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Psalm Salomo 14

Text, Tradition und Komposition einer frühjüdischen Dichtung

von Sven Behnke (Autor:in)
©2021 Dissertation 356 Seiten

Zusammenfassung

Die Psalmen Salomos (PsSal) zählen zu den wichtigsten Zeugen jüdischer Literatur und Theologie des ersten Jahrhunderts v. Chr. Die Studie zeichnet die Forschungsgeschichte dieser nicht kanonisch gewordenen Sammlung nach und skizziert deren Gesamtkomposition. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht eine traditions- und kompositionsgeschichtliche Analyse der Lehrdichtung PsSal 14. In weisheitlicher Manier kontrastiert PsSal 14 Lebenswandel und Schicksal von Frommen und Sündern und nimmt dabei Ps 1 im Licht weiterer biblischer Traditionen und Motive interpretierend auf. PsSal 14 erweist sich als ein frühes Beispiel der literarischen Rezeption von Ps 1, das ebenso traditionsgebunden wie innovativ ist und ein klares theologisches Programm besitzt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titelseite
  • Impressum
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Widmung
  • Inhalt
  • Vorwort
  • 1. Einleitung
  • 1.1 Erträge der Forschung zu den Psalmen Salomos
  • 1.1.1 Umfang, Sprache, Form, Themen und Aufbau
  • 1.1.2 Entstehungshintergrund, Verfasserfrage und Sitz im Leben
  • 1.1.3 Wirkungsgeschichte und theologiegeschichtliche Bedeutung
  • 1.1.4 Themen der neueren Forschung (1994–2018)
  • 1.1.4.1 Forschungen zu Text und Sprache
  • 1.1.4.2 Forschungen zur Gattung
  • 1.1.4.3 Forschungen zu Komposition und Redaktion
  • 1.1.4.4 Forschungen zur traditions- und theologiegeschichtlichen Einordnung
  • 1.1.4.5 Forschungen zu historischem Hintergrund, Verfasserschaft und ursprünglicher Verwendungssituation
  • 1.1.4.6 Fazit
  • 1.2 Thema, Aufbau und Ziel dieser Studie
  • Hauptteil A: Der Text
  • 2. Der Text von Psalm Salomo 14 und seine Überlieferung
  • 2.1 Die Erwähnung der „Psalmen Salomos“ in antiken und mittelalterlichen Kanonverzeichnissen
  • 2.2 Die Psalmen Salomos und die Septuaginta
  • 2.3 Die mittelalterlichen Textzeugen der Psalmen Salomos
  • 2.3.1 Die griechischen Textzeugen
  • 2.3.1.1 Die Genealogie der griechischen Textzeugen
  • 2.3.1.2 Die Organisation des Textmaterials in den griechischen Handschriften
  • 2.3.2 Die syrischen Textzeugen
  • 2.3.2.1 Die Genealogie der syrischen Textzeugen
  • 2.3.3 Das Verhältnis der griechischen zu den syrischen Textzeugen
  • 2.4 Die neuzeitlichen Textausgaben der Psalmen Salomos
  • 2.4.1 Die Editio princeps und ihre Quelle
  • 2.4.2 Weitere wichtige Textausgaben
  • 2.4.3 Verseinteilung und -zählung in den neuzeitlichen Textausgaben
  • 2.4.4 Die neuzeitlichen Übersetzungen
  • 2.4.5 Rückübersetzungsversuche ins Hebräische
  • 2.5 Textkritische Untersuchung von Psalm Salomo 14
  • 2.5.1 Die Bezeugung des Textes
  • 2.5.2 Sichtung und Wertung der Lesarten
  • 2.5.3 Kritischer Text und Übersetzung
  • 3. Die sprachliche Gestalt von Psalm Salomo 14
  • 3.1 Hinweise zu Untersuchungsziel und Methodik
  • 3.2 Beobachtungen zur Syntax
  • 3.2.1 Gliederung des Textes in Sätze
  • 3.2.2 Wortstatistik, Wortarten und Wortformen
  • 3.2.2.1 Wortstatistik
  • 3.2.2.2 Wortarten
  • 3.2.3 Verknüpfung von Wörtern und Sätzen
  • 3.2.4 Stilmerkmale
  • 3.2.5 Aufbau und Gliederung
  • 3.3 Phonemisch-phonetische Beobachtungen (Klang, Laut, Rhythmus)
  • 3.4 Beobachtungen zur Semantik: Der Wortschatz von Psalm Salomo 14 und das Vokabular der Septuaginta
  • 3.5 Überlegungen zum Übersetzungscharakter des Textes
  • Hauptteil B: Tradition und Komposition
  • 4. Die Komposition von Psalm Salomo 14
  • 4.1 Der Ort von Psalm Salomo 14 innerhalb der Psalmen Salomos
  • 4.1.1 Bedeutung der „Psalterexegese“ für das Verständnis des Textes
  • 4.1.2 Aufbau und Struktur der Psalmen Salomos
  • 4.1.3 Die Teilkomposition Psalm Salomo 12–16 und ihr Zentrum
  • 4.2 Die Matrix: Psalm Salomo 14 in der Zusammenschau mit Psalm 1
  • 4.2.1 Themen- und Strukturvergleich
  • Exkurs: Abweichungen der Lesart von Ps 1LXX gegenüber Ps 1MT
  • a) Quantitative Abweichungen
  • b) Qualitative Abweichungen
  • 4.2.2 Das Verhältnis von Tradition zu Innovation
  • 4.3 Psalm Salomo 14 als Interpretation von Psalm 1
  • 4.3.1 Dimension I: Gott und Mensch in Beziehung
  • 4.3.1.1 Das Motiv der Treue Jhwhs
  • 4.3.1.2 Das Motiv der Liebe des Menschen zu Gott
  • 4.3.1.3 Das Motiv der Züchtigung (παιδεία) des Menschen durch Gott
  • a) παιδέυω/ παιδεία in den Psalmen Salomos
  • b) Motivparallelen in der alttestamentlichen Literatur
  • 4.3.1.4 Das umfassende Erkanntwerden des Menschen durch Gott
  • 4.3.2 Dimension II: Tora und Erwählung als Ermöglichungsgrund gelingenden Lebens
  • 4.3.2.1 Der Nomos als von Gott gespendete Lebens-Gabe
  • 4.3.2.2 Das Motiv von Israel als Teil und Erbe Gottes
  • 4.3.3 Dimension III: Der Mensch als Gerechter oder Sünder im Spannungsfeld von Zeit und Ewigkeit, Paradies und Unterwelt, Leben und Tod
  • 4.3.3.1 Lebensmetaphorik
  • 4.3.3.1.1 Das Motiv vom „Paradies Jhwhs/ des Herrn“
  • 4.3.3.1.2 Das Motiv vom „Lebensbaum“
  • a) Das Bild vom (Lebens-) Baum und das Paradies
  • b) Das Baummotiv zur Beschreibung der Frommen
  • 4.3.3.1.3 Die Vorstellung von den Frommen als Jhwhs „Pflanzung“
  • 4.3.3.1.4 Das Motiv von einem „Leben in Freude“
  • 4.3.3.2 Todesmetaphorik
  • 4.3.3.3 Die Freveltaten der Sünder
  • 4.3.3.3.1 „die einen Tag in Gesellschaft (mit) ihrer Sünde lieben“ (PsSal 14,4b)
  • 4.3.3.3.2 „In der Niedrigkeit der Fäulnis [liegt] ihre Begierde“ (PsSal 14,4c)
  • 4.3.3.3.3 „sie gedenken Gottes nicht“ (PsSal 14,4d)
  • 4.3.3.4 Gerichtsmetaphorik
  • 4.4 Gesamtinterpretation von Psalm Salomo 14: Psalm Salomo als ,Neudichtung‘ von Psalm 1
  • Hauptteil C: Literatur- und theologiegeschichtliche Verortung
  • 5. Psalm Salomo 14 im Kontext früher Auslegungstraditionen von Psalm 1
  • 5.1 Die Rezeption von Ps 1 im Sirachbuch
  • 5.1.1 Das Sirachbuch
  • 5.1.2 Ps 1* in Sir 14,20–15,10
  • Exkurs: 4Q525 („Beatitudes“)
  • 5.2 Die Rezeption von Ps 1 in 4Q174 („Florilegium“)
  • 5.2.1 4Q174 („Florilegium“)
  • 5.2.2 Ps 1,1 in 4Q174 Kol. III,14
  • 5.3 Die Rezeption von Ps 1 im Barnabasbrief
  • 5.3.1 Der Barnabasbrief
  • 5.3.2 Ps 1,1 in Barn 10,10
  • 5.3.3 Ps 1,3–6 in Barn 11,6–8
  • 5.4 Die Rezeption von Ps 1 bei Justin
  • 5.4.1 Justin der Märtyrer
  • 5.4.2 Die Rezeption von Ps 1 in der ersten Apologie (1Apol 40,8–10)
  • 5.4.3 Die Rezeption von Ps 1 in Dialog mit Tryphon (Dial Tryph 86,4)
  • 5.5 Zusammenschau: Frühe Auslegungstraditionen von Psalm 1
  • 6. Psalm Salomo 14 als „rewritten Scripture“
  • 6.1 Zum Verständnis des Begriffs „rewritten Scripture“
  • 6.2 „Rewritten Scripture“ als Ergebnis eines Arbeitsprozesses
  • 7. Gattungsgeschichtliche Einordnung
  • 8. Ergebnis
  • Anhang
  • Literaturverzeichnis
  • A) Textausgaben und Übersetzungen
  • B) Kommentare und Hilfsmittel
  • C) Weitere Sekundärliteratur
  • Register
  • Autoren
  • Namen und Sachen
  • Fremdsprachliche Begriffe
  • Stellen (in Auswahl)
  • Kritischer Text und Übersetzung von PsSal 14

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Vorwort

Die vorliegende Studie wurde im Sommersemester 2020 von der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenommen. Für den Druck wurde sie durchgesehen und überarbeitet.

Mein erster Dank gilt meinem verehrten akademischen Lehrer und Doktorvater Herrn Prof. Dr. Markus Witte. Er hat mich bereits während meines Grundstudiums auf Vielfalt und Reichtum der frühjüdischen Literatur aufmerksam gemacht und regte nach Abschluss meines ersten Examens eine intensivere Beschäftigung mit den Psalmen Salomos an. Jede Phase der Entstehung meiner Dissertation hat er geduldig und mit wertvollen Ratschlägen begleitet. Während meiner Zeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an seinem Lehrstuhl schenkte er mir Möglichkeiten und Freiraum, eigene Perspektiven auf den Gegenstand dieser Studie entwickeln und vielerlei Einblicke in die alttestamentliche Forschung und Lehre sammeln zu können.

Daneben gilt mein Dank Herrn Prof. Dr. Dr. Bernd U. Schipper, der die Entstehung der vorliegenden Studie über weite Strecken als kritischer Gesprächspartner begleitet hat und freundlicherweise die Erstellung des Zweitgutachtens übernahm.

Herrn Dr. Johannes F. Diehl danke ich nicht allein dafür, dass er mich mit viel Mühe und Engagement das Hebräische lehrte, sondern auch für zahllose wertvolle Gespräche, die mir den Weg in die exegetische Wissenschaft wiesen.

Danken möchte ich darüber hinaus den engen Weggefährten während meiner Zeit an der Berliner Humboldt-Universität: Herrn Dr. Sascha Gebauer, Frau Johanna Kappelt, Frau Dr. Tanja Pilger-Janßen, Frau Maren Wissemann und Frau Mareike Witt. Sie haben mich immer wieder neu zur Weiterarbeit an meiner Dissertation ermutigt und wurden mir zu verlässlichen Freunden.

Der Stiftung der Deutschen Wirtschaft danke ich für die finanzielle und ideelle Förderung als Stipendiat in der ersten Phase meines Promotionsprojekts.

Schließlich gilt mein Dank den Herausgebern der Beiträge zur Erforschung des Alten Testaments und des Antiken Judentums für die Aufnahme dieser Studie in die Reihe sowie Frau Ellen Kirst von der Peter-Lang-Verlagsgruppe für die freundliche und umsichtige Betreuung in Vorbereitung der Publikation.

Gewidmet ist diese Arbeit meinen Eltern, Edith und Peter Behnke, die mich auf meinem Lebensweg stets vorbehaltlos unterstützt und gefördert haben.

Lampertheim, im Dezember 2020

Sven Behnke←13 | 14→

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1.Einleitung

1.1Erträge der Forschung zu den Psalmen Salomos

„Wer das apocryphische Buch Enochs, das Testament der 12 Patriarchen und den Psalter Salomons […] gelesen hat, weis, was es für ein langweiliges, wässerigtes, unordentliches Gewäsche ist. Ists wohl Verdienst, so schlechte Produkte einfältiger Betrüger aufzutischen?“1

Die Stimme dieses unbekannten Rezensenten der Nürnbergischen Gelehrten Zeitung aus dem Jahr 1776 ist nur eine im großen Chor derer, die – noch weit über das 18. Jahrhundert hinaus – die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Beschäftigung mit der apokryphen Literatur des antiken Judentums stellten.2 Sie zeugt nicht nur von einer Geringschätzung der literarischen Qualität der genannten Schriften, sondern entlarvt sie darüber hinaus als die Werke „einfältiger Betrüger“. Während die moderne Forschung zur apokryphen Literatur des Alten Testaments den Rezensenten von damals heute sowohl über den ästhetischen Wert als auch die immense religions- und theologiegeschichtliche Bedeutung jener Texte zu belehren hätte, so müsste sie ihm doch zumindest in der Feststellung beipflichten, dass die Schriften – nun ohne Polemik formuliert – pseudepigraphen Charakter haben, d.h. nicht auf die Hand der biblischen Gestalten zurückgehen, von denen ihre Titel vorgeben zu stammen. In dieser Hinsicht erweist sich auch der frühe Kritiker der Erforschung des außerkanonischen Schrifttums jüdisch-hellenistischer Zeit als sachkundig. Sein Einwurf basiert bereits auf ←15 | 16→ersten historisch-kritischen Erkenntnissen zur apokryphen Literatur3 und ist unmittelbare Reaktion auf ein im 18. Jahrhundert vermehrt aufkommendes Forschungsinteresse an jenem Schrifttum, das sich ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert (auch in der protestantischen Exegese) voll entfaltet.

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Die wichtigsten einleitungswissenschaftlichen Fragestellungen und Erträge der älteren Forschung zu den Psalmen Salomos wurden bereits mehrfach dargestellt.4 Auch bibliographisch ist die Forschungsliteratur zu den Psalmen Salomos bis in die 1990er Jahre hinein erschlossen.5 Der sich im 20. Jahrhundert in weiten Teilen abzeichnende Forschungskonsens zur literaturgeschichtlichen Einordnung der Sammlung sei nachfolgend (vgl. Kap. 1.1.1–1.1.3) nur resümierend wiedergegeben, um eine erste Orientierung über die Sammlung zu gewinnen.6←17 | 18→Anschließend soll der aktuelle Forschungsdiskurs zu den Psalmen Salomos anhand eines Überblicks zu nennenswerten Publikationen der vergangenen 20 Jahre Darstellung finden (vgl. Kap. 1.1.4).

1.1.1Umfang, Sprache, Form, Themen und Aufbau

Bei den Psalmen Salomos handelt es sich um eine Sammlung von 18 Gedichten frühjüdischer Herkunft, deren Text durch griechische und syrische Handschriften aus dem 10. bis 16. Jahrhundert bezeugt ist.7 Den frühesten Hinweis auf die Existenz der Sammlung liefert die Erwähnung des Titels „Psalmen Salomos“ im Inhaltsverzeichnis des Kodex Alexandrinus aus dem 5. Jahrhundert.8

Der durch die Koine-griechischen Handschriften überlieferte Text der Psalmen Salomos stellt mit hoher Wahrscheinlichkeit die Übersetzung einer semitischen Vorlage dar,9 während die syrischen Textzeugen vermutlich eine ←18 | 19→Tochterübersetzung aus dem Griechischen abbilden.10 Die Übersetzung der Psalmen Salomos aus dem Hebräischen (oder Aramäischen) ins Griechische dürfte noch vor dem Jahr 100 n. Chr. erfolgt sein.11 Dem (jüngeren) syrischen Text der Psalmen Salomos kommt aufgrund seiner Abhängigkeit vom (älteren) griechischen Text nur ein begrenzter textkritischer Wert zu. Gleichwohl lässt sich die syrische Übersetzung als eine der ältesten Interpretationen der Psalmen Salomos verstehen und in Einzelfällen für ein besseres Verständnis schwieriger Textstellen fruchtbar machen. Verschiedentlich wurde in der Vergangenheit der Versuch unternommen, sich durch Rückübersetzung aus dem Griechischen dem vermuteten hebräischen Original der Psalmen Salomos zu nähern.12

Der in Gestalt der Göttinger Handausgabe der Septuaginta von Alfred Rahlfs13 kritisch erschlossene griechische Text der Psalmen Salomos bildet einen ←19 | 20→in 18 Einzeltexte,14 mit Ausnahme von PsSal 1 jeweils mit Überschriften versehenen, stichometrisch gegliederten Text. Bereits das Druckbild lässt (in den neuzeitlichen Texteditionen) eine deutliche Ähnlichkeit zum Septuaginta-Psalter erkennen. Hier wie dort bilden Bikola die Mehrzahl der Verse. Die Länge der einzelnen Gedichte divergiert stark: von sechs Versen (PsSal 6; 12) bis zu 46 Versen (PsSal 17) und lässt keinen einheitlichen Umfang erkennen. Auch wenn die Einzeltexte jeweils eine eigene inhaltliche und formale Note haben, verhilft der Sammlung ein relativ begrenzter Wortschatz sowie eine formelhafte, für jüdische Gebetstexte hellenistisch-römischer Zeit typische Sprache zu sprachlicher Kohärenz.

Die poetische, den hebräischen Parallelismus membrorum imitierende Sprache, die Betitelung der Sammlung als „Psalmen Salomos“ und ihre an biblischen Themen orientierte inhaltliche Ausrichtung, ließ besonders die Forschung des 20. Jahrhunderts unter dem epochewirkenden Eindruck der (wesentlich von Hermann Gunkel15 geprägten) formkritischen Methode danach fragen, inwieweit sich die im kanonischen Psalter vorfindlichen Gattungen auch in den Psalmen Salomos nachweisen lassen.16 Der Vergleich zwischen der aus dem biblischen Psalter vertrauten Formsprache und den Psalmengattungen des Alten ←20 | 21→Testaments mit der sprachlichen Form der Psalmen Salomos fördert Kontinuitä-ten und Diskontinuitäten zu Tage:

„Stilistisch ist deutlich, daß die PsSal in einer Tradition stehen, die die alttestamentliche Psalmendichtung fortführt. Deutlich ist aber auch, daß deren regelmäßigere Stilschemata in den PsSal aufgelöst worden sind, was damit zusammenhängen muß, daß die Stilgattungen literarische Formen geworden sind, die ihren Sitz im Leben verloren haben.“17

Den Psalmen Salomos ist also im Hinblick auf ihre sprachliche Form eine Dynamik zu eigen, die an die prägende Formsprache der biblischen Psalmen erinnert und diese auch imitiert,18 sich dabei jedoch nicht mehr streng an deren Regeln gebunden fühlt.

Da jede Form dem Ausdruck eines Inhalts verpflichtet ist, so lässt sich, den Vergleich zwischen kanonischen Psalmen und Psalmen Salomos fortführend, im Hinblick auf die Themen des Salomopsalters erwarten, dass hier einerseits Inhalte der biblischen Psalmen aufgenommen, daneben aber auch inhaltliche Traditionen des kanonischen Psalters weiterentwickelt oder transformiert werden. Diese Vermutung bestätigt sich: Nahezu alle theologisch wichtigen Themen der Sammlung sind bereits in den Schriften der Hebräischen Bibel und ihrer seit dem 3. Jahrhundert sukzessive entstandenen griechischen Übersetzung, der Septuaginta (LXX), grundgelegt. Dennoch erschöpfen sich die Psalmen Salomos nicht in einem Repetieren biblischer Themen und Traditionen, sondern zeichnen sich durch einen innovativen Umgang mit der biblischen Tradition aus, der durch die Neuakzentuierung und Modifikation bekannter Stoffe unter dem Eindruck weisheitlicher und eschatologischer Strömungen19 (wie sie insbesondere ←21 | 22→in der frühjüdischen Literatur außerhalb des Kanons anzutreffen sind) gekennzeichnet ist.20

Leitmotivartig durchzieht die Psalmensammlung die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes, die sich einerseits angesichts des leidvollen Geschicks der Gerechten, andererseits aufgrund des in Geschichte und Gegenwart erfahrbaren Erfolges der Sünder stellt. Sie artikuliert sich etwa in dem Hinweis, dass Gott den Sünder nicht an der gewaltsamen Einnahme Jerusalems hinderte (PsSal 2,1) und der angesichts von Kriegschaos drängenden Frage „Wo wird Gott ihn [i. e. den Gottlosen] nun richten?“ (PsSal 8,3b). Der theodizeeanalogen Frage tritt – gleichsam als Antwort – der fortwährende Verweis auf Gottes barmherziges und gerechtes Wirken in dieser Welt und die Erwartung seines Gerechtigkeit schaffenden Richtens am Ende der Zeit gegenüber. Gott ist ohne Zweifel für gerecht zu erklären (vgl. PsSal 2,15–18; 3,3–5; 4,8; 8,23–26) und selbst die Zerstreuung Israels (ἡ διασπορὰ τοῦ Ισραηλ) unter die Völker geschieht, „damit du für gerecht erklärt wirst, Gott […]“ (PsSal 9,2).

Innerhalb der Psalmen Salomos finden sich unterschiedliche Versuche der Deutung von Leidenserfahrungen. So kann etwa die Auslieferung der Einwohner Jerusalems an die heidnischen Okkupatoren als Vergeltung ihrer Sünden verstanden werden (PsSal 2,7). Dass Jung und Alt in den Augen des Beters kollektiv unter der Situation in Jerusalem zu leiden haben, liegt darin begründet, dass sie Böses taten und (gegenüber der Tora) nicht gehorsam waren (PsSal 2,8). Diese Deutung des Leidens basiert auf der vor allem in weisheitlichen Kreisen ausgeprägten Vorstellung eines Zusammenhangs zwischen Tun und Ergehen, den Klaus Koch treffend als „schicksalwirkende Tatsphäre“ beschrieben hat.21 ←22 | 23→Während das Schicksal der Einwohner Jerusalems in PsSal 2 ausdrücklich mit der Abkehr Gottes (ἀπέστρεψεν γὰρ τὸ πρόσωπον αὐτοῦ, V. 8) in Folge ihrer bösen Taten erklärt wird, kann nach PsSal 10,1 die Erfahrung von Schmerz und Leid gerade aus dem Gegenteil, der Hinwendung Gottes, resultieren: Μακάριος ἀνήρ, οὗ ὁ κύριος ἐμνήσθη ἐν ἐλεγμῷ, καἰ ἐκυκλώθη ἀπὸ ὁδοῦ πονηρᾶς ἐν μάστιγι […] („Glücklich ist der Mann, dessen der Herr gedenkt durch Rüge, und der abgeschirmt wird vom bösen Weg durch eine Peitsche […]“). Nach dieser Denkfigur erscheint Leid als Ausdruck von Gottes „Erziehung“ (παιδεία, vgl. PsSal 7,9; 8,26; 10,2; 13,9 f; 14,1 u. ö.) und ist Zeichen der Liebe Gottes, der sich hier wie ein Vater gegenüber dem Sohn verhält (vgl. PsSal 13,9; 18,4). Gerade durch seine Züchtigung (παιδεία) erweist sich Gott als „der Gott der Gerechtigkeit“ (ὁ θεὸς τῆς δικαιοσύνης, PsSal 8,26). Schließlich deutet PsSal 16,14 physisches Leid und die Erfahrung von materieller Not als Prüfung (δοκιμασία). Existenzielle Not kann in den Psalmen Salomos gleichermaßen auf Gottes Ferne wie auf seine Nähe zurückgeführt werden, wobei sie in jedem Fall begründet ist und eine geradezu kathartische Funktion hat (vgl. besonders PsSal 10,1).

Mit dem Bild von Vater und Sohn ist bereits eine Vorstellung von der engen Beziehung zwischen Gott und Israel, das in den Psalmen Salomos vornehmlich als der Kreis der Gerechten verstanden wird, angesprochen. Israel steht in einer einzigartigen Beziehung zu Gott und Gott in einer ebenso einzigartigen Beziehung zu Israel: […] σὺ ὁ θεός, καὶ ἡμεῖς λαός, ὅν ἠγάπησας […] („[…] Du bist Gott und wir sind ein [hier: das] Volk, das du liebgewonnen hast […]“) (PsSal 9,8). Zur Beschreibung dieses engen Verhältnisses zwischen Gott und seinem Volk Israel wird das Motiv des Bundes (PsSal 9,10) ebenso verwendet wie etwa der Gedanke der Erwählung (PsSal 9,9) oder der heilvollen Zuwendung Gottes zu Israel in Ewigkeit (PsSal 7,8; 11,7). Gottes ewige Treue gilt nicht nur Israel im Allgemeinen, sondern der Davidsdynastie im Besonderen, der ewiger Bestand verheißen ist (PsSal 17,4).

Von theologiegeschichtlich hoher Bedeutung ist schließlich die in den beiden die Sammlung abschließenden Psalmen anzutreffende Erwartung eines „Gesalbten des Herrn“ (χριστὸς κυρίου in PsSal 17,32, χριστὸς αὐτοῦ in PsSal 18,5), an den sich die Hoffnung auf Durchsetzung von Gottes Gerechtigkeit knüpft und der in PsSal 17 eng mit der Erwartung eines von Gott eingesetzten Königs aus dem Davidshaus (vgl. PsSal 17,21 ff), der Israel führen und seine Feinde vernichten wird, verbindet.22 Ist die Idee eines endzeitlichen Messias auf die ←23 | 24→beiden Schlusspsalmen (PsSal 17 u. 18) beschränkt, so gilt dies nicht für andere eschatologische Motive, die sich in allen Teilen der Sammlung finden und unter denen besonders der Gedanke eines endzeitlichen Gerichts und die Erwartung eines „Tages des Gerichts“ (so in PsSal 7,10; 15,12) bzw. „Tages des Erbarmens“ (so in PsSal 14,8–9; 18,5.9) hervorzuheben sind. Mit jener Vorstellung verbindet sich die Hoffnung auf ein ewiges Leben für die Gerechten (PsSal 2,31; PsSal 13,11; vgl. PsSal 14,10) und auf den Untergang der Sünder (PsSal 2,31; 13,11; 14,9; 15,12 u. ö.).

Trotz einer innerhalb der Sammlung durchgängig starken eschatologischen Orientierung hin auf Gottes künftiges Wirken, lassen die Psalmen Salomos keinen Zweifel daran, dass Gott schon in dieser Welt, sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart, Gerechtigkeit gewirkt hat bzw. wirkt. „Gottes Gerechtigkeit und Barmherzigkeit ist […] denen, ,die ihn fürchten‘, trotz aller gegenteiligen Evidenz schon heute sichtbar.“23 So sehr sich auch in einzelnen Psalmen die Hoffnung auf ein radikales Eingreifen Gottes in die von Not und Unrecht geprägte Gegenwart (vgl. z.B. PsSal 4,6) und die Sehnsucht nach einer ganz anderen, friedvollen Zukunft artikuliert, lassen sich die Psalmen Salomos „nicht zur apokalyptischen Literatur im engeren Sinn“24 zählen, die u. a. ein ausgeprägter Zwei- Äonen-Dualismus auszeichnet.25

Auf der Ebene der Gesamtkomposition beschreiten die einzelnen Psalmen eine Bewegung von der Klage (PsSal 1,1: „Ich rief zum Herrn, während ich bis ans Ende [gänzlich] bedrängt wurde […]“) hin zum Gotteslob (PsSal 18,1: „Herr, dein Erbarmen [ist] über den Werken deiner Hände in Ewigkeit […]“).26

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1.1.2Entstehungshintergrund, Verfasserfrage und Sitz im Leben

„Der Psalter Salomo’s reicht der Zeit Jesu unmittelbar die Hand.“27

Mit ihrer Schilderung der gewaltsamen Eroberung Jerusalems durch ein heidnisches Volk reflektieren die PsSal 2, 8 und 17 ein historisches Ereignis, das sich am überzeugendsten mit dem Wissen aus antiken Quellen über die Belagerung und Invasion Jerusalems durch römische Truppen unter Pompeius im Jahr 63 v. Chr. in Verbindung bringen lässt.28 Eine Identifikation der Römer mit den zahlreich in der Sammlung erwähnten „Heiden“ (ἐθνοί, vgl. PsSal 2,22; 8,13; 17,14 u. ö.) und dem in PsSal 17,13 genannten „Feind“ (ὁ ἐχθρός) liegt auch vor dem Hintergrund der Beschreibung des schmachvollen Todes eines „auf den Bergen Ägyptens Durchbohrten“ (ἐκκεκεντημένος ἐπι τῶν ὀρέων Αἰγύπτου, PsSal 2,26) in PsSal 2,26–27 nahe, die gut zu literarischen Zeugnissen der Antike über Tod und Verbleib des Leichnams des im Jahre 48 v. Chr. verstorbenen römischen ←25 | 26→Feldherrn Pompeius passt.29 Die konkreten Anspielungen auf die römische Eroberung Jerusalems und den Tod des Pompeius bilden die entscheidenden Anker für eine Datierung von PsSal 2, 8 und 17. Die sprachliche und inhaltliche Kohärenz der Sammlung legt nahe, dass auch die Entstehung der anderen Psalmen nicht wesentlich früher oder später anzusetzen ist.30 Von den gravierenden politischen, sozialen und religiösen Veränderungen, die Palästina mit dem Regierungsantritt Herodes des Großen (37 v. Chr.) erfuhr, geben die Psalmen Salomos kein Echo.31 Es ist daher davon auszugehen, dass die einzelnen Texte der Sammlung noch vor dem Beginn der herodianischen Epoche verfasst wurden. Ursprünge der Sammlung in der Hasmonäerzeit (165–63 v. Chr.) lassen sich vermuten,32 jedoch nicht sicher belegen. Als Abfassungszeitraum der Psalmen Salomos erscheint die Zeit von etwa 80 bis 40 v. Chr. wahrscheinlich.33

←26 | 27→

Versuche, die Psalmen Salomos in anderen Epochen der Geschichte Israels zu verorten, können nicht überzeugen. Der Vorschlag einer sehr frühen Datierung der Psalmen Salomos findet sich 1868 bei Heinrich Ewald im Zuge der Kommentierung von Bar 3,9–5,9. Den Gedanken, dass der Text die Eroberung Jerusalems unter Pompeius reflektieren könnte, verwirft Ewald schnell und favorisiert stattdessen die Deutung der Baruch-Perikope im Licht der Einnahme der Stadt unter Ptolemaios I. „Soter“ im Jahr 320 v. Chr. Dazu merkt er an: „Man könnte nun auch die frage [sic] aufwerfen ob die Psalmen Salômo’s in diese zeit [sic] gehören.“34 Noch 1852 nahm Ewald eine Abfassung der Psalmen Salomos kurz vor oder in der frühen Phase des Makkabäeraufstandes an: „[…] sie [i. e. die Psalmen Salomos] sind wahrscheinlich gedichtet bald nachdem der König [i. e. Antiochus IV. Epiphanes] im J. [i. e. Jahr] 170 Jerusalem wie eine feindliche Stadt eingenommen und geplündert hatte […].“35 Für eine Datierung der Psalmen Salomos in der Herrschaftszeit des Antiochus IV. Epiphanes, der 168 v. Chr. Jersulem eroberte, plädierte auch Wilhelm Frankenberg (1897).36 Movers, Delitzsch und Keim schlugen eine Abfassung der Sammlung in römischer Zeit vor und sehen die Ereignisse um die Eroberung Jerusalems durch Pompeius bis in die Zeit des Herodes reflektiert.37 Die Deutung von PsSal 17 auf die herodianische ←27 | 28→Zeit fand schon bei Joseph Langen (1866),38 Heinrich Ewald (1868)39 und ausführlicher bei Eduard Ephraem Geiger (1871) begründeten Widerspruch.40 Ryle und James weisen ebenfalls darauf hin, dass der in PsSal 17,7 erwähnte „Mensch, der unserem Geschlecht fremd ist“ (ἄνθρωπον ἀλλότριον γένους ἡμῶν) nicht zwangsläufig auf den Idumäer Antipater oder dessen Sohn Herodes den Großen zu beziehen ist.41 Die Datierung einzelner Texte der Sammlung bis in die Zeit des Herodes wurde in neuerer Zeit jedoch erneut von Kenneth Atkinson und Felix Albrecht vorgeschlagen.42

Mit einem längeren Entstehungszeitraum der Psalmen Salomos und verschiedenen Verfassern rechnet Svend Holm-Nielsen.43 Zu Spekulationen darüber, ob ein oder mehrere Verfasser hinter den Psalmen Salomos stehen, bemerkt Karl Georg Kuhn:

„Die Frage, ob die Psalmen einen einzigen oder verschiedene Dichter zum Verfasser haben, ist verhältnismäßig unwichtig. Denn, auch wenn es mehrere Verfasser waren, müssen sie doch alle – wie der Inhalt der Ps. [i. e. PsSal] zeigt – den gleichen Kreisen und so ziemlich der gleichen Zeit angehört haben und die gleichen politischen und religiösen Anschauungen gehabt haben.“44

Wann die Sammlung aus dem Hebräischen ins Griechische übersetzt wurde, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Es ist jedoch davon auszugehen, dass dies noch vor 70 n. Chr. geschah, da der oder die Übersetzer die tiefgreifende ←28 | 29→Erfahrung der Zerstörung Jerusalems und des Tempels durch die Römer vermutlich literarisch verarbeitet hätten, etwa durch glossenartige Textergänzungen.45

Die große Mehrheit der Forschung geht davon aus, dass die Psalmen Salomos in Jerusalem verfasst wurden, wofür die zahlreichen Bezüge auf Jerusalem und den Jerusalemer Tempel innerhalb der Sammlung sprechen.46 Daneben wurde vereinzelt eine Entstehung der Texte außerhalb Jerusalems in Palästina oder in Alexandria vorgeschlagen.47

Seit Julius Wellhausen48 sucht man den oder die Verfasser der Psalmen Salomos in pharisäischen Kreisen. Nach der Entdeckung der Schriften von Qumran (ab 1947), deren Texte das Wissen um die Pluralität des Judentums um die Zeitenwende maßgeblich beeinflussten, wurde zudem auch eine Autorenschaft von Chasidim49 und Qumran-Essenern50 diskutiert. Die nach wie vor dürftige ←29 | 30→Quellenlage, die Aufschluss über die frühjüdischen Gruppierungen im ersten vorchristlichen Jahrhundert zu geben vermag, erlaubt jedoch keine konkrete Identifizierung der Verfasser der Psalmen Salomos. Sicher lässt sich nur sagen, dass die Verfasser der Psalmen Salomos eine deutliche Opposition sowohl zu den Hasmonäern als auch zu den Römern und zu deren innerjüdischen Anhängern erkennen lassen.51 Die ständige Einspielung von Texten aus der biblischen Überlieferung des Alten Testaments weist sie zudem als schriftgelehrte Kreise aus. Einen bislang nur von wenigen Vertretern (de la Cerda [1626], Nieremberg [1641], Janenski [1687], Graetz [1855])52 eingeschlagenen Sonderweg in der Forschung beschritt Joshua Efron, der christliche Kreise als Verfasser der Psalmen Salomos behauptet.53

Hinsichtlich der Frage nach dem „Sitz im Leben“, d.h. der ursprünglichen Verwendungssituation der Texte zeichnet sich in der Wissenschaft bislang kein Konsens ab. Diskutiert wurden eine kultische Verwendung der Psalmen Salomos, sei es im privaten Frömmigkeitsleben, sei es im öffentlichen Kult, ebenso wie die Verwendung der Texte zu pädagogischen Zwecken im Rahmen schulischer Unterweisung.54

1.1.3Wirkungsgeschichte und theologiegeschichtliche Bedeutung

„Wo das Buch Judith und andere Platz finden/ die viele nur vor erdichtete Historien halten; da werden solche auch/ und wol noch mehr/ können Platz finden/ die voll schöner Lehren sind; zumal in einer solchen Bibel/ da man den apocryphischen Büchern und Schrifften einen eigenen besondern Theil gegeben hat.“55

Indem sich der Herausgeber des achten Teils der Berlenburgischen Bibel von 1742 für die Aufnahme einer Übersetzung der Psalmen Salomos unter die apokryphen Bücher entschieden hatte, beschritt er einen Pfad, den nur wenige in seiner Zeit gingen. Die Verbreitung der Psalmen Salomos blieb bis ins 19. Jahrhundert ←30 | 31→hinein auch in der bibelwissenschaftlichen Fachwelt sehr gering. Von der frühen Wirkungsgeschichte der Psalmen Salomos finden sich praktisch keine Spuren, sofern man von der Erwähnung der Sammlung in antiken Kanonverzeichnissen absieht.56 Im Bereich des biblischen Schrifttums erscheint eine literarische Abhängigkeit lediglich zwischen PsSal 11,2–7 und Bar 4,36–5,9 plausibel.57 Diesbezüglich zeichnet sich in der Forschung bislang jedoch noch kein Konsens ab, ob PsSal 11 vom Baruchtext abhängig ist oder umgekehrt der Baruchtext gegenüber PsSal 11 literarisch sekundär ist.58

Eine Rezeption durch das neutestamentliche Schrifttum lässt sich aufgrund einer gewissen thematischen, jedoch wenig spezifischen Nähe zu Texten aus dem Corpus Paulinum59 allenfalls vage vermuten. Belastbare Indizien für eine Kenntnis der Psalmen Salomos durch die neutestamentlichen Autoren lassen sich nicht finden.

Innerhalb der patristischen Literatur findet sich keine Erwähnung der Psalmen Salomos. Allenfalls spärliche Hinweise auf die Sammlung lassen sich mit viel Wohlwollen erahnen.60 Vor diesem Hintergrund folgerten Ryle und James, „that the book attained only a very limited circulation.“61 Ob neben dem mutmaßlich ←31 | 32→originären hebräischen Text der Psalmen Salomos und seinen Übersetzungen ins Griechische und Syrische noch weitere alte Übersetzungen existierten, bleibt Spekulation.62 Kommentierungen oder Auslegungen der Psalmen Salomos aus der Zeit vor der Wiederentdeckung der Sammlung durch de la Cerda im 17. Jahrhundert sind nicht bekannt.63 Das sich ab dem 19. Jahrhundert – vor allem im Gefolge Julius Wellhausens – steigernde Interesse an den Psalmen Salomos gilt vor allem ihrer Bedeutung für die Beantwortung der Frage nach den religionsgeschichtlichen Verhältnissen im ersten vorchristlichen Jahrhundert:

„Apparently the product of a specific group within Judaism, the Pss. Sol. came to be regarded by scholars as the classical source for pre-Christian Pharisaism. In addition, for a long time the Pss. Sol. stood out as containing the clearest example of Jewish Messianism prior to the turn of the eras.“64

Neben dem Schrifttum von Qumran gehören die Psalmen Salomos zu den wenigen authentischen Quellen, die einen Einblick in jüdische Frömmigkeit unter dem Eindruck römischer Herrschaft in der Zeit vor dem Regierungsantritt Herodes des Großen bieten.

1.1.4Themen der neueren Forschung (1994–2018)

Der folgende Überblick über die neuere Forschung zu den Psalmen Salomos beschränkt sich auf die Vorstellung wichtiger Studien aus den vergangenen knapp 25 Jahren und knüpft damit nahtlos an die forschungsgeschichtliche Zusammenschau an, die Joseph L. Trafton 1994 zum Salomopsalter bot.65 Trafton benannte das Jahr 1977 als ein für die Forschung zu den Psalmen Salomos ←32 | 33→entscheidendes Jahr, das u. a. durch die von Robert B. Wright besorgte (jedoch erst 1985 im zweiten Band der ersten Auflage von James H. Charlesworth’s Apokryphenedition erschienene) umfangreiche Einleitung zum Salomopsalter,66 Joachim Schüpphaus’ Veröffentlichung seiner Habilitationsschrift zur Sammlung67 und die auf Svend Holm-Nielsen zurückgehende Übersetzung der Psalmen Salomos ins Deutsche für die Reihe Jüdische Schriften aus hellenistischrömischer Zeit (JSHRZ)68 prägend wurde.69 Die drei genannten Publikationen trugen nachhaltig dazu bei, dass die Psalmen Salomos einem breiteren Publikum bekannt wurden. Von dem seit den späten 1970er Jahren erkennbar gestiegenen exegetischen Interesse an der Sammlung zeugen nicht allein die bei Trafton vorgestellten Studien, sondern auch die in den zwischen 1994 und 2001 erschienenen Bibliographien verzeichneten Arbeiten zu den Psalmen Salomos aus neuerer Zeit.70 Die Bekanntheit der Psalmen Salomos innerhalb der exegetischen Fachwelt, aber auch unter interessierten Laien dürfte in den letzten Jahren durch die weite Verbreitung des Salomopsalters im Rahmen der Septuaginta-Übersetzungsunternehmen A New English Translation of the Septuagint (NETS)71 und Septuaginta Deutsch (LXX.D)72 vor allem im englisch- und deutschsprachigen Raum Auftrieb erhalten haben.73 Vom ungebrochenen Forschungsinteresse ←33 | 34→an der Sammlung zeugt nicht zuletzt das First International Meeting on the Psalms of Solomon, das im Juni 2013 an der Universität Straßburg stattfand.74

1.1.4.1Forschungen zu Text und Sprache

Unter den Studien zu Text und Sprache der Sammlung sei zunächst eine von Grant Ward, einem Schüler Robert B. Wrights, 1996 an der Temple University (Philadelphia, USA) vorgelegte Dissertation erwähnt.75 In ihr konzentriert sich Ward auf eine Untersuchung der Differenzen zwischen griechischem und syrischem Text. Dabei knüpft er an die 1985 von Joseph L. Trafton im Anschluss an Karl Georg Kuhn formulierte These an, dass der syrische Text der Psalmen Salomos maßgeblich auf einer hebräischen Vorlage gründe.76 Ward will beweisen, dass der griechische und der syrische Text der Psalmen Salomos zwei voneinander unabhängige Übersetzungen einer hebräischen Vorlage darstellen.77 Die Abweichungen zwischen hebräischem und griechischem Text versucht Ward jeweils durch unterschiedliche Lesarten eines aus den griechischen und syrischen Texten hypothetisch rekonstruierten hebräischen Textes zu erklären. Im Ergebnis stellt Ward fest:

„The reconstructed Vorlage, rooted in the Syriac and Greek texts, […] shed new light on these textual traditions, resulting in an accumulative body of evidence which supports— with a high degree of probability— the argument that a Hebrew Vorlage lay behind the Greek text and the Syriac text of these psalms.“78

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Da Wards Argumentation wesentlich auf der nicht verlässlichen Rekonstruktion eines hebräischen Textes beruht,79 erscheint sie im Ergebnis nur unzureichend belastbar und bietet keinen Grund von der Mehrheitsmeinung, dass der syrische Text eine Tochterübersetzung aus dem Griechischen darstelle, abzuweichen.80 Letztere Überzeugung teilt auch Patrick Pouchelle, der eingehend die Unterschiede zwischen griechischer und syrischer Lesart des Textes von PsSal 13 untersucht und im Ergebnis feststellt, dass die These einer Abhängigkeit der syrischen Überlieferung vom griechischen Text die größte Plausibilität besitze und daher der griechische Text dem syrischen vorzuziehen sei.81

Dass es in Fragen der Bewertung und Relevanz von griechischen und syrischen Textzeugen weiterhin Klärungsbedarf gibt, zeigt auch ein Aufsatz von Jan Joosten (2015) zur Frage nach der ursprünglichen Sprache der Psalmen Salomos.82 In ihm stellt Joosten die seit dem 19. Jahrhundert nur von Adolf Hilgenfeld83, Otto Zöckler84, Joshua Efron85 und Heerak Christian Kim86 bestrittene ←35 | 36→Mehrheitsmeinung, nach der die Psalmen Salomos ursprünglich auf Hebräisch verfasst wurden, in Frage und votiert für das Griechische als die ursprüngliche Sprache der Psalmen Salomos.87 Joosten betrachtet die Sammlung damit in einer Reihe mit Texten wie dem Testament Abrahams und dem Judithbuch, die ebenfalls ursprünglich in griechischer Sprache verfasst wurden und Ausdruck und Stil der Septuaginta zu imitieren suchen.88 In seiner Argumentation führt Joosten nicht allein philologische Beweise an, sondern bemüht sich auch um die Darstellung der historischen Plausibilität eines griechischen Originals der Psalmen Salomos. So erkennt er etwa in PsSal 17,16–18 mögliche Hinweise auf die jüdische Diaspora und hält daher Beziehungen des Verfassers zu einem „Greek-speaking milieu“89 für denkbar. Ferner sieht Joosten lexikalische Bezüge zu dem Vokabular von in Palästina entstandenen Rezensionen des Septuaginta-Textes, die eine ursprüngliche Abfassung der Psalmen auf Griechisch auch in räumlicher Nähe zu Jerusalem möglich erscheinen lassen, auch wenn ansonsten die Hinweise auf griechischsprachige religiöse Literatur in Palästina zur Zeit der römischen Besatzung dürftig sind. Joosten regt eine eingehende Analyse unter der von ihm neu aufgeworfenen Frage nach der Originalsprache der Psalmen Salomos an und ist sich dabei der Bedeutung seiner These bewusst: „If the thesis of Greek origin should be judged to hold water, it will impact the exegesis of the Psalms significantly.“90

Neben Joosten lässt auch Eberhard Bons (2015) Zweifel an der opinio communis aufkommen, dass der griechische Text der Psalmen Salomos vollständig eine Übersetzung aus dem Hebräischen abbildet.91 Dreh- und Angelpunkt der Überlegungen Bons ist die Beobachtung, dass in PsSal 9,4 die Nomen ἐκλογή und ἐξουσία (anders etwa als im biblischen Griechisch der Septuaginta) parallel gebraucht werden. Der spezifisch ethische Gebrauch beider Worte lege nahe, dass sie zeitgenössischer hellenistischer Philosophie entlehnt wurden.92 Während eine Nähe zu hellenistischem Gedankengut in PsSal 9,4 deutlich erkennbar sei, ließe sich hingegen ein biblischer Hintergrund innerhalb der ersten beiden ←36 | 37→Stichoi des Verses nicht ausmachen.93 Eine hebräische Vorlage sei für den Vers nur schwer vorstellbar.94 Trotz aller erkennbarer sprachlicher Nähe zwischen dem Septuagintapsalter und den Psalmen Salomos erscheine es daher denkbar, „that the Psalms of Solomon is not (or not completely) a word-by-word-translation but that it has been rewritten or composed – at least partially– in Greek and not in Hebrew; though imitating Hebrew style and diction.“95

Mit Joosten und Bons geht auch Felix Albrecht (2018) davon aus, dass ein stark von der Septuaginta geprägtes Griechisch die ursprüngliche Sprache der Psalmen Salomos ist. Seine These stützt er wesentlich auf die Beobachtung, dass sich PsSal 3,4 und 5,2 von Prov 3,11LXX bzw. Ps 27,1LXX literarisch abhängig erweisen und an den genannten Stellen eine Abhängigkeit vom Hebräischen nicht denkbar sei.96

Eine erstmals sämtliche bislang bekannte griechische Textzeugen berücksichtigende textkritische Edition hat 2007 Robert B. Wright vorgelegt.97 Wright benennt fünf Aspekte, die seine Textausgabe gegenüber früheren Texteditionen der Psalmen Salomos auszeichnen:

„[…] availability of new MSS [i. e. manuscripts], completeness of the collation by including all variant readings from all of the MSS […], inclusion of significant variants from the Syriac MSS, improved accuracy of the collation by employing technological advances in the editing process, and the simple fact that this editor has personally compared this collation with all twelve of the extant Greek manuscripts.“98

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Leider wird Wrights Edition den genannten Aspekten nur in Teilen gerecht und vermag die Erwartungen an eine moderne textkritische Ausgabe nicht zu erfüllen.99 Eine CD-ROM mit den Farbfotos der handschriftlichen Textzeugen, die Wright Interessierten zur Verfügung stellt, bietet jedoch für alle, die sich ein eigenes Bild von Qualität und Textbezeugung der (griechischen und syrischen) Manuskripte zu den Psalmen Salomos machen möchten, ein unverzichtbares Hilfsmittel.100 Aus den Mängeln in der Edition Wrights ergibt sich die von Felix Albrecht in einem Aufsatz ausführlich dargestellte „Notwendigkeit einer Neuedition der Psalmen Salomos“.101 Im Dezember 2018 konnte Felix Albrecht im Rahmen der Göttinger Editio critica maior eine kritische Ausgabe des griechischen Textes der Psalmen Salomos vorlegen.102 Erklärtes Ziel dieser Neuedition ist eine angemessene Berücksichtigung der syrischen Textüberlieferung und die Klärung möglicher Spuren origeneischer und lukianischer Rezension in der Textüberlieferung.103

Der Frage nach der Textüberlieferung der Titel, Über- und Unterschriften zu den (teilweise als fortlaufender Einheit überlieferten) Oden Salomos und Psalmen Salomos in der griechischen und syrischen Texttradition geht Michael Lattke (2002) nach.104 Lattke (2016) trägt auch Informationen zur Kanon- und Handschriftengeschichte der Sammlung zusammen.105

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1.1.4.2Forschungen zur Gattung

Die Zahl der Arbeiten aus neuerer Zeit zur Frage nach der Gattung der Psalmen Salomos ist gering. Auf dem Hintergrund der vor allem in PsSal 1; 2; 8 und 17 hervortretenden herrschaftskritischen Ideologie innerhalb der Sammlung hinterfragt Rodney A. Werline die Annahme, dass es sich bei den Psalmen Salomos um apokalyptische Literatur handele.106 Dabei skizziert er zunächst den historischen Hintergrund der genannten Psalmen und stellt dann heraus, dass sich die Verfasser der Psalmen Salomos bei ihrer Kritik an hasmonäischer bzw. römischer Herrschaft deuteronomistischer Denkmuster bedienten. Entscheidend für Fluch oder Segen über Israel erscheine vor allem Israels Untreue bzw. Treue gegenüber dem Bund. Diese Anschauung stehe jedoch im Gegensatz zu einem deterministisch geprägten apokalyptischen Denken.107 Werline hält fest, dass der Text der Psalmen Salomos „clearly does not fit into the literary category apocalypse“108 und betont: „The proper literary category for the Psalms of Solomon is a collection of psalms. The parallels, both in language and form, between the text and the biblical psalms are numerous.“109 Im Gegensatz dazu meint Otto Kaiser, dass die Psalmen Salomos

Details

Seiten
356
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783631849248
ISBN (ePUB)
9783631849255
ISBN (MOBI)
9783631849262
ISBN (Hardcover)
9783631849231
DOI
10.3726/b18134
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
rewritten Scripture Septuaginta Neudichtung Auslegung Pseudepigraphen Gebet
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 356 S., 3 s/w Abb., 12 s/w Tab.

Biographische Angaben

Sven Behnke (Autor:in)

Sven Behnke studierte Evangelische Theologie in Frankfurt am Main, Heidelberg und Mainz. Als Wissenschaftlicher Mitarbeiter war er am Lehrstuhl für Exegese und Literaturgeschichte des Alten Testaments an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin beschäftigt. Darauf folgte ein Gemeindevikariat in Frankfurt am Main und ein Spezialvikariat am Evangelischen Kirchenamt für die Bundeswehr in Berlin. Sven Behnke ist Pfarrer der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau.

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Titel: Psalm Salomo 14
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