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Isḥāq Armale: Die Schlimmsten aller Katastrophen für die Christen

von Amill Gorgis (Band-Herausgeber:in) Dorothea Weltecke (Band-Herausgeber:in)
©2021 Andere 396 Seiten

Zusammenfassung

Dieser Band ist die erste deutsche Übersetzung von Isḥāq Armales Buch über den Völkermord im Osmanischen Reich. Der syrisch-katholische Chorepiskopos Isḥāq Armalesbeschreibt in der bereits 1919 veröffentlichten Originalausgabe ausführlich das grausame Schicksal, das die Christen in den Städten Mardin, Diyarbakır, ar-Ruhā (Edessa, Urfa, Urhāy), Aleppo, Sindschar, Cizre, Siirt, Kfarbōrān, Tur ‘Abdin sowie in den Dörfern in dieser Umgebung ereilte. Der Autor berichtet über die Unterdrückung der Menschen und berichtet über Entführungen, Vertreibungen, und Massakern, die sich im Jahre 1895 und in den Jahren 1914 bis 1919 zugetragen haben. Die Übersetzung ist ein wichtiges Zeugnis in der Erinnerung an die Menschen, die dem Völkermord zum Opfer fielen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Title
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Geleitwort
  • Einführung
  • Inhalt
  • Vorwort
  • Erster Teil: Die vorausgehenden Ereignisse in Mesopotamien.
  • 1. Mardin.
  • 2. Das Christentum in Mesopotamien.
  • 3. Die politischen Ereignisse in Mesopotamien.
  • 4. Die Araber und Mesopotamien.
  • 5. Die Muslime in Mesopotamien.
  • 6. Die Arteqīye-Dynastie 1095–1421
  • 7. Das Qarqoyenlīye-Fürstentum 1410–1468. Und das Akqoyenlīye-Fürstentum 1468–1514
  • 8. Die Dynastie der Osmanen.
  • 9. Das schlechte Verhalten der Walis von Diyarbakɪr.
  • 10. Die Herrscher der Armenier.
  • 11. Die armenische Kirche.
  • 12. Die syrische Kirche.
  • 13. Die chaldäische Kirche.
  • 14. Die römisch-katholischen Missionare.
  • 15. Die protestantischen Missionare.
  • 16. Die Katastrophen des Jahres 1895, bekannt als das Jahr der Revolution.
  • 1. Diyarbakɪr
  • 2. As-Saʿdīye
  • 3. Mayafārqīn (Maiperqat, Silvan)
  • 4. Qarabāš
  • 5. Qatarbel
  • 6. ar-Ruhā (Edessa, Urfa, Urhāy)
  • 7. Tall Arman
  • 8. Gōllīye oder Quṣūr,
  • 9. Binēbīl
  • 10. Ḥesnā Dattā (Frauenburg) und das Zaʿfarān-Kloster
  • 11. Manṣūrīye
  • 12. Nisibis und Ṭūr ʿAbdīn
  • 13. Virānšeher und Dērike
  • 14. Mardin
  • Zweiter Teil: Katastrophen des Weltkrieges. Ab der Kriegserklärung bis Juni 1915.
  • 1. Die Kriegserklärung.
  • 2. Die Türkei im Krieg.
  • 3. Protest gegen Deutschland und Österreich.
  • 4. Angriff der Türken auf die Christen.
  • 5. Mardin und der ungerechte Krieg.
  • 6. Einkehr der Priester und ihres Bischofs in der Kirche, Kriegserklärung, Mobilisierung und Entsendung der Truppen. 3. bis 10. August.
  • 7. Fortsetzung der Mobilisierung und des Transports der Truppen, Erneuerung der Personalausweise, Flucht der Deutschen aus Raʾs al-ʿAyn. 11. bis 20. August.
  • 8. Brandanschlag auf den Markt in Diyarbakɪr. Hinscheiden des apostolischen Pontifex, Ramadān-Feiertag, Unglück von Virānšeher. Soldaten in Diyarbakɪr. 21. bis 31. August.
  • 9. Plünderung der Läden, Fahrt des Mutasarref, Dr. Louis Markīzī, Überfall auf die Kirchen und Häuser, Ermordung von Ǧalīl Kōke. 1. bis 15. September.
  • 10. Fortsetzung der Festnahme wehrpflichtiger Männer und ihres Abtransports. 16. bis 30. September.
  • 11. Requirierung von Getreide und Vieh. Zusammentreiben der Schafe. Plünderung der Läden. Eintreffen von Soldaten aus Bagdad und Mossul. Zerstörung der Häuser. Monat Oktober.
  • 12. Entlassung der Ernährer der Familien, die beiden Gemeindevorsteher von Qalʿit Mara und Mardin. Angriff der Russen, Kriegserklärung, Niederlage der Soldaten der Ḥamidīya, der chaldäische Arzt Rāfāʾīl. 1. bis 15. November.
  • 13. Ankunft der Soldaten aus Bagdad, die Engländer in Basra, der Prediger in der Moschee, Verhaftung von Elyās Ṭebbī und Maqdasī Yūsuf Armale, der deutsche Kommandant in der Hauptstadt. 16. bis 30. November.
  • 14. Die Kapuzinerkirche, Schlagen von Frauen, Mutasarref Hilmi, Muḥammad Kabūšō, die dominikanischen Priester, Fortsetzung der Einziehung. Dezember.
  • 15. Der Neujahrsabend.
  • 16. Ankunft der kranken Soldaten, Eröffnung dreier syrisch-katholischer Kirchen, Niederlage der Armee, Überfälle auf die Häuser. Januar 1915
  • 17. Ankunft der Soldaten aus der Hauptstadt, Diebstahl der Dāšīye, Verkauf des Eigentums der Nonnen, Hilmi und die Metropoliten der Armenier und der Syrer, die Soldaten und die Deserteure, Ermordung zweier Männer, Abreise Hilmis, verwundete Soldaten, die Diakone, die Kirche der Jakobiten. Februar.
  • 18. Verbreitung der Seuche unter den Soldaten, Belagerung der Hauptstadt, die Straßenbauarbeiter, der Wali von Mossul, Festnahme des Kolīye-Priesters, häufiges Auftauchen von Soldaten in den Kirchen, Fall der Diakone. März.
  • 19. Ostern, der Maloyan-Erlass, Einziehung des fünfzigsten Regiments, Die Gemeinheit des al-Ḥaǧǧ Zakī, Verbrennung der Briefe und Bücher der Geheimbünde, Überfall auf die armenische Kirche. Monat April.
  • 20. Die Prophezeiung von Ignatius Maloyan.
  • 21. Überfall der Kirchen, Priester Ḥannā Šūḥā, die Vereine, Sammlung der Waffen, Entlassung der christlichen Beamten, Ermordung von Īsā Qaryō, Misshandlung von Ǧerǧos Ādam, Reşid und Hilmi, Ermordung des Führers Barrō und seiner Verwandten, Festnahme von Ibn Ḥanǧō und seinen Freunden, ein Komplott, Entsendung einer Frau nach Aleppo. Mai.
  • Dritter Teil: Über die Gefängnisse, Blutbäder, Gefangenschaften und sonstige Grausamkeiten. Vom Juni bis Oktober 1915.
  • 1. Verbrechen der Bosheit und der Heuchelei.
  • 2. Die Abschaffung der Privilegien.
  • 3. Die Charaktereigenschaften der Feinde der Menschheit.
  • 4. Der Besuch des Bischofs Ignatius beim syrischen Metropoliten. Ankunft Mamdūḥs und seiner Gefolgschaft. Die Verhaftung des Metropoliten, seiner Priester, der angesehenen Persönlichkeiten und der Gemeinde. Ihre Qualen. Būlos Šūḥā
  • 5. Ignatius wird vor Gericht gestellt. Er erleidet Folter und wird ins Gefängnis geworfen.
  • 6. Frauen tragen Essen zu den Gefangenen. Vom 4. bis 9. Juni.
  • 7. Der erste Konvoi oder das Massaker der 417 Blutzeugen.
  • 8. Ein Blick auf das Dach des Klosters von Mār Afrām
  • 9. Das Blutbad des ersten Konvois.
  • 10. Die lächerlichen Lügen der Mörder über das Ergehen des ersten Konvois.
  • 11. Die Gebete und Gelübte der Christen. Der Eifer des syrischen Priesters und Märtyrers Mattā Mlāš
  • 12. Der zweite Deportationszug.
  • 13. Der Märtyrertod von vierundachtzig Christen, auf welche am 15. Juni fünfzehn Blutzeugen folgten.
  • 14. Abführung der Verbliebenen aus dem zweiten Konvoi. Die Amnestie. Ihre Ankunft und Inhaftierung in Diyarbakɪr. Vom 15. bis 21. Juni.
  • 15. Die Rückkehr des zweiten Konvois. Die Trennung der Syrer von den Armeniern.
  • 16. Qualen, über die wir ausführlich informiert wurden.
  • 17. Die Qualen der inhaftierten Armenier. Der Überfall auf die armenische Kirche. Die Gewalttaten gegen Mönchspriester Eṣṭīfān und Priester Yaʿqūb. Der Abtransport der Inhaftierten und ihre Ermordung. Die Namen der armenischen Priester. Die Suche nach Waffen.
  • 18. Die Namen der Märtyrer des ersten und zweiten Massakers vom 10., 11. und 15. Juni.
  • 19. Frankreich, Mutter der Güte und der Gefälligkeit oder die Katastrophen der franziskanischen Nonnen und Mönche.
  • 20. Die Schließung und Schändung der Kirchen und der Gebetshäuser.
  • 21. Armenier, die ihrem Glauben abschworen.
  • 22. Die Festgelage.
  • 23. Ankunft der armenischen Deportationszüge aus Erzurum und anderen Orten. Vom 4. bis 6. Juli.
  • 24. Hinterlist und Verrat. Der Tod des jungen Mannes Anṭūn Maʿmārbāšī
  • 25. Die eingetroffenen Konvois der Frauen aus Diyarbakɪr. 5.–15. Juli.
  • 26. Der Überfall auf die unberührten und verheirateten Frauen.
  • 27. Abführung des ersten Konvois der Frauen.
  • 28. Das Gemetzel der ersten Konvois der Frauen. 16. bis 17. Juli.
  • 29. Die Folgen des Konvois der Frauen. Die Familie Maʿmārbāšī und Doqmāq. Requirierung von 2000 Lira von der syrischen Glaubensgemeinschaft. Das Massaker an den Armeniern am Kōskō-Fluss. Verkauf der Deportationszüge. Das Wohlverhalten von ʿAbdul Qāder Čalabī al-Fāšūḫ
  • 30. Die Mönche des Mār Afrām-Klosters schließen sich in ihrem Kloster ein.
  • 31. Die Mönche im Gefängnis.
  • 32. Die Fortsetzung der Deportationszüge der Frauen im August.
  • 33. Die Deportationszüge im September.
  • 34. Die christlichen Arbeiter.
  • 35. Die Standhaftigkeit und Tapferkeit der Christinnen.
  • 36. Das Blutvergießen der Unschuldigen.
  • 37. Die verschiedenen Formen der Folter, die den Christen zugemutet wurden.
  • 38. Die Situation der verbliebenen Christen, die dem Morden entkommen konnten.
  • 39. Klagelieder aus dem Volk.
  • Vierter Teil: Die Massaker in Mesopotamien.
  • 1. Übersicht.
  • 2. Das Massaker von ar-Ruhā (Edessa, Urfa, Urhāy).
  • 3. Das Massaker von Diyarbakɪr und seiner Umgebung.
  • 4. Das Massaker von Dērike
  • 5. Das Massaker von Virānšeher
  • 6. Das Massaker von Ras al-ʿAyn
  • 7. Die Massaker von Deir ez-Zor und Šaddāde
  • 8. Die Geschichte von Sindschar.
  • 9. Die christliche Minderheit im Sindschar.
  • 10. Die weiteren Ereignisse im Sindschar.
  • 11. Das Massaker von al-Ǧazīra (Cizre).
  • 12. Das Massaker von Seʿert (Siirt).
  • 13. Das Massaker von Kfarbōrān
  • 14. Die Massaker von Dayr al-ʿUmar, Dayr aṣ-Ṣalīb und Bāsibrīna
  • 15. Die Massaker von Midyat und Ṣālaḥ
  • 16. Wohltätigkeit, oder: Doktor Naʿmān
  • 17. Die Belagerung von ʿAynwardo
  • 18. Die Massaker von Kfar Ǧōza und Bōte
  • 19. Die Massaker von Qelliṯ, Ḥeṣen Kīfā
  • 20. Das Massaker von Ṣawr
  • 21. Die Massaker von Nisibis und Dārā
  • 22. Die Ereignisse im Dayr az-Zaʿfarān
  • 23. Das Massaker von Qalʿit Mara
  • 24. Die Massaker von Maʿsarte, Bāfāwā und Binēbīl
  • 25. Das Massaker von Manṣūrīye
  • 26. Das Massaker von al-Quṣūr
  • 27. Das Massaker von Tall Arman.
  • 28. Einzelne Berichte.
  • Fünfter Teil: Bemerkungen und Nachwirkungen der Massaker und Katastrophen, und ihr Ende. Von 1916 bis 1918.
  • 1. Der Auktionsmarkt.
  • 2. Die versteckten Schätze.
  • 3. Die Ankunft der Einwanderer in Mardin und ihr Einzug in die Häuser der Christen.
  • 4. Die Epidemien.
  • 5. Die Massengräber.
  • 6. Die Hungersnot.
  • 7. Das Kranken- und Waisenhaus der katholischen Syrer.
  • 8. Ein Schiff in den hohen Wellen des Sturms, oder die Drohungen gegen Theophilos Gabriel Tappouni, dem Metropoliten der katholischen Syrer.
  • 9. Der fremde Franzose.
  • 10. Der umherirrende Waisenjunge.
  • 11. Das Eintreffen Enver Paschas und der Deutschen in Mardin.
  • 12. In den Brunnen, Bergen, Feldern und Anhöhen.
  • 13. Die Zwangsarbeit.
  • 14. Die Armeeärzte.
  • 15. Die Anführer der Militäreinheiten.
  • 16. Die Diakone und die Deserteure.
  • 17. Würdigung der guten Taten.
  • 18. Das Ende der Katastrophen.
  • 19. Das Ende der Kriegsereignisse.
  • Ortsverzeichnis
  • Danksagung

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Vorwort

Gelobt sei Gott, der den Menschen aus Erde schuf und mit allem, was süß und köstlich ist, begnadete und versprach, ihn reichlich zu belohnen, wenn er den Weg der Rechtschaffenheit und Vernunft wählen würde. Als er aber Gottes Gebote übertrat, wurde er Beute für Leid und Versuchung. Seine Würde und Freude wurden in Niedrigkeit und Betrübnis verwandelt und Gott bestrafte den Menschen und fügte ihm heftige Qualen zu.

Was hier folgt, ist ein Buch, das die schmerzhaften Ereignisse des fürchterlichen Krieges, seine herzzerreißenden, unerträglichen Qualen sowie den Verlauf der Geschehnisse der grauenhaften Massaker und abscheulichen und hässlichen Schandtaten umfasst, die in Mesopotamien begangen wurden.

Das Buch führt mit einem kurzen Abschnitt in die alte Geschichte Mesopotamiens ein. Mit seinem Titel „Die schlimmsten aller Katastrophen für die Christen“ verleiht es der Ohnmacht der Christen, in der sie sich befanden, Ausdruck. Es lenkt die Aufmerksamkeit derer, die es verstehen, auf die Geschehnisse und dokumentiert die bösen Taten der Verbrecher – Gott möge sie richten –, die die Mehrheit von uns, die Alten und Jungen, mit ihren Schwertern ausrotteten, damit sie im Gedächtnis lebendig bleiben. Keinen Schlaf konnten wir finden, auf nackter Erde und Dornen mussten wir schlafen – der Kummer erdrückte unser Herz!

Jetzt ist für uns der Moment gekommen, die Zeit der Vernichtung, in der die Güte so weit entfernt und das Böse um uns war, zu beklagen.

Zur Bestätigung der Schilderungen muss man sich nur umsehen. So wird man vielfach einem Armen begegnen, der nackt war und hungerte, einem Reichen, der hochmütig die Gnade Gottes in Unglaube und Verleugnung wandelte, einem Unterdrückten, der sein Hab und Gut verlor, seiner Reichtümer beraubt wurde und seinen Lebensunterhalt einbüßte. Man wird aber auch einen Ungerechten sehen, der zahllose Leute verriet und schädigte, um planvoll seinen Reichtum zu mehren und seine Gier nach Geld zu stillen. Auf der anderen Seite wird man in diesem Buch Menschen begegnen, die Trost darin fanden und Demut verspürten, dass ihre eigene erlittene Not im Vergleich mit dem Leid anderer geringer erschien.

Wie wahr sind diese Verse eines Dichters:

„Alles, was sich vervollkommnet, hat dennoch Mängel, deshalb soll man sich durch die Freuden des Lebens nicht täuschen lassen.

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Wenn Missstände endlos erscheinen, vergehen sie. Wenn Betrübnisse zur Gewohnheit

werden, stärken und trösten sie.“

Auch dieser Vers eines anderen Poeten passt zu unserer Lage:

„Das Unglück unserer Tage verwundert keinen, doch dass wir wohlbehalten blieben, ist das größte Wunder.“

Rüste dich mit Geduld, geliebter Bruder, und wenn dein wundes Herz es unerträglich findet, dann bedenke, dass ich dir in den Kümmernissen ein Bruder bin, ein Genosse im Trübsal. Mein Zuhause ist wie deines von Zerstörung betroffen. Der Hass starrte mich genauso wie dich aus jeder Ecke an. Betrug und Verlogenheit umringten mich von allen Seiten. Schaden und Leid klebten fest an mir. Ich habe Freunde und Bekannte verloren, man hat mir meine Familie und meine Lieben geraubt. Und wenn du mich danach fragst, was mir wiederfahren ist, so werden nur die Tränen in meinen Augen die Antwort sein. Denn ich sah, wie meine verstummenden Eltern und Brüder in die überfüllten Gefängnisse geworfen wurden. Sie wurden geschlagen, geohrfeigt, gepeitscht und gedemütigt, ohne ein Wort von sich zu geben. Sie wurden wie die Schafe zur Schlachtbank geführt, gehorsam und gedemütigt. Sie harrten geduldig und ergeben in Bergen und Höhlen aus. Verhungert und verdurstet wurden sie in Flüsse und Brunnen geworfen. Menschen wurden zu Bluthunden und übersprangen alle Schranken des erlaubten menschlichen Verhaltens: sie entehrten standhafte Frauen und entjungferten keusche, tugendhafte und reine Jungfrauen5. Dem Teufel genügte all das nicht. Er ließ sich nicht durch die Klagen und die Wehrufe besänftigen, sondern das Quälen Unschuldiger und das Erfüllen seiner Begierde, Tag wie Nacht, wurden zu seiner Glaubensüberzeugung. Und so wütete er – Gott möge es ihm nicht mit Gutem vergelten – wie Raubvögel, wilde Tiere und tollwütige Hunde. Barmherzigkeit und Mitleid kannte er nicht. Nichts wollte er von Erbarmen und Güte hören. In dieser Hinsicht blieb uns nichts anderes übrig, außer es zu ertragen und uns in die Hand des einzigen, gerechten und allmächtigen Gottes zu geben.

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Nachdem die Verderbtheit des Menschenfeindes zugenommen hatte und seine Boshaftigkeit übermächtig geworden war, quoll Blut statt Tränen aus den Augen der Menschen und es blutete ihr Herz. Da habe ich gesagt: „Mein Auge erbarme dich, lass dich bitten, hilf mir, dass ich bis zu meinem Lebensende [die Opfer] beweine: erhabene und ehrwürdige Kirchenväter, ehrbare Priester, tadellos anständige Diakone und ehrliche Würdenträger, gottesfürchtige und redliche Persönlichkeiten, feine junge Männer, friedliche Kinder und unschuldige Säuglinge, die von arglistigen und hasserfüllten Feinden entführt wurden. Sie ließen uns Qualen erleiden, die heißer sind als die Glut der Tamariske. Ja, ich werde weinen, bis keine Träne mehr im Auge bleibt! Verehrungswürdige und kluge Frauen, stille Jungfrauen, zurückhaltende, wohlbehütete, keusche, unbescholtene, ehrliche Mädchen wurden von gierigen Aasgeiern überfallen.“ Sie versuchten, sie ohne Erbarmen und ohne Recht zu fangen, zu schänden und zu entehren.

Aber, Gott sei Dank, konnten die Peiniger ihr Ansinnen nicht durchsetzen, ihnen ihren Glauben zu nehmen. Sie ertrugen Folter und Qual, Schande und Tod aus Liebe zu dem, der sein Leben für sie hingab und selbst Qual und Schmerzen für sie ertrug.

Dies beschreibt die tatsächlichen Verhältnisse, die dir beim Lesen dieses ergreifenden Buches begegnen werden. Wir haben es in fünf Abschnitte geteilt: Der erste Teil ist den geschichtlichen Ereignissen bis zum Weltkrieg gewidmet; der zweite den Katastrophen des Weltkrieges, und zwar seit seinem Beginn bis Ende Mai 1915; der dritte Teil befasst sich mit Berichten über Verhaftungen, Massaker, Entführungen und weitere Gräuel, die sich in Mardin von Juni bis Oktober1915 abspielten; der vierte Teil enthält Berichte über das Gemetzel in den Orten der Ǧazīra, wie ar-Ruhā (Edessa, Urfa, Urhāy), Dyār Bakir (Diyarbakɪr), Raʾs al-ʿAyn, Deir ez-Zor, ṬurʿAbdīn, Seʿert (Siirt) und anderen. Das letzte Kapitel ist der Zeit nach den Massakern, der Katastrophe und ihrem Ausklang gewidmet: Es berichtet von den Märkten, auf denen die Hinterlassenschaften der Christen versteigert wurden, von den Plünderungen christlicher Schätze und der Schändung christlicher Begräbnisstätten. Weiter berichtet es von der Ansiedlung neuer muslimischer Bevölkerung in Mardin und anderswo. Am Ende steht der Bericht über das Leiden, das dem syrischen Metropoliten Ǧabrāʾīl zugefügt wurde, über die Folter, die er durchstehen musste, als die Feinde ihn ins Gefängnis warfen, wo er bis zum Ende der Katastrophe festgehalten wurde.

Lieber Leser, nimm bitte zur Kenntnis: Das, was wir mit unseren Augen nicht sahen, entnahmen wir aus dem Mund von Augenzeugen, die durch Gottes Fürsorge vom Tode errettet wurden, um uns zu berichten, was sie alles ertragen mussten, damit wir ihre Berichte veröffentlichen, den Unterdrückern zur Mahnung und den Verfolgten zum Trost. Sei sicher, dass der vertrauenswürdigen Nachrichten so viele sind, dass einem Hören und Sehen vergehen. Wir haben sie, soweit es die Verhältnisse erlaubten, gekürzt. Wenn wir gewollt hätten, hätten wir einen weiteren großen Band schreiben können.

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Wir begnügen uns aber mit dem, was hier niedergeschrieben steht. Es soll denen, die Gott nicht fürchten, eine Mahnung sein und den Verirrten als Wegweiser dienen, so dass das Opfer der unschuldigen und gemarterten Christen die Menschen dazu bewegen möge, Liebe und Zuneigung zu dem zu spüren, an den diese Menschen glaubten und der ihr Leben ausmachte.

Schließlich bitten wir den erhabenen Gott, dass unsere Arbeit Seiner Herrlichkeit, dem Sieg der katholischen Kirche, der Mutter aller Kirchen, zu Gute kommt und allen Verirrten den rechten Weg zeigt. Er, der Erhabene, ist der Allmächtige.


5(Anm. der Übers.: Man würde heute von Vergewaltigung sprechen).

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Erster Teil: Die vorausgehenden Ereignisse in Mesopotamien.

1.Mardin.

Mardin ist eine berühmte und kulturell wichtige Stadt in Mesopotamien. Sie ist auf einem hohen Berg errichtet, auf dem Gipfel steht eine stark befestigte Zitadelle, die nur über schwer zugängliche Pässe erreichbar ist, weswegen sie von den Gelehrten „Herrin der Zitadellen, Zentrum der Belagerung und Verteidigung“ genannt wurde. In der Ǧazīra-Region gab es keine andere Festung, die sie an Unnahbarkeit und Festigkeit übertraf, so dass die Angreifer bei der Belagerung der Stadt ermüdeten und sie nicht erobern konnten. Die Stadt blickt auf Dārā (Dara-Anastasiupolis), Nṣibīn (Nisibis), Sinǧār (Sindschar), Dunaysir, Kfartūt, den Chabur-Fluss, Raʾs al-ʿAyn und die sie umgebenden alten Regionen sowie weitere bekannte Dörfer. Sie wird von vielen anderen starken Zitadellen und hohen Festungen umgeben, so dass es kaum möglich war, sie zu bezwingen, deswegen wurde die Stadt im Aramäischen „Merdīn“ genannt, was „Festungen“ bedeutet. Eine spätere Übersetzung ins Arabische lautete „Mardūn“. Ich sehe es so, dass „Mārdīn“ auf die Vielzahl der Festungen und deren Uneinnehmbarkeit hindeutet.

Die Herrscher ließen sich in der Stadt prachtvolle Paläste und geräumige Häuser bauen, tiefe Brunnen anlegen und die Böden mit verschiedensten Sorten von Bäumen bepflanzen, damit sie die Stadt, wenn sie vom Feind angegriffen wurde, halten und verteidigen konnten. So wurden Mardin und seine Umgebung zu einem miteinander verflochtenen Gebiet, um dessen Eroberung die Herrscher und Heerführer der Region sich wetteiferten.

Der Poet Ṣafij Eddīn al-Ḥillī sagte über die Stadt:

„Viele Gesetzesbrecher versuchten Mardin zu erstürmen; es ist aber unmöglich das zu

erreichen, was unerreichbar ist.

Oh ihr, die ihr Mardin mit Damaskus vergleichen wollt, der Vergleich liegt fern, wie

könnte Damaskus dem Vergleich standhalten?“

Die Häuser, die mit weißen oder harten gelben Steinen gebaut sind, stehen stufenartig übereinander. Die Stadt ist bekannt für ihr schönes Wetter und köstliches Wasser. Nördlich der Stadt sind schöne, üppig wachsende Gärten und fruchtbare Weinstöcke angelegt, die vor reichlichen Erträgen an Früchten und köstlichen Hülsenfrüchten strotzen.

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Ihre wichtigsten Erträge sind: Fett, Wolle, Öl, Birnen, Mandeln, Kirschen, Sauerkirschen, Galläpfel, Terebinthe6 und andere.

Die Bewohner der Stadt sind sowohl Muslime als auch Christen. Die Gesamtanzahl der Christen – alle Konfessionsgruppen: Armenier, Syrer, Chaldäer und Protestanten – betrug vor dem schrecklichen Krieg zwanzigtausend.

2.Das Christentum in Mesopotamien.

Mehr als ein berühmter Kirchenchronist meint, dass sich das Christentum in Mesopotamien seit dem Ende des zweiten Jahrhunderts nach Christus verbreitet hat, so dass der edessenische Dichter Bardayṣān (†222) folgendes in seinem Buch „Gesetze der Länder“ darüber schrieb: „Was kann man nun über unsere neue christliche Gemeinschaft sagen, die unser Herr Christus in jedem Land und jeder Region gründete? Sie verbreitete sich in den Ländern der Parther, Meder und in ar-Ruhā (Edessa, Urfa, Urhāy) und weiteren.“7 Dies bestätigt der berühmte Tertullian mit den folgenden Worten: „An Christus glaubten alle Völker, wie Parther, Meder, Ilamiten und die Bewohner von Mesopotamien.“ Dionysios von Alexandria schrieb, dass in Mesopotamien christliche Kirchen existieren, die vor seiner Zeit errichtet wurden.

Mardin gehört zu den ersten Städten, die den christlichen Glauben annahmen, was an ihren alten Kirchen und Klöster erkennbar ist, wie es die Kirchen der Armenier, Chaldäer sowie die beiden Syrer-Klöster und die Kirche der Märtyrerin Šmūnī8 zeigen. Und nach einer Überlieferung soll die Trauben- und Olivenpresse unter dem südlichen Tor der Zitadelle in früheren Zeiten eine griechisch-orthodoxe9 Kirche gewesen sein.

Dem Kenner wird es nicht entgehen, dass die Märtyrer-Moschee, deren neue Minarette während des Weltkrieges errichtet wurden, in früheren Zeiten eine Kirche war, die zu den syrischen Christen gehörte, wie dies von den syrischen Chronisten Mīḫāʾīl Rābō (Michael der Große), Jakob von Edessa und Ibn al-ʿIbrī (BarʿEbrāyā, Bar Hebraeus) nachgewiesen und bestätigt wurde.

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Wir konnten leider nichts über die Lebensverhältnisse der ersten Christen, besonders über die Epoche der ersten drei Jahrhunderte nach der Menschwerdung Christi, finden, was der vielen Kriege und der vielen Katastrophen, von denen sie betroffen waren, geschuldet ist, die dann den Verlust ihrer Spuren zur Folge hatte und auch schriftliche Überlieferungen vernichtete.

3.Die politischen Ereignisse in Mesopotamien.

In den Berichten von Tiglath Pileser I.10, dem König von Assur (1115–1110 v. Chr.)11, liest man, dass er im ersten Jahr seiner Krönung mit seinem überwältigenden Heer über Sindschar, Nisibis und Āmid (Diyarbakɪr) an die Ufer des Euphrats zog, in Kamāǧīn überfiel er die Maškīye (Maschkäer), besiegte sie, füllte die Täler und Berge mit ihren Leichen und krönte die Stadtmauern mit ihren Schädeln.

Aber 250 v. Chr. besiegten die parthischen Arsakiden oder Aškanīye den Irak, die Ǧazīra und Syrien, sie machten Madāʾin (Seleukeia-Ktēsiphōn) zu ihrer Hauptstadt, besserten ihre Zitadelle aus, befestigten sie und stellten eine schlagkräftige Armee auf, um die Angriffe der Römer bei ihren Überfällen zurückschlagen zu können. Ihr Reich bestand aus verschiedenen kleinen Königreichen; (die Araber nannten ihre Könige „Kleinfürsten“) für jedes Königreich setzten sie einen Herrscher ein, der sich in Verwaltungsfragen an die Könige wandte. Zu den berühmtesten jener Königreiche zählen ar-Ruhā, Tadmur (Palmyra), Ḥadyab (Adiabēnē) und die zivilisierten Gegenden mit Städten und Dörfern, hinzu kommt die ansässige Bevölkerung um die Stadt Tagrit, Mayšān (bei Basra), Bāǧarmāye und Sindschar.

Als die persischen Könige als neue Macht in der Region auftraten, zog Ardašir, Sohn des Bābek, mit seiner gewaltigen Armee am 28. April 226 gegen Arṭabān, den letzten Parthischen König, in die Ebenen Mesopotamiens, Arzūn, Bazebdē (Beṯ Zabday) und Babylons zu Felde, besiegte ihn und machte Ktesiphon (Madāʾin) zu seinem Sitz. Als König Narsai (†302 n. Chr.) über die Perser herrschte, marschierte er gegen die Armenier und bezwang sie, unterzeichnete ein Friedensabkommen mit Diokletian, dem Herrscher Roms, in dem beide sich unter anderem darüber einigten, dass Nisibis die Stadt sein sollte, die beide Königreichen voneinander trennt, deswegen nannten die Historiker Nisibis die „Grenzstadt“.

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Šabor II. (Schapur II.) jedoch brach das Abkommen und besetzte Nisibis, auf den Thron folgte ihm Qabād, der Āmid im Jahr 488 belagerte und es plünderte; als Kisrā I. Anū Šurwān in Persien herrschte, griff er das Römische Reich an und bemächtigte sich ihres Landes bis Hama12; dann ließ Justinian seine Avantgarde gegen Darʿā marschieren und zwang Kisrā zum Rückzug, der dann mit den Römern einen Waffenstilstand schloss.

Als Mūrīqī (Maurikios, †602)13 getötet wurde, trauerte Kisrā um ihn und legte Trauerkleidung an, ein Fall, der zu Streitigkeiten mit den Römern führte, und so schickte er seine Truppen unter der Führung von Šaharbrāz nach Darʿā, der die Stadt sechs Monate lang belagerte, dann unterwarf er sie, nahm verschiedene Bücher in seinen Besitz und bezwang Ṭūr ʿAbdīn sowie Ḥeṣen Kīfa (Hasankeyf). Als die Römer, die in der Zitadelle Mardins ihr Quartier hatten, von den schlechten Nachrichten hörten, verloren sie ihre Standhaftigkeit, schnell evakuierten sie die Zitadelle und flohen in die westlichen Länder des Römischen Reiches. Danach versammelten sich die Mönche, begaben sich in die Zitadelle, sandten einen Boten zu Bāsīl dem syrischen Bischof in Kfartūt, und baten ihn um die Erlaubnis gegen die Perser zu kämpfen. Doch die Perser überraschten und vernichteten sie und nahmen 607 n. Chr.14 die Zitadelle in ihren Besitz.

4.Die Araber und Mesopotamien15.

Details

Seiten
396
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783631835845
ISBN (ePUB)
9783631835852
ISBN (MOBI)
9783631835869
ISBN (Hardcover)
9783631829523
DOI
10.3726/b17605
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Mai)
Schlagworte
Osmanisches Reich Übersetzung Aramäische Kultur Völkermord Orientalische Christen Erster Weltkrieg
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 396 S.

Biographische Angaben

Amill Gorgis (Band-Herausgeber:in) Dorothea Weltecke (Band-Herausgeber:in)

Amill Gorgis ist Aramäer und Nachfahre von syrisch-orthodoxen Opfern des Völkermords. Er ist Vorsitzender der Fördergemeinschaft für eine Ökumenische Gedenkstätte für Genozidopfer im Osmanischen Reich e.V. (FÖGG) in Berlin und Herausgeber zahlreicher Übersetzungen von syrischer Liturgie und von Geschichtsbüchern. Dorothea Weltecke lehrt an der Goethe-Universität Frankfurt. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen transreligiöse und transkulturelle Geschichte des Mittelalters. Sie publiziert zur Geschichte der syrischen Kirchen und leitet die Forschungsstelle für Aramäische Studien.

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Titel: Isḥāq Armale: Die Schlimmsten aller Katastrophen für die Christen
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398 Seiten