ist jedoch, dass die Bundesrepublik bis heute in einen Besatzungsstatus durch die West-Alliierten verstrickt ist, was sich immer wieder in der scharfen Umgehung der Verfassungsfrage äußert, um sich der Kriegsschuld(en)frage, der Frage der Friedensverträge und der Frage der Souveränität nicht stellen zu müssen. Darüber hinaus wird in der Komplizenschaft zwischen den West-Alliierten und den westdeutschen Alt-Eliten die Deutschlandfrage offengehalten, mit anderen Worten: Es werden Friedensverträge verwirkt. Dies ist eine Schurkenstaatsstrategie und keine demokratische Strategie, da sie ausschließlich neoliberalen und alliierten Interessen dient. Denn eine Staatsneugründung wäre, nach der Debellation des Dritten Reichs von 1945 und seiner Aufteilung in vier Besatzungszonen durch die Alliierten der Anti-Hitler-Koalition, die Siegermächte, heute immer noch die einzige staatsrechtliche Option für die Erlangung der vollumfänglichen Staatssouveränität. Erst dann könnte Deutschland seine Verfassungsstaatlichkeit auf der Grundlage der Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung nach Artikel 146 GG wiedererlangen. Eine solche Verfassung müsse dann die Staatsneutralität beinhalten, wie auch den basisdemokratischen Schutz. Eine solche Neutralität wurde wiederum in der neuen Verfassung der DDR44 1990 gefordert, da die DDR-Reformregierung auf eine Staatsneugründung und auf eine verfassunggebende Versammlung nach dem Artikel 146 GG setzte. Diese neue Verfassung kam jedoch nie an die große Öffentlichkeit und wurde gezielt aus allen Verhandlungen zur „Vereinigung“ ausgeschlossen. Die entsprechenden Kräfte Helmut Kohls, die direkt in der Volkskammer agierten sowie der Ministerpräsident L. de Maizière und andere ←32 | 33→Minister, konnten dies praktisch verhindern45. Im Jahr 1990 fand schließlich der Anschluss der DDR an die BRD statt. Es war ein Anschluss und keine „Wiedervereinigung“, da der Artikel 146 des GG umgangen wurde und es demzufolge weder zu einer verfassunggebenden Versammlung noch zu einer demokratischen Staatsneugründung kam, die dem Titel „Wiedervereinigung“ gerecht geworden wäre.

Die DDR wurde noch während ihres Existierens in ihren Staats- und Grundrechten enteignet und dem Grundgesetz der BRD unterworfen. In beiden Staaten, sowohl in der DDR als auch in der BRD, galten bis 1990 der Besatzungsstatus der Siegermächte von 1945. Trotz eines Zwei-plus-Vier-Abkommens wurde dieser Besatzungsstatus seitens der Westmächte in der BRD bis heute nicht beendet. Es bleibt auch hier wieder ein einseitiger Vertrag, der es den Westmächten erlaubt, weiterhin in der BRD stationiert zu bleiben, während die sowjetischen Streitkräfte bis 1994 restlos abzogen. Mit gravierenden Folgen wurde also auch 1990, wie bereits in den Adenauer-Stalin-Verhandlungen (Stalin-Noten), eine neue Verfassung und somit eine neue Staatsgründung abgelehnt. Es bleibt demnach eine unumstrittene Tatsache, dass die BRD eine verfassunggebende Versammlung per Staatsneugründung wie auch einen Friedensvertrag, sowohl 1952 mit dem Friedensangebot von Stalin als auch mit der „Vereinigung“ von 1990, immer wieder vereitelt hat. Ein Antrag von Abgeordneten und der Fraktion Die Linke im Deutschen Bundestag im Jahr 2015 bestätigte dies: „Der Verpflichtung des Londoner Schuldenabkommens von 1953, die Reparationsfrage im Zuge eines Friedensvertrages zu klären, hat sich die Bundesregierung nach Abschluss des Zwei-plus-Vier-Vertrages 1990 entzogen.“46

Um sowohl die Schulden- und Schuldbilanz aus dem Zweiten Weltkrieg als auch den Reparationsdruck dauerhaft zu umgehen, wurde in der BRD ab 1950 eine Demokratieräson etabliert, die jedes kontroverse Ansinnen als demokratiefeindlich ausschließt. Die Zeit des Kalten Krieges ist eine Episode, in der die liberale Demokratie mit Verbal- und Verteidigungsschocks, im Verbund mit der NATO gegen den Osten, die DDR, den „Ostblock“ und die Sowjetunion Front machte. Mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des „Ostblocks“ wird die Rhetorik der Demokratieräson der BRD wiederbelebt – sowohl rückwirkend in Bezug auf die DDR als „zweite deutsche Diktatur“ nach der NS-Diktatur als auch prospektiv. Die Demokratieräson der amtierenden Bundesregierung bezichtigt beispielsweise Russland weiterhin der Feindschaft und simuliert spätestens seit 2014 diverse Kriegsgründe, die sie kriegerisch ←33 | 34→beantwortet. Mit dem Eintritt Deutschlands in den Balkan-Krieg, dem Wirtschaftskrieg Deutschlands gegen Russland sowie dem Info- und Medienkrieg gegen Russland begann ein neues postpolitisches Kapitel der Demokratieverteidigung.

Die herrschende Demokratieräson in Deutschland ist eine Räson des politischen Westens, die in einer Kontinuität der letzten 70 Jahre gesehen werden muss. Sie trägt keinesfalls zur Entspannung der Weltpolitik bei, sondern im Gegenteil zur Bemäntelung von Kriegsgründen und von völkerrechtlichen Grenzübertretungen beginnend im Kosovo-Krieg, fortgesetzt im Wirtschaftskrieg gegen Griechenland47, in den Stellvertreterkriegen in der Ukraine und in der Operation Counter Daesh in Syrien oder in den deutschen Rüstungsexporten an NATO-Partner und an Drittstaaten48, in der Koordinierung sämtlicher Drohnenkriege im Nahen Osten auf der Militärbasis Ramstein in Rheinland-Pfalz sowie im Wirtschaftskrieg gegen Russland. Eine Demokratieräson des politischen Westens steht unter dem Verdikt der Westmächte, der USA, des Vereinigten Königreichs und Frankreichs, die ihrerseits souveräne Staaten sind. Eine Demokratieräson des politischen Westens konstruiert stets den politischen Feind im Osten, bagatellisiert den Wehrmachtskrieg des Drittens Reichs in seinem Ausmaß, verschweigt seine bis heute nicht anerkannten Opfer, allein in der Sowjetunion gut 30 Millionen49, nivelliert die noch ausstehenden umfassenden Reparationsleistungen, verweigert seine Verantwortung in einer europäischen Friedens←34 | 35→ordnung, die bereits mit dem Kalten Krieg durch die Westmächte gebrochen wurde und hält weiterhin an einem Besatzungszustand fest, welcher die Besatzungsrechte der Alliierten50, 51 bis auf Weiteres unangetastet und unhinterfragt auf sich beruhen lässt. Darüber hinaus wird die DDR als Schurkenstaat bzw. als „Unrechtsstaat“ rückwirkend und prospektiv geächtet, so dass sich für diese Epoche des Staatssozialismus bis auf Weiteres eine objektive Geschichts- und Gesellschaftsaufarbeitung der DDR von selbst verbietet.

2. Besatzungszustand und offene Deutschlandfrage – welche Vorteile ergeben sich daraus für den alliierten Westen?

Die politische Zeitdiagnose „Besatzungszustand und kein Ende“ ist gekoppelt an die Frage: „Was ist Deutschland – Souveräner Staat oder besetztes Land?“ Der Historiker und emeritierte Professor für Geschichte der Freiburger Universität Josef Foschepoth ist in seinem Buch „Adenauer und die Deutsche Frage“52 der Analyse einer bis heute noch offenen Deutschlandfrage nachgegangen. Von Rechts wegen ist Deutschland, da es seit 1945 bis heute keiner Staatsneugründung ←35 | 36→seiner Besatzungsgebiete zu einer neuen souveränen Entität stattgegeben hat, der Friedensverträge gefolgt wären, nichtsouveränes, teilbesetztes Territorium und damit als Besatzungszone im außersouveränen Kriegszustand53. Weder der Deutschlandvertrag von 1952 noch der Einigungsvertrag oder der Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990 haben zu einer Staatsneugründung und zu einer Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung nach Artikel 146 GG geführt, das heißt zu einem Ende des Besatzungsstatuts von 1949. Mit der sogenannten „Wiedervereinigung“ gehört nunmehr auch Ostdeutschland zum Besatzungsgebiet der West-Alliierten.

Die BRD befindet sich seit 70 Jahren in der Situation, ihr Grundgesetz im Artikel 146 nicht eingelöst zu haben. Sie hat demnach den verfassungsfreien Status einer Besatzungszone und seit 1990 den verfassungsfreien Status einer um die ehemalige DDR erweiterten Besatzungszone der West-Alliierten. Damit ist sie in einem nicht beendeten Kriegszustand, der erst beendet sein wird, wenn die Entschädigungen aus den Raub- und Vernichtungskriegen, unter anderem gegenüber der Sowjetunion bzw. dem Nachfolgestaat Russland, Griechenland54, Jugoslawien bzw. seinen Nachfolgestaaten oder Polen eingelöst wurden. Die Transformation Ostdeutschlands von der DDR zu den „Neufünfländern“ ist einer fatalen Kausalität geschuldet, nach der die „Ostzone“ mittels Zwei-plus-Vier-Vertrag und Einigungsvertrag nun Teil der Westmächte wurde. „Der Beitritt – es war der Vollzug der Einheit nach Artikel 23 Grundgesetz, durch Beitritt der neugegründeten Bundesländer der ehemaligen DDR. ‚Kein Anschluss unter dieser Nummer‘ war damals ein Schlagwort der Kritiker dieser Art der Wiedervereinigung. Sie plädierten für den Weg nach Artikel 146 Grundgesetz. Man hätte dann miteinander, auf der Basis des Grundgesetzes, eine neue gemeinsame Verfassung geschrieben – und darüber in ganz Deutschland abgestimmt. So hätte ein Geburtsmakel des Grundgesetzes, die fehlende Zustimmung des Volkes, behoben werden können. Die rechtsstaatliche Tradition der alten Bundesrepublik wäre verknüpft worden mit der demokratischen Autorität des revolutionären Wandels in der DDR. Es war falsch, auf eine Legitimation dieser Güte zu verzichten.“55

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Der freien Wahl von 1990 waren keine verfassunggebende Versammlung und kein Volksentscheid über die Artikel 23 GG oder Artikel 146 GG vorausgegangen. Eine freie Wahl ist weder mit derart verfassungsbildenden Akten gleichzusetzen, noch bedingt eine (freie) Wahl und ein Parteiensieg aus staatsrechtlicher Sicht zwangsläufig einen Staatsanschluss. Darüber hinaus erzwingen eine (freie) Wahl und ein Parteiensieg aus staatsrechtlicher Sicht erst recht keinen Systemzusammenbruch. Diese Merkmale des Staatsanschlusses und des Systemzusammenbruchs infolge eines Parteiensieges aus einer (freien) Wahl sind im Grunde die Merkmale einer Diktatur. Da die SED beispielsweise aufgrund des Verfassungsartikels 1 ihre Suprematie über Regierung, Staatsgewalten, Wirtschaft und Gesellschaft festschreiben konnte, bedeutete hier ein Wahlsieg zwangsläufig die Unterwerfung der Gesellschaft unter die Verfassungsnormative der SED. Da jedoch in der BRD eine repräsentative Demokratie vorherrscht, d. h. mit anderen Worten keiner einzigen Partei ein besonderer Verfassungsschutz obliegt, somit auch keine einzige Partei eine verfassungsbedingte Suprematie ausüben kann, bleibt es bis heute ein politisches Menetekel, will man nicht das Wort Putsch verwenden, wieso der Parteiensieg der CDU einen Staatsanschluss der DDR an die BRD und einen Systemzusammenbruch der DDR in Gesellschaft, Wirtschaft, Geschichte und Kultur zur Folge hatte. Könnte dann ein Wahlsieg einer jeden anderen Partei des Parlaments in einem anderen Land, der aufgrund beispielsweise dort lebender ethnischer Mehrheiten ausgetragen wird, einen Staatsanschluss zur Folge haben? Wie ist es erklärbar, dass die BRD-Regierung 1990 einen derartig erfolgreichen Wahlkampf in der DDR führen konnte? War es denn nicht in der DDR-Verfassung verankert gewesen, wie in der Verfassung eines jeden anderen Staates auch, dass Fremdregierungen keine Wahlkämpfe in einem anderen Land durchführen dürfen? Diesen Fragen wurde im Band „Anschluss“56 nachgegangen und es wurde aufgezeigt, wie eine Konterrevolution in der Volkskammer den Wahlsieg der Bonner CDU in der DDR lancierte. Ebenfalls wurde dargestellt, wie verwirkt das Zustandekommen der „Einheit“ nach Artikel 23 GG war, wo doch die Mehrheit der Dialogpartner in der DDR für eine Einigung nach Artikel 146 GG einstand. Ist es nicht sogar völkerrechtswidrig, dass die BRD-Regierung 1990 ihren Wahlkampf in einem anderen Staat, der DDR, austrug und darüber hinaus, dass der Wahlerfolg der CDU zu einem Staatsanschluss an die BRD und zu einer Systemauflösung führte, ohne dass dem eine Staatsneugründung und eine verfassunggebende Versammlung vorausgingen?

Für die BRD bestand der Vorteilsgewinn, eine „Einheit“ nach Artikel 23 GG stattfinden zu lassen, vor allem darin, dass sich die BRD der Frage der Staatsneugründung und somit die Frage der verfassunggebenden Versammlung sowie die Frage der europäischen Friedensverträge und der Reparationen nicht stellen musste. Dies führte zu einem weiteren Vorteilsgewinn für die liberale Demokratie, nämlich zur Selbstermächtigung eines neoliberalen Gesellschaftsumbaus in ←37 | 38→der Post-DDR. Zu dessen Legitimierung setzte die BRD auf Hybris-Konstrukte auf der Grundlage des kausalen Nexus, der Totalitarismusdoktrin und des Diktaturenvergleichs, indem sie die liberale Demokratie moralisch überbewertete und zur Räson erhob, hingegen die DDR auf die Vergleichsebene des NS-Regimes herabsetzte. In der Westzone und der BRD der Nachkriegszeit wurde in der populären Verarbeitung des Kriegsthemas die „Tätergesellschaft zur Opfergesellschaft“57. Dieses Selbstverständnis hat sich bis heute verfestigt. Dem Dezisionismus des Westens steht eine Suspendierung des Ostens gegenüber, die in der veröffentlichten Meinung argumentativ bis heute gepflegt wird. Mit diesem Populismus wird der dauerhafte Kriegs- und Besatzungszustand in Deutschland in der öffentlichen Wahrnehmung überdeckt. Kriegszustand und kein Ende – das ist der Vorteil für die Allianz mit den Besatzern, die einerseits souveräne Friedensverträge verhindert und andererseits die klandestinen Bedingungen für die neoliberale Willkür innerhalb eines transatlantischen Eliteapparats im Namen von Rechtsstaat und Demokratie garantiert. Die Vorbehaltsrechte für die West-Alliierten gelten über das Besatzungsstatut und den Deutschlandvertrag hinaus bis hin zur „Wiedervereinigung“, die mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag lediglich den Truppenabzug der sowjetischen Streitkräfte regelte, aber nicht den Besatzungsstatus durch die West-Alliierten beendete. Deutschland wurde mit dem Besatzungsstatut zwar wieder staatlich regiert, jedoch ohne eine staatliche Souveränität zu erlangen, woran auch die „Wiedervereinigung“ nichts änderte.

Der eindeutige Vorteil aus der Situation der offenen Deutschlandfrage besteht sowohl für die Alliierten in Form von Vorbehaltsrechten als auch für die „alten“ Eliten im neuen demokratischen Ornat auf einer parlamentarischen Mitte-Links-Position (CDU/CSU und SPD). Hernach ist die Konservierung des Kriegs- bzw. Besatzungszustands in Deutschland als Vorteilssituation zu verifizieren, da dieser eine Umgehung der Deutschlandfrage impliziert, selbst über 1990 hinaus. Die DDR wurde mit dem Beitritt an die bundesdeutsche Gesetzeslage, wie sie im Besatzungsstatut und im Deutschlandvertrag 1950 verankert ist, angeschlossen und damit auch an die Hegemonie alliierter Vorbehaltsrechte. Die DDR fiel nach dem Zwei-plus-Vier-Abkommen endgültig an die West-Alliierten. Damit wurde jedes Recht und jedes Gesetz für DDR-sozialisierte Ostdeutsche sowohl aus den alten Gesetzen, dem Zivilgesetzbuch der DDR oder der neuen Verfassung der DDR von 1990 und den neuen BRD-Gesetzen (BGB, Grundgesetz) ausgehebelt. Dies äußert sich heute unter anderem darin, dass in den knapp 200 Vorstandsposten der größten deutschen Aktiengesellschaften nur fünf Ostdeutsche rekrutiert sind58. In 30 deutschen Dax-Unternehmensvorständen ist der ←38 | 39→Osten personell gar nicht vertreten. Diese Unternehmen verweisen auf ein Elitenkontinuum aus dem Dritten Reich. Unternehmen wie BMW, Daimler, Deutsche Bank, BASF, Bayer, ThyssenKrupp, Siemens und andere gehörten bis 1945 zur industriellen Spitzenliga im NS-Regime. Der Osten konnte also mit Hilfe der offenen Deutschlandfrage ab 1990 mühelos enteignet, übernommen und kolonisiert werden. Der neoliberale Gesellschaftsumbau, u.a. durch die Treuhand AG, sorgte für eine gründliche Atomisierung der DDR-Industrie, also dafür, dass aus dem Osten durch eine sogenannte „Modernisierung“ auf lange Sicht keine Marktkapitalisierungskonkurrenz zu erwarten war und auch in Zukunft nicht zu erwarten sein wird.

3. Nichtvollendete deutsche Einheit

3.1. Artikel 23:
Kolonisierungsmandat oder „Königsweg zur Einheit“?

Der „Einheitskanzler“ Helmut Kohl bezeichnete den Artikel 23 des Grundgesetzes als „Königsweg zur deutschen Einheit“59. Diese euphemistische Beurteilung des Anschlusses der DDR an die BRD hat eindeutig ihren Grund in der weiteren erfolgreichen Umgehung der Deutschlandfrage, die mit der Anwendung des Artikels belegt wurde. Die Äußerung, dass „der Beitrittsbeschluss der frei gewählten Volkskammer vom 23. August 1990 Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts der Deutschen in der DDR gewesen“60 sei und „damit jede Behauptung vom ‚Anschluss‘, dem Ausverkauf, ja der Aneignung eines ‚herrenlosen‘ Territoriums“61 widerlegt sei, ist ein Klischee der politischen Bildung nach 1990, das sich in der öffentlichen Wahrnehmung etabliert hat. Diese Debatte zum Eilverfahren nach Artikel 23 GG wurde bereits im Band „Anschluss“ ausführlich vorgestellt.

Weiterhin ist in dem zitierten Artikel der Konrad-Adenauer-Stiftung zu lesen, dass „die Entscheidung für den Artikel 23 keinen endgültigen Verzicht auf weitergehende, nicht unmittelbar beitrittsbedingte Veränderungen der Verfassungslage“62 bedeutet habe, „im Gegenteil, der Einigungsvertrag, der die politischen und rechtlichen Grundlagen für den Beitritt nach Artikel 23 schuf, öffnete das Tor ←39 | 40→für eine grundlegende Verfassungsdiskussion, wie sie in der ersten Hälfte der 1990er Jahre im wiedervereinigten Deutschland stattfand.“63 Wenn dem so sein sollte, dass „weitergehende, nicht unmittelbar beitrittsbedingte Veränderungen der Verfassungslage“ vorgesehen seien, heißt das mit anderen Worten, dass die „Verfassungsdiskussion, wie sie in der ersten Hälfte der 1990er Jahre im wiedervereinigten Deutschland stattfand“64, wieder aufgenommen werden sollte. Jene Erweiterungen der Grundrechte, die „aufgrund der Empfehlungen der gemeinsamen Verfassungskommission u.a. die Grundrechte durch Aufnahme von sogenannten Staatszielen wie den Umweltschutz oder den Ausbau der Gleichberechtigung von Frauen und Männern“65 betreffen, sollten keineswegs mit diesen Ergänzungen von 1990 abgeschlossen sein. Was in dieser Verfassungsdiskussion fehlt, ist der Ausbau eines Grundrechts zur gesellschaftlichen Gleichstellung von ostdeutschen und westdeutschen Bürgern, das heißt von politischer, rechtlicher und partizipativer Gleichstellung für DDR-sozialisierte Ostdeutsche, die bis heute aufgrund der anschlussbedingten unterschiedlichen Ausgangslage nicht nachweisbar ist. Damit wäre zumindest eine staatsrechtliche Grundlage in Richtung gleichberechtigter „Wiedervereinigung“ gelegt worden, um die multiplen Verwerfungen von vornherein rechtswirksam einzudämmen. Zwar wird „die Forderung nach einer Totalrevision des Grundgesetzes, wie sie beim Verfahren nach Artikel 146 des Grundgesetzes erfolgt wäre, in der Verfassungsdiskussion nach der Wiedervereinigung nie ernsthaft erhoben“66, jedoch steht diese Verfassungsdebatte nach wie vor an. Will eine „Vereinigung“ nach dem Artikel 23 GG nicht als Königsweg der Kolonialisierung des Ostens in die deutsche Geschichte eingehen, sollte die immer noch offene Forderung einer Verfassungsrevision umgehend in Angriff genommen werden.

Die „deutsche Einheit“ ist keinesfalls vollendet. Erst seit neuestem, seit etwa 2015, ist eine gewisse Aufklärungskonjunktur auf Bundesebene festzustellen, die sukzessive Studien freigibt, welche die Verwerfungen in Ostdeutschland in Wirtschaft, Gesellschaft, Geschichte und Kultur belegen, die auch die sozialen Konsequenzen der Deindustrialisierung und der Desurbanisierung nachweisen. Darüber hinaus wird ebenfalls eine Analyse der psychosozialen Konsequenzen von Diskriminierung und Ausschluss der ostdeutschen Teilbevölkerung aus gesellschaftlicher Gleichstellung und Integration gefördert, welche den vorläufigen Status quo von verfestigter Armut, Langzeitarbeitslosigkeit, Ausschluss aus dem ersten Arbeitsmarkt und den Eliten sowie Zunahme chronischer Erkrankungen in Ostdeutschland erklären. Die knapp 30-jährige Herstellung sozialer Missstände im Resultat eines neoliberalen Gesellschaftsumbaus wurde von Anfang an auf der Grundlage der immer noch offenen Gesetzes- und Rechtslage in Grundgesetz, Verfassung und Staatsrecht protegiert.

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3.2. „Die große Preisfrage bleibt: Wann wird Deutschland wirklich souverän – 1991, 1992 oder gar später?“

Abgesehen von der immer noch und für beide Teilgesellschaften offenen Frage der Staatssouveränität, welche dem Blitzanschluss der DDR an die BRD nach Artikel 23 GG zu Lasten gelegt werden muss, und der daraufhin erloschenen Chance einer Föderation von zwei staatlichen Gebieten mit Besatzungsstatus zu einem neuen souveränen Staat ist zudem das der Souveränitätsfrage inhärente Problem der Friedensverträge ebenfalls noch offen. Mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag wurde kein Friedensvertrag ratifiziert, sondern ein Abkommen geschaffen, das lediglich den Abzug der sowjetischen Truppen garantierte.

Wenn aber der Bundestag unter dem Thema „Die Deutsche Einheit ist noch nicht vollendet“ eine Debatte führt, in der es u.a. heißt, dass einem „Trend zur Verharmlosung der DDR-Diktatur“67 entgegengewirkt werden müsse, ist die „Einheit“ schon aus diesem Grund der einseitigen bis überstrapazierten Thematisierung der DDR als Diktatur und „Unrechtsstaat“ nicht vollendet. Und darüber hinaus, denn es bedarf der Gegenstimmen und damit der Stimmen der ostdeutschen Bevölkerungsmehrheit, der Stimmen derjenigen, die bis zur „Wende“ in der DDR verblieben und dort dem Gesellschaftsumbau und der „Zusammenbruchsgesellschaft“68 standhalten mussten. Wie im Band „Anschluss“ ausgeführt wurde, ist eine kritische Auseinandersetzung mit der DDR ohne eine kritische Auseinandersetzung mit der BRD, deren Wirken ab 1990 sogar staatsübergreifende Gültigkeit erlangte, nicht denkbar. Solange Formulierungen dieser Art, in denen Menschen auf „Täter und Opfer“ des „SED-Regimes“ oder auf „Mitläufer“ reduziert werden, in denen die DDR exklusiv im Ausschnitt der Diktatur thematisiert wird, gar der zweiten nach dem NS-Regime, ohne gleichzeitig die in der BRD zur selben Zeit (1949–1990) herrschenden Doktrinen und alliierten Protektorate69 zu beleuchten und ohne gleichzeitig heute wirksame Konsequenzen ←41 | 42→des herrschenden Neoliberalismus, von marktdynamischem Anschluss und sozialdynamischem Ausschluss oder von Überwachungskapitalismus70 infolge der alliierten Kontrollrechte in Deutschland zu thematisieren, ist die „Einheit“ und damit der europäische Frieden nicht vollendet. „Die große Preisfrage bleibt: Wann wird Deutschland wirklich souverän – 1991, 1992 oder gar später?“71

Solange die BRD nicht davon Abstand nimmt, das kulturelle Gedächtnis der deutschen Bevölkerung in Ost und West zu indoktrinieren, indem die deutsche Geschichte aus einer Mono-Perspektive der „DDR-Diktatur“ versus der BRD-Demokratie vermittelt wird, solange die offizielle Erinnerungspolitik nicht so gestaltet wird, dass sich die meisten ehemaligen DDR-Bürger darin wieder finden können, ist die „Einheit“ nicht vollendet.72 Solange die Institutionen der offiziellen Erinnerungspolitik, der Medien, der Wirtschaft, der Bildung und Wissenschaft ausschließlich von Westdeutschen verwaltet und regiert werden, ohne die kulturkoloniale Dominanz des Westens im Osten zu thematisieren, ist die „Einheit“ und damit der europäische Frieden nicht vollendet.

Solange die BRD davon spricht, dass sie den Amerikanern die Freiheit zu verdanken habe – sowohl die Befreiung von Hitler als auch die Befreiung von den Russen –, können wir nicht davon ausgehen, dass die „Einheit“ vollendet ist. So sprach Außenminister Heiko Maas beim Fest anlässlich des Tages der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2018 in der deutschen Botschaft in Washington und verkündete: „Es waren die Amerikaner, die die deutsche Einheit möglich machten. Wir werden das nie vergessen.“73 Noch bis 2016 war Michael Gorbatschow, der sowjetische Präsident, in der Moderation der veröffentlichten Meinung der „Staatsmann, der Deutschland die Einheit gebracht hat“.74 Offenbar ist auch hier eine deutliche Verschiebung innerhalb des erinnerungskulturellen Narrativs der „deutschen Einheit“ festzustellen, die eine Entwertung der Leis←42 | 43→tungen der Sowjetunion sowie eine Nivellierung der Vorgeschichte, die überhaupt zur Teilung führte, beinhaltet. Solange die Friedensleistung der Sowjetunion nicht dauerhaft gewürdigt wird, die einer „deutschen Einheit“ und somit dem Ende des Kalten Krieges Vorschub leistete, ist die „Einheit“ und damit der europäische Frieden nicht vollendet. Solange Deutschland als Nationalsubjekt der westlichen Wertegemeinschaft und als Komplize alliierter Kontrollrechte seit 1950 heute wieder eine revisionistische Rhetorik mit antikommunistischem, russophobem Kern reaktiviert um im Verbund der NATO Russland den Krieg zu erklären, ist die „deutsche Einheit“ nicht vollendet.75

Ebenfalls wird bis heute der 8. Mai, der Tag der Befreiung vom Hitlerfaschismus, der zum gesetzlichen Feier- und Gedenktag erklärt werden sollte76, immer wieder auf Bundesebene relativiert und mal mehr, mal weniger zurückgewiesen. Als Feiertag gilt er aus offizieller deutscher Sicht den westlichen Alliierten, ihrem Sieg an der Westfront. Dabei wird oft der Blick auf die Alliierten im Osten, die Russen, die mit gut 30 Millionen Menschenopfern die Hauptlast im Angriffs- und Vernichtungskrieg der Wehrmacht und gleichzeitig auch die Hauptlast in der Befreiung Deutschlands vom Hitlerfaschismus trugen, verstellt, denn es war die Rote Armee, die Berlin einnahm, die Hauptstadt des „Großdeutschen Reichs“ unter der Befehlsgewalt der Garnison des Generals Helmuth Weidling und den Sitz der Reichsregierung im Reichstag. Von Berlin aus wurde die bedingungslose Kapitulation verkündet. „Heute ist der 8. Mai in Europa und der 9. Mai in Russland offiziell der Tag des Kriegsendes. Das jedoch ist eine bloße Datumsangabe. Umgangen werden dabei die wesentlichsten Fragen.“77 Als Kanzlerin Merkel anlässlich des 70. Jahrestages der Befreiung Deutschlands vom Hitlerfaschismus die Entscheidung traf, nicht in Moskau an der Siegesparade teilzunehmen, sondern am Tag danach anzureisen, reagierte die Weltöffentlichkeit mit Empörung. Der jüdisch-bulgarische Schriftsteller und Drehbuchautor Angel Wagenstein schrieb an Angela Merkel einen offenen Brief, in dem er auf den „Tag danach“ Bezug nimmt. Solange aus der deutschen Geschichte die Befreiung vom Hitlerfaschismus ausgeschlossen wird, solange Antifaschismus ein Ketzerbegriff ist und regelmäßig einem Autodafé vorsteht, solange die Siege, ob das Ende des Zweiten Weltkrieges oder das Ende des Kalten Krieges von ←43 | 44→deutschen Regierungssprechern den West-Alliierten, namentlich den USA, zugeschrieben werden, bei gleichzeitiger Herabsetzung des sowjetischen Verantwortungs- und Verteidigungshandelns, so lange ist die „Einheit“ nicht vollendet und der Frieden in Europa nicht hergestellt.

Wenn aus dieser Verbindung historisch falscher Sieger und historisch falscher Feinde ein neuer Krieg entsteht, nämlich der deutsche Sanktionskrieg gegen Russland und die deutsche Protektion des Ukraine-Kriegs wie auch die aktuelle Präventivkriegsdebatte der NATO (einschließlich der Bundeswehr) gegen Russland, dann ist die „Einheit“ nicht hergestellt. Während gerade Deutschland die Bedingungen der „Einheit“ gebrochen hat, die NATO nicht weiter nach Osten auszudehnen, bezichtigt Deutschland heute Russland des Völkerrechtsbruchs in der Ukraine. Während es doch Deutschland ist, das im Grunde genommen seine im Jahr 1945 verlorene Souveränität erst unter der Bedingung der Staatsneugründung hätte wiedererlangen können, hat Deutschland darauf verzichtet und sich 1990 für den Anschluss entschieden. Es fand weder eine Staatsneugründung statt noch eine Föderation zwischen autonomen Republiken (Bundesrepublik und Deutsche Demokratische Republik), sondern ein sich auf Wahlen berufender Staatsanschluss. Die Ähnlichkeit dieser Bewegungen, 2014 die unblutige Sezession auf der Krim und 1990 der unblutige Anschluss der DDR an die BRD, ist nicht zu übersehen. Der Völkerrechtsbruch wird jedoch von Deutschland seit 2014 vehement Russland vorgeworfen, während Russland kaum jemals den Völkerrechtsbruch der deutschen Krim-Annexion von 1941/42 und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit in den Krim-Massakern der deutschen Wehrmacht als Hinderungsgrund für eine „Wiedervereinigung“ ins Spiel gebracht hätte. Auch wirft Russland Deutschland keinen Völkerrechtsbruch anlässlich der Fremdwahlen der CDU-West in der damals noch autonomen DDR oder einen Vertragsbruch gegen das Potsdamer Abkommen vor. Dergleichen dringt von russischer Seite nicht in die Medienöffentlichkeit, während doch in der Tat in all diesen Fällen bis heute nicht geklärte Völkerrechtsbrüche vorliegen. Selbst die Völkerrechtsbrüche des Deutschen Reichs in Russland und auf der Krim zwischen 1941 und 1945 könnten rückwirkend zumindest in dem Maß aufgegriffen werden, wie seit 1990 die DDR in der politischen Bildung der BRD als „zweite deutsche Diktatur“ pogromisiert wird, da Deutschland bis heute keine Souveränität nach 1945 aus einer Staatsneugründung wiedererlangt und sich den Völkerrechtsbrüchen in der Sowjetunion bis heute nicht gestellt hat. Solange hier mit zweierlei Maß zur Durchsetzung einer neoliberalen Ordnung in Europa gemessen und verhandelt wird, so lange ist die „Einheit“ und damit der europäische Frieden nicht vollendet.

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4. Die Löschung der DDR beginnt mit ihrer Herabsetzung zur Fußnote der Deutschen Gesellschaftsgeschichte

Als Stefan Heym am Abend der Volkskammerwahlen am 18. März 1990 sagte: „Es wird keine DDR mehr geben. Sie wird nichts sein als eine Fußnote in der Weltgeschichte. Jetzt bleibt nur zu überlegen, was wird.“78 , war das eine resignierte Anmerkung zu einer beginnenden rückwärtsgewandten Umbaugesellschaft. Es war eine intellektuelle und politische Gesinnungskapitulation in vorausahnender Sorge, was da kommen wird.

Noch auf der Demonstration auf dem Alexanderplatz am 4. November 1989 hoffte Heym auf eine Revolutionierung des Sozialismus durch das Volk und dass es jetzt endlich gelinge, in der DDR eine wirklich sozialistische Gesellschaft aufzubauen: „Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der Stagnation, der geistigen, wirtschaftlichen, politischen, den Jahren von Dumpfheit und Mief, von Phrasengewäsch und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit ... Der Sozialismus – nicht der Stalinsche, der richtige –, den wir endlich erbauen wollen zu unserem Nutzen und zum Nutzen ganz Deutschlands, dieser Sozialismus ist nicht denkbar ohne Demokratie. Demokratie aber, ein griechisches Wort, heißt Herrschaft des Volkes.“79 „Er unterschreibt den Aufruf ‚Für unser Land‘, in dem er sich zusammen mit anderen DDR-Intellektuellen wie Christa Wolf aber auch Egon Krenz, der für kurze Zeit Honecker ablösen sollte, für eine ‚erneuerte, verbesserte DDR‘ einsetzt. Zeitweilig ist er auch als möglicher DDR-Präsident im Gespräch.“80

Nach der Hoffnung kam die Enttäuschung. „Aus dem Volk, das nach Jahrzehnten Unterwürfigkeit und Flucht sich aufgerafft und sein Schicksal in die eigenen Hände genommen hatte und das soeben noch, edlen Blicks, einer verheißungsvollen Zukunft zuzustreben schien, wurde eine Horde von Wütigen, die, Rücken an Bauch gedrängt, Hertie und Billa zustrebten auf der Jagd nach dem glitzernden Tinnef. Welche Gesichter, da sie, mit kannibalischer Lust, in den Grabbeltischen, von den westlichen Krämern ihnen absichtsvoll in den Weg platziert, wühlten; und welch geduldige Demut vorher, da sie, ordentlich und folgsam, wie's ihnen beigebracht worden war zu Hause, Schlange standen um ←45 | 46→das Almosen, das mit List und psychologischer Tücke Begrüßungsgeld geheißen war von den Strategen des Kalten Krieges.“81

Eine „Vereinigung“ beider deutscher Staaten in Form des Anschlusses der DDR kommt für Heym nicht in Frage. Die DDR will er reformieren, ja revolutionieren, aber nicht aufgeben, er hält ihre Existenz für unverzichtbar als Gegengewicht gegen all diejenigen Akteure und Eliten, die bereits Hitler stark gemacht hatten: „War nicht die Stabilität Europas, die all die schönen demokratischen Entwicklungen im Osten – in Polen, der Sowjetunion, Ungarn, der DDR und der ČSSR – erst auslöste, begründet auf der Existenz zweier deutscher Staaten? Was für eine Stabilität würde das denn wohl sein mit einem neuen Großdeutschland, dieses beherrscht von Daimler-Messerschmitt-Bölkow-Blohm und der Deutschen Bank? Und wie weit wär's von da bis zu der Forderung nach den Grenzen Großdeutschlands von 1937, und nach noch weiter erweiterten Grenzen darüber hinaus? Und das mit der Atombombe im Köcher?“82

Details

Seiten
494
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631798454
ISBN (ePUB)
9783631798461
ISBN (MOBI)
9783631798478
ISBN (Hardcover)
9783631798447
DOI
10.3726/b16007
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Dezember)
Schlagworte
Das Abwicklungs- und Löschungsverfahren der DDR Einigungsvertrag Treuhandgesetz Rundfunkstaatsvertrag Wirtschaft-Währungs- und Sozialunion (WWSU)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 465 S., 37 farb. Abb., 9 s/w Abb., 5 Tab.

Biographische Angaben

Yana Milev (Autor:in)

Yana Milev ist Kulturphilosophin, Soziologin und Ethnografin. Nach einer künstlerischen Karriere schlug sie ab 2003 eine wissenschaftliche Laufbahn ein. Im Anschluss an ein Doktoratsstudium mit Promotion im Fach Philosophie habilitierte sie sich zu einem Thema der Visuellen Soziologie und wurde 2014 zur Privatdozentin für Kultursoziologie der School of Humanities and Social Sciences (SHSS) der Universität St. Gallen (HSG) ernannt. Seit 2017 ist Yana Milev Leiterin und Herausgeberin des Forschungsprojektes "Entkoppelte Gesellschaft. Liberalisierung und Widerstand in Ostdeutschland seit 1989/90. Ein soziologisches Laboratorium".

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Titel: Entkoppelte Gesellschaft – Ostdeutschland seit 1989/90
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