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Wirtschaftlichkeit, Zweckmäßigkeit und Risikomanagement – Der Untersuchungsgrundsatz im Lichte des § 88 AO n.F.

von Emran Sediqi (Autor:in)
©2021 Dissertation 390 Seiten

Zusammenfassung

Das „Kernstück" des Gesetzes zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens vom 18. Juli 2016 war die erhebliche Änderung und Erweiterung der einfachgesetzlichen Grundlage für die Geltung des Untersuchungsgrundsatzes im Besteuerungsverfahren, namentlich § 88 AO. Der Gesetzgeber hatte dabei das Ziel der Bewältigung des Besteuerungsverfahrens als Massenverfahren vor Augen. Zu diesem Zweck hat der Gesetzgeber die (unbestimmten) Rechtsbegriffe der Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit sowie eine bundeseinheitliche Regelung zum Einsatz von Risikomanagementsystemen durch die Finanzbehörden in § 88 AO n.F. eingeführt. Diese Neuerungen im § 88 AO n.F. stehen in dieser Arbeit aus nationaler verfassungsrechtlicher sowie punktuell auch aus unionsrechtlicher Sicht auf dem Prüfstand.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einführung
  • A. Umfassende Neufassung des § 88 AO durch das Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens v. 18.7.2016
  • B. Untersuchungsgegenstand und Gang der Untersuchung
  • Teil 1: Allgemeines zum Untersuchungsgrundsatz
  • A. Begriffsbestimmung
  • B. Rechtshistorie bis zum § 88 AO n.F. nach dem StModG
  • I. § 204 RAO v. 13.12.1919
  • II. § 88 AO 1977
  • III. § 88 AO nach dem Steuerbürokratieabbaugesetz v. 20.12.2008
  • IV. § 88 AO n.F. durch das StModG
  • C. Verfassungsdogmatische Fundierung des Untersuchungsgrundsatzes im Besteuerungsverfahren
  • I. Gesetzmäßigkeit der Besteuerung, Art. 20 Abs. 3 GG (§ 85 Satz 1 Alt. 1 AO)
  • II. Gleichmäßigkeit der Besteuerung, Art. 3 Abs. 1 GG (§ 85 Satz 1 Alt. 2 AO)
  • III. Einfluss von Gesetz-​ und Gleichmäßigkeit der Besteuerung auf die verfassungsrechtliche Gebotenheit des Untersuchungsgrundsatzes im Besteuerungsverfahren
  • IV. Recht auf ein faires Verfahren
  • V. Rechtsschutzgarantie, Art. 19 Abs. 4 GG
  • VI. Sozialstaatsprinzip, Art. 20 Abs. 1 GG
  • VII. Zwischenergebnis
  • D. Abgrenzung zu anderen Sachaufklärungs-​ und Verfahrensmaximen
  • I. Verhandlungsgrundsatz (Beibringungsgrundsatz)
  • II. Legalitätsprinzip
  • III. Offizialmaxime
  • IV. Opportunitätsprinzip
  • E. Der Untersuchungsgrundsatz und das Verhältnis zur Kooperationsmaxime
  • I. Die Kooperationsmaxime als verfahrensimmanentes (Grund-​)Prinzip des Besteuerungsverfahrens
  • II. Anerkennung als Grundprinzip des Besteuerungsverfahrens
  • 1. Steuerhistorische Grundlagen
  • 2. Ablehnende Stimmen in der Literatur
  • 3. Eigene Auffassung
  • III. Verfahrensbestimmende Folgen der Kooperationsmaxime
  • 1. Mitverantwortung des Steuerpflichtigen an der Sachaufklärung
  • 2. Auswirkungen von Mitwirkungspflichtverletzungen auf den Untersuchungsgrundsatz
  • IV. Zwischenergebnis
  • Teil 2: Der Untersuchungsgrundsatz nach § 88 AO a.F.
  • A. Inhalt
  • B. Untersuchungsgrundsatz als negatives Prinzip
  • C. Verfahrensermessen der Finanzbehörde
  • I. Erheblicher Gestaltungsspielraum
  • II. Hinreichender Anlass für den Ermittlungsbeginn
  • III. Das materielle Wahrheitsprinzip
  • IV. Verletzung der Amtsermittlungspflicht und ihre Folgen
  • 1. Allgemeines zur Amtsermittlungspflichtverletzung
  • a) Anforderungen an die Verletzung der Amtsermittlungspflicht
  • a) Zweistufigkeit der finanzbehördlichen Prüfungstätigkeit
  • 2. Einzelfälle aus der Rechtsprechung
  • 3. Rechtsfolgen einer Amtsermittlungspflichtverletzung
  • a) Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts
  • b) Verfahrensrechtliche Folgen
  • aa) Ausschluss der Änderungsmöglichkeit nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO
  • bb) Auswirkungen auf § 129 AO
  • c) Prozessrechtliche Folgen
  • d) Amtshaftungsanspruch des Steuerpflichtigen
  • D. Der Beweis im Besteuerungsverfahren
  • I. Die Beweismittel der AO
  • II. Die Beweislast im Besteuerungsverfahren
  • 1. Erforderlichkeit einer Beweislastentscheidung im Besteuerungsverfahren
  • 2. Objektive Beweislast im Besteuerungsverfahren
  • 3. Subjektive Beweisführung durch den Steuerpflichtigen
  • III. Die Überzeugungsbildung im Besteuerungsverfahren (Beweismaß)
  • IV. Grundsatz der freien Beweiswürdigung
  • E. Grenzen der Sachaufklärung
  • I. Übermaß-​ und Untermaßverbot
  • II. (Un-​)Zumutbarkeit
  • III. Grenze der Sachaufklärung an der Staatsgrenze?
  • 1. Völkerrechtliches Prinzip der formellen Territorialität
  • 2. Auswirkungen auf den Untersuchungsgrundsatz
  • IV. Privat-​ und Intimsphäre des Steuerpflichtigen
  • F. Zwischenergebnis
  • Teil 3: Verwirklichung des Untersuchungsgrundsatzes im Besteuerungsverfahren als Massenverfahren –​ ein stetiges Spannungsverhältnis
  • A. Realität der Finanzverwaltung als Spannungsursache
  • B. Maßvoller Gesamtvollzug als verfassungsmäßiger Auftrag
  • I. Verfassungsrechtliche Gebotenheit eines maßvollen Gesamtvollzugs
  • II. Verständnis vom „maßvollen“ Gesamtvollzug
  • 1. Stimmen im Schrifttum
  • 2. Eigene Auffassung
  • III. Vollziehungsauftrag der Finanzbehörde als sog. Optimierungsauftrag
  • IV. Zwischenergebnis
  • C. Instrumente der Finanzverwaltung zur Bewältigung des Massenverfahrens
  • I. Von der 100%-​Doktrin bis zur strukturellen Verifikationsmaxime
  • 1. Massenverfahren als Ursache für eine strukturelle Verifikation
  • 2. Konkrete Durchführung der strukturellen Verifikation durch Finanzbehörden
  • II. Das Vertrauensvorschussprinzip
  • 1. Begriffsbestimmung
  • 2. Notwendiges Prinzip im Massenverfahren
  • 3. Bedenken gegen den Vertrauensvorschuss
  • a) Grundlage für den Vertrauensvorschuss verfehlt
  • b) Vertrauensvorschuss nur bei Konsultation eines Steuerberaters
  • c) Eigene Auffassung
  • III. Der Grundsatz der Wirtschaftlichkeit
  • IV. Das Risikomanagementsystem
  • D. Selbstveranlagung, Risikomanagementsystem und automatischer Steuerbescheid –​ der Bewältigungstrias für das Massenverfahren
  • I. Der Bewältigungstrias
  • II. Allgemeines zur Selbstveranlagung
  • 1. Begriffsbestimmung
  • 2. Abgrenzung zur Fremdveranlagung
  • 3. Historie zu Selbstveranlagungsbestrebungen in Deutschland
  • III. Selbstveranlagung weltweit
  • IV. Status quo in Deutschland: „kontrollierte Selbstregulierung“
  • V. Pro und contra einer Selbstveranlagung
  • 1. Argumente pro Selbstveranlagung
  • 2. Argumente contra Selbstveranlagung
  • 3. Erkenntnisse aus dem DWS-​Symposium 2014
  • a) Impulsreferat von Seer
  • b) Einführungsreferate von Sell, Schwab und Anzinger
  • c) Anschließende Diskussion
  • 4. Eigene Auffassung
  • VI. Vereinbarkeit der Selbstveranlagung mit dem Untersuchungsgrundsatz?
  • VII. Zwischenergebnis
  • Teil 4: Der Untersuchungsgrundsatz im Lichte des § 88 AO n.F.
  • A. Der Weg zum § 88 AO n.F. durch das StModG
  • I. Das gemeinsame Konzept von Bund und Ländern
  • II. Der Referentenentwurf des BMF
  • III. Das Gesetzgebungsverfahren
  • B. Der neue Wortlaut des § 88 AO n.F. im Überblick
  • I. § 88 Abs. 1 AO n.F.
  • II. § 88 Abs. 2 AO n.F.
  • III. § 88 Abs. 3 AO n.F.
  • IV. § 88 Abs. 4 AO n.F.
  • V. § 88 Abs. 5 AO n.F.
  • C. Der Grundsatz der Wirtschaftlichkeit im § 88 AO n.F.
  • I. Allgemeines zur Einführung des Grundsatzes der Wirtschaftlichkeit
  • II. Begriffsvielfalt
  • III. Der Versuch einer Definition
  • 1. Verständnis des Gesetzgebers
  • 2. Verständnis der Finanzverwaltung
  • 3. Eigenes Verständnis
  • a) Wirtschaftlichkeit bedeutet nicht Maximierung von Steuereinnahmen
  • b) Wirtschaftlichkeit bedeutet Effizienz
  • c) Definition von Wirtschaftlichkeit im § 88 AO n.F.
  • IV. Wirtschaftlichkeit als grundlegendes Prinzip der Verwaltung
  • V. Der steuerverfahrensrechtliche Grundsatz der Wirtschaftlichkeit als Verfassungsprinzip
  • 1. Wirtschaftlichkeit als unmittelbare Ausprägung des Rechtstaatsprinzips und der Gesetzmäßigkeit
  • 2. Bedeutung des Art. 114 Abs. 2 GG
  • VI. Zwischenergebnis
  • VII. Kritische Auseinandersetzung mit dem Grundsatz der Wirtschaftlichkeit
  • 1. Systematische Einordnung der Wirtschaftlichkeit (Rangverhältnis)
  • 2. Wirtschaftlichkeit als Missbrauchsinstrument der Finanzverwaltung?
  • 3. Vereinbarkeit mit Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit?
  • 4. Streichung aus dem Gesetzestext?
  • D. Der Grundsatz der Zweckmäßigkeit im § 88 Abs. 2 Satz 2 AO n.F.
  • I. Allgemeines zur Einführung des Grundsatzes der Zweckmäßigkeit
  • II. Bedeutungsfindung
  • 1. Verständnis des Gesetzgebers
  • 2. Verständnis der Finanzverwaltung
  • 3. Verständnis in der steuerlichen Rechtsprechung
  • 4. Verständnis im allgemeinen Verwaltungsrecht
  • a) § 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO: Zweckmäßigkeit als Prüfungsmaßstab im Vorverfahren
  • aa) Vergleich von § 68 Abs. 1 VwGO mit § 367 Abs. 2 AO
  • bb) Bedeutung von Zweckmäßigkeit im § 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO
  • b) § 10 Satz 2 VwVfG: Zweckmäßigkeit als Verfahrensziel
  • 5. Zwischenergebnis
  • III. Kritik am Grundsatz der Zweckmäßigkeit
  • 1. Keine eigenständige Bedeutung für das Besteuerungsverfahren
  • a) Abgrenzung zur Wirtschaftlichkeit im § 88 AO n.F.
  • b) Abgrenzung zur (Un-​)Zumutbarkeit
  • c) Zwischenergebnis
  • 3. Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz
  • a) Bestimmtheitsgrundsatz im Steuerrecht
  • aa) Allgemeines zum Bestimmtheitsgrundsatz
  • bb) Bedeutung für das Steuerverfahrensrecht
  • b) Unbestimmtheit des Grundsatzes der Zweckmäßigkeit
  • 3. Zweckmäßigkeit im § 88 Abs. 2 Satz 2 AO n.F. zu streichen
  • E. Das Risikomanagementsystem im § 88 Abs. 5 AO n.F.
  • I. Das Verhältnis von Recht und Technik
  • II. Begriffsbestimmung
  • 1. Definition des Risikomanagementsystems
  • 2. Das steuerlich signifikante „Risiko“
  • III. Grundgedanke und Funktion eines Risikomanagementsystems im Besteuerungsverfahren
  • 1. Grundgedanke des Risikomanagementsystems
  • 2. Funktion des Risikomanagementsystems
  • IV. Die Historie zum risikoorientierten Steuervollzug bis zum Risikomanagementsystem in § 88 Abs. 5 AO n.F.
  • V. Die EB-​FAGO NRW
  • 1. Inhalt der EB-​FAGO NRW
  • 2. Rechtsnatur der EB-​FAGO NRW
  • 3. Intransparenz der Finanzverwaltung NRW
  • VI. Das Risikomanagementsystem in der Praxis
  • 1. Die einzelnen Stationen: Von der Steuerklärung bis zum Steuerbescheid
  • 2. Risikoklassen, Risikohinweise und Risikoparameter
  • a) Die einzelnen Risikoklassen
  • b) Maßgeblichkeit der Risikohinweise sowie der Risikoparameter für die Einteilung
  • c) Maßgeblichkeit der Risikohinweise für den konkreten Prüfungsumfang
  • d) Manuelle Zuteilung vor dem StModG
  • e) Automatische Zuteilung nach dem StModG?
  • 3. Der „Compliance-​Faktor“
  • VII. Risikomanagementsysteme der Finanzverwaltungen weltweit
  • VIII. Grundsatzfragen zum Risikomanagementsystem
  • 1. Grundausrichtung: Theoriegeleitet oder selbstlernend?
  • a) Ansätze des Chaos Computer Clubs
  • aa) Theoriegeleiteter Ansatz
  • bb) Selbstlernender Ansatz
  • b) Eigener Ansatz: Selbstlernendes System
  • 2. Vereinbarkeit des Einsatzes eines Risikomanagementsystems mit dem Untersuchungsgrundsatz
  • a) Die ständige Kritik des BRH und des LRH NRW
  • b) Risikomanagementsystem ist mit Untersuchungsgrundsatz vereinbar
  • 3. Vereinbarkeit des Risikomanagementsystems mit Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit –​ Frage nach dem „ob“
  • IX. Kritische Auseinandersetzung mit der konkreten Ausgestaltung des § 88 Abs. 5 AO n.F.
  • 1. Stellungnahmen auf dem Weg zum StModG
  • 2. Die Konturenlosigkeit der Mindestanforderungen in § 88 Abs. 5 Satz 3 AO n.F. –​ Frage nach dem „wie“
  • a) Die automationsgestützte Zufallsauswahl, § 88 Abs. 5 Satz 3 Nr. 1 AO n.F.
  • aa) Die konstitutive Bedeutung der Zufallsauswahl für das Risikomanagementsystem
  • bb) Die Funktion(en) der Zufallsauswahl
  • cc) Die fehlenden Konturen
  • dd) Vorschlag für die Einfügung einer gesetzlichen Mindest-​Zufallsauswahlquote
  • b) Der Grundsatz der persönlichen Prüfung nach Aussteuerung, § 88 Abs. 5 Satz 3 Nr. 2 AO n.F.
  • c) Das persönliche „Aussteuerungsrecht“ des Finanzbeamten, § 88 Abs. 5 Satz 3 Nr. 3 AO n.F.
  • aa) Bedeutung und Funktion neben § 88 Abs. 5 Satz 3 Nr. 1 und 2 AO n.F.
  • bb) Fehlende Konturen?
  • d) Der Grundsatz der permanenten Evaluierung gemäß § 88 Abs. 5 Satz 3 Nr. 4 AO n.F.
  • aa) Die konstitutive Bedeutung der Evaluierung für das Risikomanagementsystem
  • bb) Die fehlenden Konturen
  • cc) Vorschlag für eine gesetzliche Regelung eines Evaluierungsrhythmus und für die Schaffung einer unabhängigen Evaluierungsinstanz
  • e) Zwischenergebnis
  • 3. Die Geheimhaltungsklausel im § 88 Abs. 5 Satz 4 AO n.F. –​ eine Untersuchung aus nationaler und unionsrechtlicher Sicht
  • a) Allgemeines zum § 88 Abs. 5 Satz 4 AO n.F.
  • aa) Rechtliche Einordnung der Geheimhaltungsklausel
  • bb) Sinn und Zweck des § 88 Abs. 5 Satz 4 AO n.F.
  • cc) „Einzelheiten“ i.S. des § 88 Abs. 5 Satz 4 AO n.F.
  • dd) Abstrakte oder konkrete „Gefahr“ für Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung?
  • aaa) Allgemeines zu den Gefahrbegriffen der abstrakten und konkreten Gefahr
  • bbb) Übertragung auf die „Gefahr“ im § 88 Abs. 5 Satz 4 AO n.F.
  • b) Die konträre Interessenlage
  • c) Verstoß gegen das Transparenzprinzip
  • d) Verstoß gegen die Rechtsschutzgarantie, Art. 19 Abs. 4 GG
  • aa) Gewährleistungsgehalt des Art. 19 Abs. 4 GG
  • bb) Praktisch konkordante Lösung durch das in camera-​Verfahren nach § 86 Abs. 3 FGO?
  • aaa) Grundlagen zum in camera-​Verfahren
  • bbb) (K)Ein schonender Ausgleich?
  • e) Vereinbarkeit von § 88 Abs. 5 Satz 4 AO n.F. mit der europäischen Datenschutz-​Grundverordnung
  • aa) Allgemeines zur DSGVO
  • aaa) Unionsrechtliche Grundlagen
  • bbb) Überblick über die DSGVO
  • bb) Rechtsverhältnis zwischen DSGVO und AO
  • cc) Anwendbarkeit der DSGVO im deutschen Steuervollzug unter besonderer Berücksichtigung des Einsatzes von RMS
  • aaa) Persönlich
  • bbb) Sachlich
  • (1) Verarbeitung personenbezogener Daten
  • (2) Ganz oder teilweise automatisierte Verarbeitung oder nichtautomatisierte Verarbeitung mit Dateisystem
  • (3) Kein Ausschlussgrund nach Art. 2 Abs. 2 DSGVO
  • (4) Keine Anwendbarkeit vorrangiger Regelungen, Art. 2 Abs. 3, 4 DSGVO
  • ccc) Räumlich
  • ddd) Zeitlich
  • eee) Zwischenergebnis
  • dd) Das Auskunftsrecht nach Art. 15 DSGVO mit Blick auf den Einsatz von RMS durch die Finanzverwaltung
  • aaa) Ausdruck des Transparenzgedankens
  • bbb) Relevante Gegenstände des Auskunftsrechts in Bezug auf das RMS
  • (1) Verarbeitete Datenkategorien beim RMS, Art. 15 Abs. 1 Halbs. 2 lit. b) DSGVO
  • (2) RMS als automatische Entscheidungsfindung einschließlich Profiling, Art. 15 Abs. 1 Halbs. 2 lit. h) DSGVO
  • ccc) Zwischenergebnis
  • ee) Kompetenz der Mitgliedstaaten zur Einschränkung der DSGVO aus der DSGVO, Art. 23 DSGVO
  • aaa) Die Voraussetzungen nach Art. 23 Abs. 1 DSGVO
  • bbb) Nationale Gesetzgebungsmaßnahmen zum Besteuerungsverfahren
  • (1) Bereichsspezifische Regelungen durch §§ 32a ff. AO
  • (2) § 88 Abs. 5 Satz 4 AO n.F. als „Gesetzgebungsmaßnahme“ i.S. des Art. 23 Abs. 1 DSGVO?
  • ff) Prüfung des § 88 Abs. 5 Satz 4 AO n.F. am Maßstab des Art. 23 Abs. 1 DSGVO
  • aaa) Sicherstellung eines Zwecks, Art. 23 Abs. 1 lit. a) bis j) DSGVO
  • bbb) Achtung des Wesensgehalts der Grundrechte und Grundfreiheiten
  • (1) Determination des Wesensgehalts von (europäischen) Grundrechten, insbesondere Art. 8 EuGrCh
  • (2) Grundrechtsspezifische Rechtsprechung des EuGH zur Bestimmung des Wesensgehalts von Art. 8 EuGrCh
  • (3) Missachtung des Wesensgehalts von Art. 8 EuGrCh durch § 88 Abs. 5 Satz 4 AO n.F.
  • ccc) Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit
  • gg) Zwischenergebnis
  • f) Das Recht auf eine gute Verwaltung, Art. 41 EUGrCh
  • g) Zwischenergebnis
  • 4. Der Grundsatz der Gewaltenteilung und § 88 Abs. 5 Satz 5 AO n.F.
  • a) Verfassungsrechtliche Grundlagen und Inhalt des Grundsatzes der Gewaltenteilung
  • b) Konkrete Prüfung des § 88 Abs. 5 Satz 5 AO n.F.
  • 5. Verfassungskonforme und unionsrechtskonforme Auslegung von § 88 Abs. 5 Satz 4 AO n.F.?
  • a) Grundlegung zur verfassungskonformen Auslegung
  • b) Grundlegung zur unionsrechtskonformen Auslegung
  • c) Mögliche verfassungskonforme und unionsrechtskonforme Auslegung von § 88 Abs. 5 Satz 4 AO n.F.
  • d) Eindeutiger Wille des Gesetzgebers als Grenze und Ausschlussgrund für die verfassungs-​ und unionsrechtskonforme Auslegung
  • 6. Plädoyer für die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage zur Berücksichtigung des steuerlichen Vorverhaltens des Steuerpflichtigen im Rahmen des RMS
  • a) Bedürfnis nach einer gesetzlichen Grundlage
  • b) Der Steuerpflichtige als steuerlich signifikantes Risiko
  • c) Aktuelle Lage defizitär
  • aa) Anhaltspunkte weder im Gesetz noch in der Finanzverwaltung
  • bb) Erheblichkeit des steuerlichen Vorverhaltens für die Risikobeurteilung
  • cc) Kein unmittelbarer Bestandteil des automationsgestützten RMS
  • d) Gesetzliche Grundlage wegen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung verfassungsrechtlich geboten
  • aa) Hintergründe zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung
  • bb) Steuerspezifische Rechtsprechung des BVerfG zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung
  • cc) Übertragung auf die Berücksichtigung des steuerlichen Vorverhaltens
  • e) Eckpunkte für eine verfassungskonforme gesetzliche Grundlage zur Berücksichtigung des steuerlichen Vorverhaltens im Rahmen des RMS
  • aa) Unmittelbarer Bestandteil des automationsgestützten RMS
  • bb) Konkrete Benennung von Anlass und Zweck
  • cc) Gesetzliche Fixierung des Umfangs des steuerlich relevanten Vorverhaltens des Steuerpflichtigen
  • f) Vorteile einer gesetzlichen Grundlage
  • Teil 5: Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse
  • A. Wesentliche Ergebnisse aus Teil 1
  • B. Wesentliche Ergebnisse aus Teil 2
  • C. Wesentliche Ergebnisse aus Teil 3
  • D. Wesentliche Ergebnisse aus Teil 4
  • Literaturverzeichnis
  • Anlage: Geschäftsordnung der Finanzämter (FAGO) und Ergänzende Bestimmungen (EB), Ministerium der Finanzen NRW (Ausschnitt), Stand: Mai 2019

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Einführung

A. Umfassende Neufassung des § 88 AO durch das Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens v. 18.7.2016

Das 21. Jahrhundert hat das digitale Zeitalter eingeläutet. Die Entwicklung hin zu einer digitalen Gesellschaft und zu einem digitalen Staat gehört zu den wichtigsten „gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Themen unserer Zeit“.1 Die Digitalisierung schreitet dabei in zentralen Bereichen des Lebens und der Wirtschaft in einem beispiellosen Tempo voran,2 was zu neuen Herausforderungen des Staates und seiner Verwaltung führt. So nahm auch die Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft e.V. (DStJG) diese Entwicklung zum Anlass, ihre 43. Jahrestagung im Jahr 2018 dem Thema der „Digitalisierung im Steuerrecht“ zu widmen.3 Der Digitalisierungsprozess stellt auch die Finanzverwaltung vor neue Herausforderungen. Dies hat auch der Gesetzgeber für das Besteuerungsverfahren erkannt und hat am 18. Juli 2016 das Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens4 verabschiedet, das nach Art. 23 des StModG im Wesentlichen mit Wirkung vom 1. Januar 2017 in Kraft getreten ist. Ziel des StModG ist es, den Steuervollzug und insgesamt das Besteuerungsverfahren an das digitale Zeitalter anzupassen sowie der demografischen Entwicklung5 und den damit einhergehenden Herausforderungen für das Besteuerungsverfahren präventiv entgegenzuwirken.6 Auch wenn das StModG keine „Fundamentalreform der AO“ darstellt,7 ist das StModG doch ein notwendiger und wichtiger ←25 | 26→Schritt hin zu einem modernen Besteuerungsverfahren und stellt jedenfalls „das größte steuerliche Reformprojekt der vergangenen Legislaturperiode“ dar.8 Während der Gesetzesberatungen habe man sich mit keinem Bereich „so intensiv auseinandergesetzt, wie mit der juristischen Beurteilung des neuen § 88 AO“. Ein „Kernstück“ des Gesetzes sei daher die Reform des § 88 AO.9 Im § 88 AO ist der verfahrensprägende Nukleus des Besteuerungsverfahrens normativ niedergelegt: Der Untersuchungsgrundsatz. Der Untersuchungsgrundsatz besagt, dass der Sachverhalt hoheitlich von Amts wegen zu ermitteln ist. Es ist damit der Finanzbehörde de lege lata überlassen, die für die Besteuerung relevanten Tatsachen zu erforschen, wodurch eine der materiellen Wahrheit entsprechende Besteuerung sichergestellt werden soll.

Die Verwirklichung des Untersuchungsgrundsatzes durch die Finanzbehörden muss sich im Rahmen der Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung vollziehen. Diese Fundamentalgrundsätze des Besteuerungsverfahrens ergeben sich auf Ebene der Verfassung aus Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 3 Abs. 1 GG und sind auf Ebene des einfachen Gesetzes in § 85 Satz 1 AO geregelt. Dies ist aber in Zeiten des Besteuerungsverfahrens als Massenverfahren eine nicht zu unterschätzende Herausforderung, die sich die Finanzverwaltung jedes Jahr aufs Neue annehmen muss. Mit dem StModG wurde der § 88 AO von Grund auf geändert. Durch die Neuregelung des § 88 AO versucht der Gesetzgeber nunmehr, den Finanzbeamten das nötige Werkzeug zu reichen, um so den hohen Berg des Massenverfahrens zu erklimmen.10 So hat der Gesetzgeber mit dem StModG den Grundsatz der Wirtschaftlichkeit und der Zweckmäßigkeit sowie das Verhältnismäßigkeitsprinzip in § 88 Abs. 2 Satz 1, 2 AO n.F. in ←26 | 27→Gesetzesform gegossen, mit der Folge, dass die Finanzbehörden ihr Ermessen an diesen Prinzipien ausrichten können und – im Fall des Verhältnismäßigkeitsprinzips – auch müssen. Ausdrücklich heißt es in § 88 Abs. 2 Satz 2 AO n.F. nunmehr: „Bei der Entscheidung über Art und Umfang der Ermittlungen können allgemeine Erfahrungen der Finanzbehörden sowie Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit berücksichtigt werden“.11 Darüber hinaus sieht der neue § 88 AO in seinem fünften Absatz eine erstmalige bundeseinheitliche Regelung für Risikomanagementsysteme vor.

B. Untersuchungsgegenstand und Gang der Untersuchung

Diese Arbeit behandelt den Untersuchungsgrundsatz nach § 88 AO n.F. im Lichte der genannten Neuerungen durch das StModG. Was bedeutet Wirtschaftlichkeit? Welche Bedeutung kommt der Zweckmäßigkeit im Besteuerungsverfahren zu? In welchem Verhältnis stehen diese „neuen“ Prinzipien zueinander bzw. zu den Fundamentalgrundsätzen der Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung? Welche Funktion kommt dem Risikomanagementsystem im Besteuerungsverfahren als Massenverfahren zu und ist ein solches mit den Anforderungen der Verfassung an das Besteuerungsverfahren vereinbar? Hält die konkrete Ausgestaltung im § 88 Abs. 5 AO n.F. einer verfassungsrechtlichen sowie unionsrechtlichen Prüfung stand?

Diese und weitere Fragen versucht diese Arbeit zu beantworten. Dabei soll in Teil 1 dieser Arbeit zunächst auf die Grundlagen des Untersuchungsgrundsatzes und das verfassungsrechtliche Gerüst, auf dem sich der Untersuchungsgrundsatz stützt, eingegangen werden. Besonders behandelt wird dabei die sog. Kooperationsmaxime im Besteuerungsverfahren.

Im Anschluss daran werden im zweiten Teil dieser Arbeit der Inhalt und der Anwendungsbereich des § 88 AO nach der alten Fassung bis zum 31. Dezember 2016 dargestellt. Dadurch soll ein Überblick über den Inhalt und die Reichweite des Untersuchungsgrundsatzes in der Fassung vor dem StModG gegeben und als Konsequenz der Blick für die konkreten Änderungen durch das StModG geschärft werden.

In Teil 3 der Arbeit folgt eine genaue Betrachtung, wie der Untersuchungsgrundsatz im Spannungsverhältnis zur Realität des Massenverfahrens durch die Finanzverwaltung „gelebt“ wird. Dabei wird insbesondere für die Einführung ←27 | 28→eines Selbstveranlagungsverfahrens auf dem Gebiet der direkten Veranlagungssteuern plädiert.

Teil 4 ist dem eigentlichen Kern dieser Arbeit gewidmet: Der „neue“ Untersuchungsgrundsatz, der seine moderne Ausprägung – hauptsächlich – durch die Kodifikation des Grundsatzes der Wirtschaftlichkeit und der Zweckmäßigkeit und vor allem durch die Einführung einer bundesgesetzlichen Grundlage für ein Risikomanagementsystem erfährt. Dabei soll insbesondere das Risikomanagementsystem der Finanzverwaltung und seine gesetzliche Fixierung in § 88 Abs. 5 AO n.F. umfassend überprüft werden und mit konkreten Verbesserungsvorschlägen erweitert werden.

Die Arbeit schließt mit einer Zusammenfassung der wesentlichen in dieser Arbeit entwickelten Ergebnisse ab. Dieser Teil macht den fünften und zugleich letzten Teil dieser Arbeit aus.


1 Maier, JZ 2017, 614.

2 Drüen, DStJG 42 (2019), 1.

3 Die Ergebnisse der Tagung, die am 17. und 18. September 2018 in Köln stattgefunden hat, wurden im 42. Band der DStJG (2019) festgehalten.

4 Im Folgenden wird das Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens mit „StModG“ abgekürzt. Der Gesetzesbeschluss des Bundestages erfolgte am 27.5.2016, BR-Drucks. 255/16; die Zustimmung des Bundesrates folgte am 17.6.2016, s. BR-Drucks. 255/16(B). Veröffentlicht ist das StModG in BGBl. I 2016, 1679 – 1709. Vgl. ausführlich zum Gesetzgebungsverfahren unter Teil 4, A. III.

5 Gemeint ist die demografische Entwicklung innerhalb der Finanzverwaltung.

6 BT-Drucks. 18/7457, S. 46 f.; Ortmann-Babel/Franke, DB 2016, 1521.

7 Seer, StbJb. 2016/17, 539 (540). Im Gegensatz dazu spricht Schwenker, DB 2016, 375, von einem „Meilenstein“ der Digitalisierung im Steuerrecht; Thiemann, StuW 2018, 304, bezeichnet die Neufassung des § 88 AO als „Automatisierung des Steuervollzugs“; Zaumseil, NJW 2016, 2769, spricht lediglich von einem „Zwischenschritt in Richtung eines vollständig digitalen Besteuerungsverfahrens“; s. auch Durst, kösdi 2019, 21202 (21203).

8 Drüen, StuW 2018, 300 (301).

9 So die Koalitionsfraktionen bei den Beratungen im federführenden Finanzausschuss, BT-Drucks. 18/8434, S. 98.

10 Zwar listet der Gesetzgeber in BT-Drucks. 18/7457, S. 46 f., lediglich die Umsetzung der Elektronisierung des Besteuerungsverfahrens und die Berücksichtigung der demografischen Entwicklung als ausdrückliche Ziele des StModG auf. Gleichwohl steht – als gewissermaßen „ungeschriebenes“ Ziel – wohl die Entlastung der Finanzverwaltung und damit die Bewältigung des Massenverfahrens im Vordergrund. Auch Seer, StbJb. 2016/17, 539 (540), sieht im StModG ein starkes Übergewicht im Interesse der Finanzverwaltung. Die Rechtsposition der Steuerpflichtigen und deren steuerliche Berater blieben auf der Strecke, vgl. Seer, DStZ 2016, 605 (606); ders., JBVStB 2016, 55 (56).

11 BGBl. I 2016, 1679 (1683 f.).

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Teil 1: Allgemeines zum Untersuchungsgrundsatz

Der erste Teil der Untersuchung beginnt mit einer Bestimmung des Begriffs „Untersuchungsgrundsatz“ (unter A.). Im Anschluss daran folgt die Darstellung der Rechtshistorie zur Vorschrift zum Untersuchungsgrundsatz in der AO (B.). Danach widmet sich die Arbeit der Frage, inwieweit die Geltung des Untersuchungsgrundsatzes im Besteuerungsverfahren verfassungsrechtlich fundiert ist (C.). Unter dem Gliederungspunkt D. erfolgt eine Abgrenzung des Untersuchungsgrundsatzes zu anderen Verfahrensmaximen. Aufgrund der überragenden Bedeutung der Kooperation des Steuerpflichtigen mit den Finanzbehörden für die Ermöglichung der Besteuerung schließt Teil 1 dieser Arbeit mit der Behandlung der Kooperationsmaxime ab (E.).

A. Begriffsbestimmung

Die Bezeichnung des im § 88 AO n.F. zum Ausdruck kommenden Grundsatzes der hoheitlichen Sachverhaltsermittlung mit dem Begriff „Untersuchungsgrundsatz“ ist nicht zwingend.12 Mitunter finden sich häufig auch die Begriffe „Amtsermittlungsgrundsatz“13 und – mit historischen Wurzeln – „Inquisitionsgrundsatz“14 in der Literatur wieder. Der Begriff „Instruktionsmaxime“ wurde ebenfalls im Zusammenhang mit § 88 AO in Stellung gebracht.15 Dieser hat sich jedoch nicht durchsetzen können und wird heutzutage auch nicht im Kontext des § 88 AO verwendet.16 Dies ist auch nicht verwunderlich, ist doch die Bedeutung des Begriffs „Instruktion“ eine andere als eine Sachverhaltsermittlung von ←29 | 30→Amts wegen, die eine der materiellen Wahrheit entsprechende Besteuerung sicherstellen soll. Ferner entspricht die Bezeichnung als Untersuchungsgrundsatz auch dem Gedanken der Harmonisierung des allgemeinen Verwaltungsverfahrensrechts17 mit den entsprechenden Vorschriften der AO.18 Auch der Begriff der „Feststellunglast“, der im Zusammenhang mit dem § 88 AO in Blick genommen wurde, war irreführend, da der Ausdruck herkömmlich im Bereich des Beweisrechts wiederzufinden ist und Fragen der Beweislast betrifft.19 Entsprechend dem Harmonisierungsgedanken wird im Folgenden für diese Arbeit an dem Begriff „Untersuchungsgrundsatz“ festgehalten.

Der Untersuchungsgrundsatz hat seinen Ursprung als Verfahrensmaxime im Prozessrecht. So sind die (meisten) Gerichte im Prozess dazu verpflichtet, von Amts wegen den relevanten Sachverhalt zu ermitteln und auf diesem Wege die materielle Wahrheit zu erforschen. Diese Prozessmaxime ist aufgrund des öffentlichen Interesses20 an einer richtigen (finanz-)behördlichen Entscheidung auch für das Besteuerungsverfahren als verfahrenszweckadäquat angesehen worden und hat sich daher – zu Recht – durchgesetzt.21

„Die Finanzbehörde ermittelt den Sachverhalt vom Amts wegen“, so lautet § 88 Abs. 1 Satz 1 AO n.F. auch nach dem StModG22 und gibt damit den Kern des Untersuchungsgrundsatzes wieder. Der Gesetzgeber hat damit zunächst klargestellt, dass es Sache der Finanzbehörden ist, den Sachverhalt zu erforschen und damit nicht dem Bürger obliegt, Sachverhaltsermittlung zu betreiben.23 Die Finanzbehörde ist mit anderen Worten „Herrin“ des Besteuerungsverfahrens.24

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B. Rechtshistorie bis zum § 88 AO n.F. nach dem StModG

I. § 204 RAO v. 13.12.1919

Der Untersuchungsgrundsatz kann aus gesetzeshistorischer Sicht auf § 204 Satz 1 der von Enno Becker begründeten Reichsabgabenordnung (RAO) vom 13. Dezember 1919 zurückgeführt werden.25 Dort hieß es bereits:

„Zweiter Teil

Ermittlungs- und Festsetzungsverfahren

§ 204

Das Finanzamt hat die steuerpflichtigen Fälle zu erforschen und von Amts wegen die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse zu ermitteln, die für die Steuerpflicht und die Bemessung der Steuer wesentlich sind. Es hat Angaben der Steuerpflichtigen auch zugunsten der Steuerpflichtigen zu prüfen.“26

Diese Kernvorschrift des damals erstmals einheitlich geregelten Besteuerungsverfahrens enthält einen Grundgedanken, der noch heute in § 88 AO Abs. 1 Satz 1 AO n.F. zu finden ist: Die Ermittlung des steuerlich relevanten Sachverhalts ist Sache der Finanzbehörde. Schon § 204 Satz 1 RAO besagte also, dass die Finanzbehörde den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln hat. Dabei hatte die Sachverhaltserforschung schon zur damaligen Zeit den Schutz des Steuerpflichtigen berücksichtigt, denn die Sachverhaltsermittlung durfte nicht einseitig zugunsten des Staates erfolgen, sondern es mussten auch Angaben, die zugunsten des Steuerpflichtigen wirken, überprüft werden, vgl. § 204 Satz 2 RAO. Darin kommt das Neutralitätsgebot für die Finanzbehörden in Form des sog. materiellen Wahrheitsprinzips zum Ausdruck.27

II. § 88 AO 1977

Die Abgabenordnung vom 16. März 1976, die gemäß § 415 Abs. 1 AO zum 1. Januar 1977 in Kraft getreten ist, hat den § 88 AO mit der Überschrift „Untersuchungsgrundsatz“ eingeführt.28 Damit hat § 88 AO 1977 erstmalig ausdrücklich den Untersuchungsgrundsatz einfachgesetzlich normiert und den Platz des § 204 RAO in der AO 1977 eingenommen. § 88 AO 1977 sah im Gegensatz zu § 204 RAO zwei Absätze vor. In § 88 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 AO 1977 wurden ←31 | 32→„Art und Umfang der Ermittlungen“ der Finanzbehörde überlassen. Dadurch wurde der Finanzbehörde ein sog. Verfahrensermessen eingeräumt.29 Nach § 88 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 richtete sich der Umfang der Ermittlungspflichten nach den Umständen des Einzelfalls. Hierin kommt bereits der Gedanke der Zumutbarkeit als Grenze der Sachermittlungspflicht der Finanzbehörden zum Vorschein.30 Dem materiellen Wahrheitsprinzip wurde ein eigener Absatz im § 88 Abs. 2 AO 1977 gewidmet. Die Regelung in einem eigenen Absatz stellt die besondere Bedeutung des materiellen Wahrheitsprinzips für das Besteuerungsverfahren nochmals deutlich heraus.

III. § 88 AO nach dem Steuerbürokratieabbaugesetz v. 20.12.2008

Mit dem Gesetz zur Modernisierung und Entbürokratisierung des Steuerverfahrens (kurz: Steuerbürokratieabbaugesetz) vom 20. Dezember 2008 wurde der § 88 AO 1977 um einen weiteren Abs. 3 erweitert, der wie folgt lautete:31

„(3) 1Zur Sicherstellung einer gleichmäßigen und gesetzmäßigen Festsetzung und Erhebung der Steuern kann das Bundesministerium der Finanzen durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates Anforderungen an Art und Umfang der Ermittlungen bei Einsatz automatischer Einrichtungen bestimmen. 2Einer Zustimmung des Bundesrates bedarf es nicht, soweit Verbrauchsteuern mit Ausnahme der Biersteuer betroffen sind.“

Der Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 2. September 2008 sah diesen Abs. 3 zum § 88 AO noch nicht vor.32 Der § 88 Abs. 3 AO wurde erst spät im Gesetzgebungsverfahren nach Empfehlung des Finanzausschusses eingebracht.33 Mit dieser Erweiterung des § 88 AO hat der Gesetzgeber die rechtliche Möglichkeit geschaffen, die Art und den Umfang von Sachverhaltsermittlungen durch ein automationsgestütztes Risikomanagementsystem zu bestimmen.34 Gleichzeitig wurden Steuerpflichtige mit Gewinneinkünften dazu verpflichtet, Steuererklärungen, Einnahmenüberschussrechnungen, Bilanzen und Gewinn- und Verlustrechnungen ab 2011 den Finanzbehörden elektronisch zu übermitteln.35 Der Gebrauch von Risikomanagementsystemen durch die Finanzverwaltung ←32 | 33→sollte dadurch ausgedehnt werden.36 Eine Rechtsverordnung i.S. des § 88 Abs. 3 AO hat das Bundesministerium der Finanzen37 jedoch nie erlassen.38

IV. § 88 AO n.F. durch das StModG

Die Reform des § 88 AO zum Untersuchungsgrundsatz gehört zu den Kernstücken des StModG.39 Die Vorschrift wurde erheblich erweitert40 und besteht nunmehr aus insgesamt fünf Absätzen. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass der § 88 AO n.F. mit dem StModG sehr viel länger gefasst wurde als seine Vorgängervorschrift(en). An dieser Stelle soll vorerst die Nennung der ausdrücklichen Normierung des Wirtschaftlichkeits- und des Zweckmäßigkeitsprinzips in § 88 Abs. 2 Satz 2 AO n.F. sowie des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und schließlich der bundeseinheitlichen Regelung eines Risikomanagementsystems in § 88 Abs. 5 AO n.F. ausreichen. Die Vorschrift des § 88 AO n.F. wird einer ausführlichen Untersuchung in Teil 4 dieser Arbeit unterworfen.

C. Verfassungsdogmatische Fundierung des Untersuchungsgrundsatzes im Besteuerungsverfahren

Der Untersuchungsgrundsatz findet seine Rechtfertigung als Sachaufklärungsmaxime für das Besteuerungsverfahren nicht allein in seiner einfachgesetzlichen Regelung im § 88 Abs. 1 Satz 1 AO. Er ist vielmehr aus verfassungsrechtlicher Sicht geboten. Um aber zu dieser Erkenntnis zu gelangen, müssen die verfassungsrechtlichen Grundlagen dieser Erkenntnis näher beleuchtet werden. Diese sind vor allem die Fundamentalgrundsätze der Gesetzmäßigkeit ←33 | 34→und Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Daneben führen aber auch weitere (Verfahrens-)Verfassungsgrundsätze zur verfassungsrechtlichen Gebotenheit des Untersuchungsgrundsatzes im Besteuerungsverfahren, die sich auch einem aufmerksamen Beobachter nicht auf den ersten Blick ohne Weiteres erschließen.

I. Gesetzmäßigkeit der Besteuerung, Art. 20 Abs. 3 GG (§ 85 Satz 1 Alt. 1 AO)

Die Finanzbehörden gehören dem administrativen41 Zweig der Exekutive an und sind dementsprechend gemäß Art. 20 Abs. 3 GG an Recht und Gesetz gebunden. Dieses Gesetzmäßigkeitsprinzip ist einfachgesetzlich in § 85 Satz 1 Alt. 1 AO niedergelegt.42 In seiner konkreten Ausprägung lässt sich dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit zweierlei entnehmen: Ein Abweichungsverbot und korrespondierend dazu ein Anwendungsgebot.43 Während das Abweichungsverbot besagt, dass die Finanzbehörden nicht von geschaffenen Steuertatbeständen abweichen dürfen (negative Wirkung der Gesetzmäßigkeit), lässt sich dem Anwendungsgebot entnehmen, dass die Finanzbehörden dazu verpflichtet sind, die Steuergesetze bei Erfüllen der Steuertatbestände auch konkret anzuwenden (positive Wirkung der Gesetzmäßigkeit).44 Dieses Anwendungsgebot führt dazu, dass die Finanzbehörden nicht frei entscheiden können, ob sie eine Steuer erheben oder nicht. Vielmehr besteht aufgrund des Gesetzmäßigkeitsprinzips eine Verpflichtung der Finanzbehörde, Steuern festzusetzen und beim jeweiligen Steuerpflichtigen zu erheben.45 Die Gesetzmäßigkeit der Besteuerung bedeutet also weit mehr als bloß „keine Steuer ohne Gesetz“.46

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II. Gleichmäßigkeit der Besteuerung, Art. 3 Abs. 1 GG (§ 85 Satz 1 Alt. 2 AO)

Neben dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung nennt der § 85 Satz 1 Alt. 2 AO im selben Atemzug auch den Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung.47 Seinen verfassungsrechtlichen Niederschlag findet dieser Grundsatz in Art. 3 Abs. 1 GG.48 Nach Art. 3 Abs. 1 GG sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich. Das BVerfG hat die Bedeutung des Gleichheitssatzes für das Steuerrecht in seinem sog. Zinsurteil plastisch auf den Punkt gebracht: „Der Gleichheitssatz verlangt für das Steuerrecht, dass die Steuerpflichtigen durch ein Steuergesetz rechtlich und tatsächlich gleich belastet werden“.49 Das bedeutet, dass die Gesetze unabhängig von der Person Anwendung finden, wenn der Tatbestand erfüllt ist und ebenso gerade nicht zur Anwendung kommen, wenn die jeweilige Person den Tatbestand nicht verwirklicht hat. Damit bezieht sich der Art. 3 Abs. 1 GG nicht nur auf die sog. Rechtssetzungsgleichheit durch den Gesetzgeber,50 sondern unmittelbar auch auf die Anwendung des Rechts und statuiert daneben eine sog. Rechtsanwendungsgleichheit.51 Dabei stehen die Steuerrechtsnormen und der Steuervollzug ebendieser Normen in einem besonderen Verhältnis zueinander: Die Verfahrensvorschriften für das Besteuerungsverfahren dürfen ihrem Inhalt nach eine formelle Durchsetzung von materiellen Steuernormen nicht verhindern.52

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III. Einfluss von Gesetz- und Gleichmäßigkeit der Besteuerung auf die verfassungsrechtliche Gebotenheit des Untersuchungsgrundsatzes im Besteuerungsverfahren

Vor diesem Hintergrund der Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung kann das Besteuerungsverfahren nicht von der Willkür der am Verfahren Beteiligten abhängen. Diese hätten es sonst in der Hand, die (Besteuerungs-)Grundlagen zu bestimmen und damit letztlich auch die Entscheidung der Finanzbehörde zu prädestinieren. Anders als im Zivilrecht, wo die Durchsetzung der Ansprüche unter Privaten im Vordergrund steht und damit allein private Interessen verfolgt werden, besteht an der Erhebung des korrekten Steuerbetrages ein öffentliches Interesse.53 Um diesem öffentlichen Interesse zu genügen, muss die Finanzbehörde die Grundlagen für ihre Entscheidung ermitteln, ohne dass die Beteiligten darauf einwirken können. Der Untersuchungsgrundsatz dient demnach also den verfassungsrechtlich vorgesehenen Fundamentalgrundsätzen der Gesetz-54 und Gleichmäßigkeit der Besteuerung.55 Würde man nämlich einen dem Zivilverfahren entsprechenden Verhandlungsgrundsatz zulassen, so würde dies bezüglich der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung das Abweichungsverbot unterlaufen, indem von bestehenden Steuertatbeständen abgewichen werden würde, obwohl diese erfüllt wären.56 Hinzukommen würde außerdem eine ungleiche Anwendung der Steuergesetze auf den jeweiligen Steuerpflichtigen gemessen an seinem Vortrag und unabhängig davon, ob Steuertatbestände tatsächlich erfüllt sind oder nicht. Dadurch würde der aus der Gleichmäßigkeit der Besteuerung abgeleitete Grundsatz der Rechtsanwendungsgleichheit ad absurdum geführt. Mithin ist der Untersuchungsgrundsatz verfassungsdogmatisch durch die Grundsätze von Gesetz- und Gleichmäßigkeit der Besteuerung ←36 | 37→fundiert und dient der Verwirklichung ebendieser Besteuerungsgrundsätze im Besteuerungsverfahren.57

IV. Recht auf ein faires Verfahren

Neben den Fundamentalgrundsätzen der Gesetz- und Gleichmäßigkeit der Besteuerung lässt sich die verfassungsrechtliche Gebotenheit des Untersuchungsgrundsatzes auch aus dem verfassungsrechtlich verankerten Recht auf ein faires Verwaltungsverfahren ableiten.58 Zwar wird das Recht auf ein faires Verfahren bzw. der „fair-trial-Grundsatz“ vornehmlich mit dem gerichtlichen Verfahren assoziiert. Gleichwohl hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass dieses Recht auch im Verwaltungsverfahren gelten muss.59 Grundrechtsschutz muss also nicht nur im Verfahren gewährt werden, sondern gerade auch durch das Verfahren gewährleistet sein.60 Dieser Grundsatz ist – auf nationaler Ebene61 – ein Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips aus Art. 20 Abs. 3 GG i. V. mit dem allgemeinen Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG.62 Das Recht auf ein ←37 | 38→faires (Verwaltungs-)Verfahren gibt jedem Bürger das Recht, in einem staatlich veranlassten Verfahren dem Staat „auf Augenhöhe“ gegenüber zu treten. Das bedeutet für das Besteuerungsverfahren, dass die Finanzbehörde ihre Sachverhaltsermittlung nicht allein darauf ausrichten darf, einen Wissensvorsprung zum Steuerpflichtigen aufzubauen, um dadurch ein möglichst hohes Steueraufkommen zu generieren.63 Vielmehr muss dem Steuerpflichtigen die Möglichkeit eingeräumt werden, der Finanzbehörde mit „gleich geladenen Waffen“ zu begegnen. Daher muss zwischen der Finanzbehörde und dem Steuerpflichtigen „Waffengleichheit“ bestehen.64 Die „Waffe“ des Steuerpflichtigen ist sein Mitwirkungsrecht am Besteuerungsverfahren als Ausfluss des Rechts auf Gehör.65 Auch wenn Art. 103 Abs. 1 GG dieses Recht seinem Wortlaut nach allein vor Gericht gewährt, wirkt dieses Recht auch schon im zeitlich vorangehenden (Steuer-)Verwaltungsverfahren.66 Denn das Recht auf Gehör ist ein allgemeiner Grundsatz, der neben Art. 103 Abs. 1 GG auch aus dem Rechtstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG zu entnehmen ist.67 Dies hat der BFH ausdrücklich für das Recht auf Gehör im außergerichtlichen Einspruchsverfahren festgestellt.68 Die wohl wichtigste Ausprägung des Rechts auf Gehör im Besteuerungsverfahren ist das Recht auf Anhörung, das für das Besteuerungsverfahren in § 91 AO vorgesehen ist.69

Mit Blick auf den Untersuchungsgrundsatz spiegelt sich das Recht auf ein faires Besteuerungsverfahren vor allem im § 88 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 AO n.F. wieder. Danach muss die Finanzbehörde auch die für die Beteiligten – d.h. für den Steuerpflichtigen – günstigen Umstände berücksichtigen. Die Finanzbehörde ist ←38 | 39→damit von Gesetzes wegen zur Neutralität bei der Ermittlung des steuerrelevanten Sachverhalts verpflichtet. Die Finanzbehörde ist als staatliche Behörde zwar „auf Seiten des Staates“, sie darf dabei aber nicht einseitig-fiskalisch handeln. Sie darf sich gleichzeitig auch nicht allein auf die Seite des Steuerpflichtigen bei der Ermittlung des Sachverhalts stellen. Dadurch wird von vornherein von Gesetzes wegen sichergestellt, dass die Ermittlung des Sachverhalts durch die Finanzbehörde nicht monokausal zugunsten des Fiskus ausfallen darf. Diese Sicherheit vermittelt der Untersuchungsgrundsatz, indem er durch eine Sachverhaltsermittlung ex officio eine objektive bzw. neutrale Ermittlung des Sachverhalts gewährleistet, die zudem auch Umstände, die zugunsten des Steuerpflichtigen sprechen, berücksichtigen muss und zum anderen die Mitwirkung des Steuerpflichtigen zulässt.70 Der Untersuchungsgrundsatz dient somit ebenfalls einem fairen Besteuerungsverfahren und ist verfassungsrechtlich auch aufgrund des Rechts auf ein faires Verfahren geboten.

V. Rechtsschutzgarantie, Art. 19 Abs. 4 GG

Die Geltung des Untersuchungsgrundsatzes sowohl für das Verwaltungsgerichtsverfahren71 als auch für das Finanzgerichtsverfahren72 lässt sich unter anderem auf Art. 19 Abs. 4 GG zurückführen.73 Jedoch stellt die Rechtsschutzgarantie auch für den Untersuchungsgrundsatz im Besteuerungsverfahren eine verfassungsrechtliche Stütze dar.74 Dies lässt sich insbesondere damit begründen, dass der Steuerpflichtige sein rechtliches Vorgehen gegen die Finanzbehörde auf die von derselben ermittelten Tatsachen stützen und planen können muss. So muss sich aus dem Besteuerungsverfahren heraus die vollständige Grundlage für den Rechtsschutz des Steuerpflichtigen ergeben. Dies wird allein durch eine Sachverhaltsermittlung ex officio gewährleistet, die auch die für den Steuerpflichtigen günstigen Umstände ermittelt und bei der Verwaltungsentscheidung ←39 | 40→berücksichtigt. Daher entfaltet der Art. 19 Abs. 4 GG und damit der Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes nicht allein seine Wirkungen im Gerichtsverfahren,75 sondern vielmehr bereits auch schon im Verwaltungsverfahren.76 Insoweit strahlt der Art. 19 Abs. 4 GG auf das Verwaltungsverfahren, das dem Gerichtsverfahren vorgeht, aus.77 Dieser Wertung steht – entgegen Spilker78 – auch nicht der Wortlaut des Art. 19 Abs. 4 GG entgegen. Zwar stellt der Wortlaut des Art. 19 Abs. 4 GG allein auf den „Rechtsweg“ ab, woraus man eine alleinige Geltung des Art. 19 Abs. 4 GG für das Gerichtsverfahren ablesen könnte. Gleichwohl verkennt ein einseitiger Blick auf den Begriff des Rechtsweges,79 dass ein effektiver Rechtsschutz im unmittelbaren Zusammenhang zu dem das Gerichtsverfahren zeitlich und systematisch vorgehendem Verwaltungsverfahren steht80 und entscheidend von der Ausgestaltung dieses Vorverfahrens abhängt. So kann der Sinn und Zweck des Art. 19 Abs. 4 GG, der einen effektiven Rechtsschutz gewährleisten soll, eine Vorwirkung in das behördliche Vorverfahren gebieten. Auch die Verfassung ist dem allgemein anerkannten Auslegungskanon zugänglich, so dass nicht bereits an dem Wortlaut eines Verfassungsartikels die Interpretation ihr Ende findet.81 Vielmehr ist auch der Sinn und Zweck eines Verfassungsartikels heranzuziehen. Anforderungen an die konkrete Ausgestaltung des Verwaltungsverfahrens können sich demzufolge auch aus einer Vorwirkung des Art. 19 ←40 | 41→Abs. 4 GG ergeben.82 So wäre es etwa dem Steuerpflichtigen nicht zumutbar, wenn die Finanzbehörden allein die für sie günstigen Umstände ermitteln würden mit dem nüchternen Verweis dem Steuerpflichtigen zugewendet, diesem stehe ohnehin der Rechtsweg frei.83 Denn Sinn und Zweck des Rechtsschutzverfahrens ist es, dem Steuerpflichtigen einen Rechtsschutz zu gewähren, nicht aber die Finanzämter zu entlasten.84 Ein dem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz genügendes (Verwaltungs-)Verfahren muss die Sachverhaltserforschung auf den gesamten Sachverhalt erstrecken. Eine unvollständige Sachverhaltsermittlung hat einen unvollständigen und dadurch uneffektiven Rechtsschutz zur Folge.85 Folgerichtig dient der Untersuchungsgrundsatz der Verwirklichung des Art. 19 Abs. 4 GG bereits im Stadium des Besteuerungsverfahrens und ist durch ebendiesen verfassungsrechtlich geboten.

VI. Sozialstaatsprinzip, Art. 20 Abs. 1 GG

Schließlich wird auch das Sozialtstaatsprinzip bei der Frage nach den verfassungsrechtlichen Wurzeln des Untersuchungsgrundsatzes herangezogen.86 Dieses Prinzip basiert verfassungsrechtlich auf Art. 20 Abs. 1 GG. Der konkrete Inhalt des Sozialstaatsprinzips lässt sich nicht unmittelbar aus der Verfassung entnehmen.87 Jedoch ist zu konstatieren, dass aus dem Sozialstaatsprinzip lediglich eine allgemeine Fürsorgepflicht des Staates entspringt, die zur Chancengleichheit eines jeden Staatsbürgers beitragen soll.88 Aus dem Sozialstaatsprinzip lässt sich daher keine zwingende verfassungsrechtliche Gebotenheit des Untersuchungsgrundsatzes im Besteuerungsverfahren entnehmen. Zwar kann im Einzelnen im Besteuerungsverfahren die Sachverhaltsermittlung auch der Herstellung einer gewissen Chancengleichheit dienen. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn von den Finanzbehörden etwa bürgergünstige Umstände ermittelt werden. Dennoch lässt sich der Untersuchungsgrundsatz nach richtiger Ansicht ←41 | 42→nicht verfassungsrechtlich zwingend auf dem Sozialstaatsprinzip stützen.89 Nur im Verwaltungsverfahren im Sozialrecht dient der Untersuchungsgrundsatz auch unmittelbar der sozialen Gerechtigkeit gegenüber den besonders hilfsbedürftigen Bürgern.90

VII. Zwischenergebnis

Der Untersuchungsgrundsatz ist im Besteuerungsverfahren verfassungsdogmatisch zwingend geboten. In erster Linie dient der Untersuchungsgrundsatz der Verwirklichung der Gleichmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit der Besteuerung im Besteuerungsverfahren. Die Tatsache, dass i.R. des Untersuchungsgrundsatzes auch die für den Steuerpflichtigen vorteilhaften Umstände ex officio zu ermitteln sind, führt dazu, dass das Recht auf ein faires Verfahren auch zur Gebotenheit des Untersuchungsgrundsatzes von Verfassungs wegen angeführt werden muss. Darüber hinaus legt die hoheitliche Sachverhaltsermittlung im Besteuerungsverfahren auch den Boden für ein daran anschließendes gerichtliches Rechtsschutzverfahren, so dass der Untersuchungsgrundsatz auch wegen dem Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 GG aus Sicht der Verfassung zwingend im Besteuerungsverfahren geboten ist. Insoweit strahlt Art. 19 Abs. 4 GG bereits auf das Besteuerungsverfahren aus. Das Sozialstaatsprinzip kann hingegen nicht als Grundlage für die Frage nach der verfassungsrechtlichen Fundierung des Untersuchungsgrundsatzes im Besteuerungsverfahren herangezogen werden. Zu Recht wird daher der Untersuchungsgrundsatz als „fundamentales Prinzip des Besteuerungsverfahrens“ angesehen.91

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D. Abgrenzung zu anderen Sachaufklärungs- und Verfahrensmaximen

Neben dem Untersuchungsgrundsatz, der vornehmlich im Bereich des öffentlichen Rechts anzutreffen ist,92 bestehen noch weitere Sachaufklärungs- und Verfahrensmaximen, die von dem Untersuchungsgrundsatz zu unterscheiden sind. Diese weiteren Sachaufklärungs- und Verfahrensmaximen werden im Folgenden vom Untersuchungsgrundsatz abgegrenzt.

I. Verhandlungsgrundsatz (Beibringungsgrundsatz)

Der Verhandlungsgrundsatz ist das Gegenstück zum Untersuchungsgrundsatz und gilt im Zivilverfahren.93 Anders als beim Untersuchungsgrundsatz im Besteuerungsverfahren – wegen § 88 Abs. 2 Satz 1 a.E. AO n.F. – ist es den Parteien hierbei überlassen, die Tatsachen in den Prozess einzuführen.94 Daher sind auch – anders als im Besteuerungsverfahren – die Parteien im Zivilprozess Herren des Verfahrens.95 Der Verhandlungsgrundsatz kann im Besteuerungsverfahren wegen eines Verstoßes gegen Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung nicht gelten.96 Denn bei der Geltung des Verhandlungsgrundsatzes würde die Anwendung des tatsächlich erfüllten Steuertatbestandes davon abhängen, ob der Beteiligte – und damit der Steuerpflichtige – den zum Steuertatbestand gehörigen Lebenssachverhalt adäquat und zutreffend darstellt. Dies wird ein um Steuerersparnis bemühter Steuerpflichtiger jedoch nur bei solchen Steuertatbeständen tun, die zu seinen Gunsten die Steuerlast mindern. Dies wäre ein eindeutiger Verstoß gegen das aus dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit abgeleitete Anwendungsgebot und damit eine Verletzung des Fundamentalprinzips der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung. Folgerichtig kann auch nicht Weber gefolgt werden, der den Verhandlungsgrundsatz als „verfahrenszweckadäquat“ für das Besteuerungsverfahren ansieht.97 Ferner würde eine vom Parteienvortrag abhängende Anwendung der Steuergesetze dazu führen, dass die Steuergesetze ←43 | 44→nicht mehr gleichmäßig angewendet würden. Mit der Anerkennung des Verhandlungsgrundsatzes im Besteuerungsverfahren ginge daher auch ein Verstoß gegen die Rechtsanwendungsgleichheit Hand in Hand. Schließlich kommt hinzu, dass das Besteuerungsverfahren der Durchsetzung öffentlicher Interessen dient, wohingegen im Zivilprozess private Interessen verfolgt werden.98

II. Legalitätsprinzip

Das Legalitätsprinz99 weist eine gewisse Nähe zum Untersuchungsgrundsatz auf, ist jedoch eine von ihr zu unterscheidende Verfahrensmaxime. Durch das Legalitätsprinzip wird die Finanzbehörde verpflichtet, Sachverhaltsermittlungen zu betreiben,100 wohingegen der Untersuchungsgrundsatz das Mittel zur Verwirklichung der Sachverhaltsermittlung darstellt.101 Das Legalitätsprinzip ist daher auch wesentliches Prinzip des Besteuerungsverfahrens.102 Sie lässt sich normativ dem § 85 Satz 1 und 2 AO zuordnen.103 Zusammen mit dem Untersuchungsgrundsatz dient das Legalitätsprinzip der Verwirklichung der Gesetz- und Gleichmäßigkeit der Besteuerung und ist daher als ergänzendes Prinzip zum Untersuchungsgrundsatz anzusehen.104

III. Offizialmaxime

Auf den ersten Blick erscheint der Begriff des Untersuchungsgrundsatzes deckungsgleich mit der Offizialmaxime zu sein. Das ist jedoch nicht der Fall. Es handelt sich wiederum um eine von dem Untersuchungsgrundsatz zu unterscheidende Verfahrensmaxime.105 Die Offizialmaxime betrifft die ←44 | 45→Verfahrenseinleitung sowie den Ablauf des Verfahrens, wobei der Untersuchungsgrundsatz jeweils für diese Bereich durchweg gilt. Für das Besteuerungsverfahren gilt grundsätzlich die Offizialmaxime.106 Ausnahmsweise gilt die Offizialmaxime jedoch nicht, wenn es sich um ein Antragsverfahren handelt.107

IV. Opportunitätsprinzip

Das Opportunitätsprinzip schließlich stellt das Gegenteil zum Legalitätsprinzip dar. Hierbei liegt die Entscheidung über die Verfahrenseinleitung im pflichtgemäßen Ermessen der Behörde.108 Betrachtet man allein den Wortlaut des § 86 Satz 1 AO, so legt die Vorschrift ein Opportunitätsprinzip für die Finanzbehörde im Besteuerungsverfahren nahe. Namentlich das Entschließungsermessen wird nach dem Wortlaut dieser Vorschrift den Finanzbehörden eingeräumt.109 Dies hätte zur Folge, dass die Finanzbehörden – in den Grenzen der Ermessensfehlerlehre110 – in jedem Einzelfall entscheiden könnten, ob sie nun eine Besteuerung im Einzelfall vornehmen oder eben nicht. Jedoch wäre eine solche opportunistische Vorgehensweise der Finanzbehörden nicht mit den Grundsätzen der Gesetz- und Gleichmäßigkeit der Besteuerung vereinbar.111 Insbesondere würde dies dem bereits angesprochenen öffentlichen Interesse an der Besteuerung widersprechen.112 Folgerichtig ist daher das Legalitätsprinzip für das Besteuerungsverfahren kennzeichnend. Es existieren gleichwohl Ausnahmefälle, in denen das Opportunitätsprinzip gilt, und zwar u.a. im Haftungsverfahren.113

Details

Seiten
390
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783631859520
ISBN (ePUB)
9783631859537
ISBN (MOBI)
9783631859544
ISBN (Hardcover)
9783631857199
DOI
10.3726/b18705
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Juni)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 390 S., 13 s/w Abb.

Biographische Angaben

Emran Sediqi (Autor:in)

Emran Sediqi studierte Rechtswissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum. Er war als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Steuerrecht und Steuervollzug (Kompetenzzentrum Steuerrecht) von Prof. Dr. Roman Seer tätig, wo auch seine Promotion erfolgte.

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Titel: Wirtschaftlichkeit, Zweckmäßigkeit und Risikomanagement – Der Untersuchungsgrundsatz im Lichte des § 88 AO n.F.
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