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SprachGefühl

Interdisziplinäre Perspektiven auf einen nur «scheinbar» altbekannten Begriff

von Miriam Langlotz (Band-Herausgeber:in) Nils Lehnert (Band-Herausgeber:in) Susanne Schul (Band-Herausgeber:in) Matthias Weßel (Band-Herausgeber:in)
©2015 Sammelband 325 Seiten

Zusammenfassung

SprachGefühl – wie lassen sich die Konstituenten dieses Kompositums zusammendenken? Der Band eröffnet interdisziplinäre Perspektiven auf diese Fragestellung: Ist Sprachgefühl überhaupt ein Gefühl? Woran erkennt man, ob jemand ein Gefühl für Sprache hat? Wie lässt sich Gefühl eigentlich in Worte bzw. Sprache fassen? Lassen sich Gefühle lesen? Gibt es eine textspezifische Gefühlssprache? Wie werden Gefühle durch Sprache erzeugt? In den drei Konfigurationen Gefühl für Sprache, Gefühl in Sprache, Gefühl durch Sprache spürt der Sammelband diesen Fragen in zwölf Beiträgen nach und zeigt, dass es sich beim SprachGefühl eben nur um einen scheinbar altbekannten Begriff handelt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Vorwort
  • SprachGefühl – eine Einleitung
  • SprachGefühl – Gefühl für Sprache
  • SprachGefühl – Gefühl in Sprache
  • SprachGefühl – Gefühl durch Sprache
  • Literaturverzeichnis
  • Sekundärliteratur
  • Internetquellen
  • SprachGefühl – Gefühl für Sprache
  • Ist das Sprachgefühl ein Gefühl?
  • 1. Einleitung
  • 2. Bedeutungsvarianten des Begriffs „Gefühl“
  • 3. Konzeptualisierung von Gefühlen, Empfindungen und Emotionen
  • (1) Emotionen sind eine spezielle Form des Erlebens
  • (2) Emotionen sind unwillkürliche, automatisierte und unmittelbare Reaktionen
  • (3) Emotionen haben die Funktion von bewertenden Stellungnahmen
  • 4. Sprachgefühl
  • 5. Andere Definitionen – Gemeinsamkeiten und Differenzen
  • 6. Ist das Sprachgefühl ein Gefühl?
  • Literaturverzeichnis
  • Internetquelle
  • Ein Gefühl für Texte? Eine Untersuchung der argumentativen Textgestaltungsfähigkeiten von Schülern
  • 1. Einleitung
  • 2. Sprachgefühl als Text(sorten)gefühl
  • 3. Ein Gefühl für argumentative Texte
  • 4. Untersuchung literaler Prozeduren der Argumentation
  • 5. Interpretation der Ergebnisse
  • Literaturverzeichnis
  • Internetquelle
  • „Eine Sprache, die Nichtengländer für englisch halten“ – Zum literarischen Sprachwechsel der Exilautoren Arthur Koestler und Robert Neumann
  • 1. Einleitung
  • 2. Biographische Hintergründe
  • 3. Spracherwerb und Gründe für den Sprachwechsel
  • 4. Eigenwahrnehmung des literarischen Sprachgefühls
  • 5. Drittwahrnehmung des Sprachgefühls im persönlichen Umfeld
  • 6. Drittwahrnehmung des Sprachgefühls durch die Literaturkritik
  • 7. Fazit
  • Literaturverzeichnis
  • Primärliteratur
  • Sekundärliteratur
  • (K)ein Gefühl für Sprache. Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Erforschung von Sprache bei Primaten
  • 1. Kein Gefühl für Sprache? – Einwände gegen den Spracherwerb bei Primaten
  • 1.1 Erster Einwand: Ungenaue Beobachtung und/oder Aufzeichnung des Affenverhaltens
  • 1.2 Zweiter Einwand: Der Einsatz von Analogieschlüssen zur Erklärung des Affenverhaltens
  • 1.3 Dritter Einwand: Die Notwendigkeit der Reproduzierbarkeit wissenschaftlicher Daten
  • 1.4 Vierter Einwand: Das Ideal der Sparsamkeit beim Erklären des Affenverhaltens
  • 1.5 Fünfter Einwand: Unbeabsichtigte Beeinflussung des Affenverhaltens
  • 2. Grenzen des Möglichen?
  • 3. Zwinkern, Zucken, Parodieren und Proben – Dichte Beschreibungen als Alternative
  • 4. Resümee
  • Literaturverzeichnis
  • Internetquelle
  • SprachGefühl – Gefühl in Sprache
  • Zusammengehörigkeit als sprachlich konstruiertes Gefühl. Das Beispiel der peruanischen Identität
  • 1. Emotionen und Sprache
  • 1.1 Die diskurslinguistische Sicht auf Sprache
  • 1.2 Emotion und Kognition
  • 2. Nationale Identität und Emotionen
  • 2.1 Stolz als kollektive Emotion
  • 3. Die peruanische Identität
  • 3.1 Der peruanidad-Diskurs im Internet – bisherige Ergebnisse
  • 4. Datengrundlage
  • 5. El orgullo de ser peruano
  • 5.1 Allgemeines
  • 5.2 Intensität von Stolz
  • 5.3 Perspektivierung
  • 5.4 Aufrufe zu Stolz
  • 5.5 Gründe, stolz zu sein
  • 5.6 Verbindungen zur peruanidad
  • 5.7 Kritische Reflexionen zum peruanischen Stolz
  • 6. Zusammenfassung und Diskussion
  • Literaturverzeichnis
  • Internetquellen
  • Korpus und korpuslinguistische Tools
  • Von „Frustrationserlebnissen gegenüber universaler Syntax“ – Emotionen in wissenschaftlichen Texten
  • 1. Einleitung
  • 2. Sprache und Einstellung
  • 3. Sprache und Emotion
  • 4. Emotionen in der Wissenschaftssprache
  • 5. Frust und Ärger bei der Auseinandersetzung mit der Konstruktionsgrammatik
  • 6. Wissenschaftssprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte?
  • 7. Fazit
  • Literaturverzeichnis
  • Primärliteratur
  • Internetquellen
  • Sekundärliteratur
  • Internetquellen
  • Gefühle jenseits der Sprache? Positionen der germanistischen Mediävistik am Beispiel von Nibelungenlied und Klage
  • 1. Auf Sprache bezogene Aspekte der historischen Emotionsforschung
  • 2. Gattungsspezifische Effekte emotionaler Über- und Untercodierung im Nibelungenlied
  • 3. Emotionale Rezeptionsweisen
  • 4. Fazit
  • Literaturverzeichnis
  • Primärliteratur
  • Sekundärliteratur
  • Internetquellen
  • (Gefühlte?) Wirklichkeit durch Sprache – Theologische Reflexionen auf Wirklichkeit, die durch Sprache entsteht
  • 1. Einführendes zur Sprechakttheorie
  • 2. Diskussion um das Wirklichkeitsverständnis
  • 3. Zur Wirklichkeit religiöser Sprechakte
  • Literaturverzeichnis
  • SprachGefühl – Gefühl durch Sprache
  • Gefühlvoll oder voller Gefühl? Literarische Liebesentwürfe und deren Sprachgewand aus einer diachronen Perspektive
  • 1. In Sachen Liebe – zwischen Lebenswelt und Literatur
  • 2. Sprache der Gefühle, Gefühlssprache, Gefühle durch Sprache: zur Analytik
  • 2.1 Autor – Text – Leser/Hörer emotional reloaded
  • 2.2 Das ‚Wie‘ und das ‚Was‘ der Liebesentwürfe im Wechselspiel zwischen ‚gefühlvoll‘ und ‚voller Gefühl‘
  • 3. „so werden wir zwoͤi ein“: Gefühlssprachen in Mechthilds von Magdeburg das Fließende Licht der Gottheit
  • 3.1 „Eya herre, minne mich sere“: Das Einswerden als ‚gefühlvolles‘ Sprachprinzip
  • 3.2 „Die schrift dis buͤches ist gesehen, gehoͤret unde bevunden an allen lidern“: Authentizitäts- und Autorisierungssignale eines Sprechens ‚voller Gefühl‘
  • 3.3 „Ich wil varen minnen!“: Formen des dialogischen Sprechens ‚voller Gefühl‘
  • 4. „Solange du Krämpfe kriegst, vögeln wir im Stehen.“ Liebesentwurf und Gefühlssprachkleid der Erotik in Wilhelm Genazinos Roman Die Liebesblödigkeit
  • 4.1 „Auch das Überwältigungsgefühl beim Samenabgang ist nicht so stark wie früher.“ ‚Gefühllose‘ Darstellungsstrategien erotischer Liebe: das ‚Wie‘
  • 4.2 „Ich kann die dauerhafte Liebe zu zwei Frauen nur empfehlen.“ Liebesentwürfe und -diskurse ‚voller‘ und ‚ohne Gefühl‘: das ‚Was‘
  • 4.3 „Das Wie des Was“ – Zusammenführendes und emotionsanalytisch Bilanzierendes
  • 5. ‚Gefühlvoll/gefühllos‘ und/oder ‚voller/ohne Gefühl‘ – ein Fazit
  • Literaturverzeichnis
  • Primärliteratur
  • Sekundärliteratur
  • Internetquellen
  • Gefühl als Text? Möglichkeiten und Grenzen literaturwissenschaftlicher Emotionsforschung. Positionen der Neueren deutschen Literaturwissenschaft
  • Literaturverzeichnis
  • 108 Leichen und kaum Mitgefühl? Zur ästhetischen Erfahrung in Roberto Bolaños 2666/La parte de los crímenes
  • 1. Identifikationsmodi nach Hans Robert Jauß
  • 2. Von Parvenus und Disparues
  • 3. Mögliche Welten, mögliche Zweifel
  • 4. Die Nöte des wahren Lesers
  • Literaturverzeichnis
  • Primärliteratur
  • Sekundärliteratur
  • Emotionssemantik oder Emotionsstilistik? Zur rhetorischen Theorie und Analytik des Emotionalen am Beispiel eines Einstein-Briefs
  • 1. Emotion
  • 2. Emotion in der Rhetoriktheorie
  • 3. Emotionalisierung ist kein Proprium der Rhetorik
  • 4. Der Oppressions-Ansatz als emotionaler Sonderweg der Persuasion
  • 5. Der Auxiliar-Ansatz der rhetorischen Affektenlehre
  • 6. Analyse eines Stil-Reliefs im Dienst rhetorischer Emotionalisierung
  • 6.1 Die Geschichte eines Briefs von Albert Einstein
  • 6.2 Kalküle für eine erste Briefversion
  • 6.3 Kalküle für eine zweite Briefversion
  • 7. Emotion signifizierende Strukturen oder Emotionsstil?
  • 8. Exkurs: Kodierte Emotionsfiguren bei Bernard Lamy (1675)
  • 9. Textstrategie und Aufbau einer Emotionssemantik im Text Einsteins
  • Literaturverzeichnis
  • Autoren

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Vorwort

SprachGefühl – unter diesem ausdrücklich mehrdeutig angelegten Leitthema fand im Wintersemester 2012/2013 eine interdisziplinäre Veranstaltungsreihe an der Universität Kassel statt, entwickelt und ausgerichtet vom Geistes- und Kulturwissenschaftlichen Kolleg (GeKKo) des Fachbereichs 02. Als begrifflicher ‚Opener‘ bot das aus dem alltäglichen Sprachgebrauch herausgehobene SprachGefühl zweierlei: zum einen die Fokus­sierung auf die gemeinsame Basis der im GeKKo vertretenen Wissenschaften, den Text, zum anderen denjenigen freien Spielraum, der für den interdisziplinären Zugang des Kollegs zentral und charakteristisch ist. Denn im Wechselspiel von ‚Sprache‘ und ‚Gefühl‘ treten sprachlich gefasste und textliche Zeugnisse unterschiedlicher Zeiten, Kontexte und Kulturräume als ‚das Dritte des Vergleichs‘, als Bezugspunkt für gemeinsame Analysefragen auf den Plan.

Die Einladungen für Beiträge zu dieser Veranstaltungsreihe ergingen an ausgewählte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher disziplinärer Ausrichtung, die – nach dankenswerter Zusage – von ihrer jeweiligen Position aus den Untersuchungsgegenstand SprachGefühl höchst variantenreich analytisch per­spektivierten. Damit war der Grundstein gelegt für anregende, interdisziplinäre, kontroverse Diskussionen, die auf die fachwissenschaftlichen Auseinandersetzungen folgten und das Interesse (nicht nur) der Kollegiatinnen und Kollegiaten zu wecken verstanden. Den Vortragenden, die nun auch zu den Autorinnen und Autoren des vorliegenden Sammelbands zählen, möchten wir für ihre Bereitschaft danken, sich mit uns in einen solchen interdisziplinären Dialog begeben zu haben, und für ihren Einsatz, diesem Austausch durch ihre hier versammelten Beiträge weiter Vorschub zu leisten. Ihre Aufsätze werden ergänzt durch Artikel von nachwuchswissenschaftlichen Kollegiatinnen und Kollegiaten, die sich dem Gegenstand aus der Perspektive ihres jeweiligen Forschungsschwerpunkts zuwenden, und die den weiten Leitbegriff immer wieder neu auf seine ergiebige Vielgestaltigkeit hin abklopfen.

Das GeKKo ist als Geistes- und Kulturwissenschaftliches Kolleg nicht an ein bestimmtes Forschungsthema gebunden und verfolgt in seiner Offenheit das Ziel, die interdisziplinären Interessen und Kooperationen der Mitglieder zu fördern. Derzeit sind im Kolleg ca. dreißig Doktorandinnen und Doktoranden, Postdocs sowie Professorinnen und Professoren mit mannigfachen Forschungsschwerpunkten aktiv; sie alle entstammen den im Fachbereich angesiedelten Disziplinen Sprach- und Literaturwissenschaften der Anglistik/Amerikanistik, Germanistik und Romanistik, der Sprach- und Literaturdidaktik sowie den Theologien und der Philosophie. Das Buch, das Sie in Händen halten, ist dabei durch die Mitarbeit und Unterstützung vieler Menschen zustande gekommen, denen unser Dank gilt: Zunächst möchten wir uns ausdrücklich bei den Mitgliedern des GeKKo-Leitungsgremiums, bei den Kollegiatinnen und Kollegiaten und bei Kolleginnen und Kollegen bedanken; das gemeinsame Interesse am interdisziplinären Austausch hat erst den Diskussions- und Organisationrahmen für die Veranstaltungsreihe eröffnet und mithin SprachGefühl druckreif gemacht.

Seit 2010 unterstützt das GeKKo den wissenschaftlichen Nachwuchs an der Universität Kassel, indem es das Angebot und die Gelegenheit bietet, selbstständig Tagungen und Weiterbildungen zu organisieren und eigenverantwortlich Projekte zu realisieren. Dass diese wundervoll fruchtbare Unterstützung geschaffen wurde, ← 7 | 8 → verdanken wir vor allem dem Engagement unserer Sprecherin, Professorin Angela Schrott, und unserem ehemaligen Sprecher, Professor Daniel Göske. Ihnen und auch unserem aktuellen Sprecher, Professor Paul-Gerhard Klumbies, gebührt unser herzlicher Dank dafür, dass sie uns auf diese Weise fördern: individuell, intellektuell, finanziell. Für die Aufnahme des vorliegenden Sammelbands in die Reihe MeLiS. Medien – Literaturen – Sprachen in Anglistik/Amerikanistik, Germanistik und Romanistik des Peter Lang Verlags danken wir den Herausgeberinnen und Herausgebern. Den Mitgliedern des Kollegs, die uns bei der Organisation, Moderation und Diskussion während der Veranstaltungsreihe zur Seite standen, sei namentlich besonders gedankt: Annelie Krebs, Diana Ernst, Paul Reszke und Martin Böhnert. Das Lektorat wurde von Anna Lina Dux übernommen, der wir für ihren fachkundigen Einsatz ebenfalls herzlich danken.

Miriam Langlotz, Nils Lehnert, Susanne Schul und Matthias Weßel

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Miriam Langlotz/Nils Lehnert/Susanne Schul

SprachGefühl – eine Einleitung

,Sprachgefühl‘ – ein Ausdruck mit einer scheinbar offensichtlichen Bedeutung. Vermutlich hat jeder ein Gefühl1 dafür, was darunter zu verstehen ist: Im allgemeinen Sprachgebrauch handelt es sich dabei um ein unreflektiertes Wissen, das intuitiv zur Bewertung von sprachlichen Äußerungen und deren Richtigkeit oder Akzeptabilität herangezogen wird. Diese Einschätzung erwächst aus der subjektiven Sicht der eigenen sprachlichen Erfahrung und bezieht sich auf die Auseinandersetzung mit eigenen oder fremden Sprachfähigkeiten, die bspw. zu folgenden Aussagen führen können: „Nach meinem Sprachgefühl ist dieser Satz richtig“ oder: „Mein Sprachgefühl sagt mir, diese Formulierung passt in diesem Kontext nicht“. Mit dem Begriff verbindet sich dementsprechend eine Art sprachlicher Bewertungsinstanz, welche die Übereinstimmung mit gelernten und vertrauten sprachlichen Normen abgleicht, abwägt, wertet und auf dieser Basis das hiervon Abweichende als störend, unverständlich oder unpassend beurteilt.

Dem von Jacob und Wilhelm Grimm initiierten Deutschen Wörterbuch zufolge findet sich diese Komposition von ‚Sprache‘ und ‚Gefühl‘ im Sinn einer subjektiven ‚Empfindung‘ sprachlicher Eignung erstmals vor etwa 200 Jahren, als der Pädagoge und Sprachforscher Joachim Heinrich Campe in der Vorrede zu seinem WIllustrationrterbuch der Deutʃchen Sprache selbstbewusst auf sein eigenes „SprachgefIllustrationhle“ verweist:

In dem Innern der Artikel und in dem Zuʃammenhange der Rede, wo es nicht mehr auf die Verfachung der aufgefIllustrationhrten WIllustrationrter, ʃondern auf die ErklIllustrationrung derʃelben und auf die Auseinanderʃetzung ihrer Bedeutungen ankam, glaubte der Verfaʃʃer dieʃes WIllustrationrterbuches, und ich denke mit Recht, eben ʃo gut, als jeder andere Schriftʃteller, befugt zu ʃein, ʃeinem eigenen SprachgefIllustrationhle zu folgen […].2

Eine solche produktionsästhetische Auseinandersetzung mit Sprachzeugnissen, mit der die Beurteilung sprachlicher Befähigung einhergeht und die auf eine kontextgebundene Erwartungshaltung von Produzenten und Rezipienten hindeutet, weist auch das Deutsche Wörterbuch unter dem Lemma „Sprachgefühl“ aus: ← 9 | 10 →

im sprachgefühl des einzelnen menschen oder einer zeit ist die einzige wirkliche lebensquelle der sprache. ... das sprachgefühl hat übrigens mehr als eine gestalt. es erhebt sich zum theil aus sich selbst heraus zum sprachbewusztsein, anderntheils bleibt es aber, und zwar zum gröszeren theile im bloszen sprachinstinct stecken.3

Zum einen bezieht sich diese Positionsbestimmung auf die bereits aufgerufene subjektive Empfindung, die sich an den Begriff grundsätzlich zu binden scheint, sie eröffnet zum anderen aber auch eine Wirkfähigkeit, die über den Einzelnen hinausreicht und auf eine ganze „zeit“ ausstrahlt. Während sich das „sprachgefühl“ zwar durch das einzelne Subjekt in Form eines unmittelbaren „sprachinstinct[s]“ konkretisiert, erweist es sich gleichzeitig ebenso als ein intersubjektives Konzept eines „sprachbewusztsein[s]“, das kulturhistorischen wie sozialen Bedingungen unterliegt.

Der vorliegende Sammelband widmet sich zunächst genau diesen im Alltagsverständnis präsenten Begriffsassoziationen mit ‚Sprachgefühl‘. Er tritt jedoch auch noch einmal bewusst einen Schritt von diesem etablierten Begriffsverständnis zurück und wendet sich der Bedeutungsvielfalt und den semantischen Möglichkeitsräumen zu, die sich aus der Kombination beider Begriffe – ‚Sprache‘ und ‚Gefühl‘ – ergeben können. Offensichtlich ist, dass es sich bei ,Sprachgefühlʻ um ein Kompositum handelt, das für einen irgendwie gearteten Zusammenhang zwischen ‚Sprache‘ und ‚Gefühl‘ einsteht. Mit diesem Zusammenhang setzt sich der Sammelband im Folgenden aus interdisziplinären, vor allem geistes- und kulturwissenschaftlich geprägten Perspektiven kritisch auseinander, indem er jene Bedeutungsvarianzen anhand verschiedenartiger Texte auslotet, so dass ein neuer Blick auf den nur scheinbar altbekannten Begriff SprachGefühl geworfen wird. Um die Mannigfaltigkeit dieses Kunst-Kompositums sichtbar zu machen, haben die Herausgeberinnen und Herausgeber für diesen Band die wortinterne Großschreibung typographisch als visuellen Teaser gewählt, der schriftsprachlich markiert, wann über die Bedeutung von ‚Sprachgefühl‘ im engeren Sinne hinausgegriffen wird.

Um sich diesem semantischen Möglichkeitsraum anzunähern und der Mehrdeutigkeit eines Zusammenspiels von ‚Sprache‘ und ‚Gefühl‘ auf die Spur zu kommen, wenden wir uns aber zunächst noch einmal dem ‚Ursprung‘ des Ausdrucks zu, wobei sich der Fokus darauf richtet, wie Bedeutung durch Kompositabildung entsteht. Komposition bezeichnet den Prozess, bei dem zwei wortfähige Konstituenten zu einem komplexen Wort zusammengesetzt werden, und damit eine Bedeutung für etwas geschaffen wird, das sich nicht mit einem ‚einfachen‘ Wort bezeichnen ließe. Damit dieser Prozess funktioniert, muss zwischen den zu kombinierenden Begriffen bereits eine gewisse semantische Kompatibilität bestehen. Da das Verhältnis der Konstituenten innerhalb eines Kompositums aber nicht so explizit ist, wie dies in einer Wortgruppe oder einem Satz der Fall wäre, bleibt im Prozess der Relationierung beider Konstituenten immer eine gewisse semantische Offenheit bestehen.4 Hieraus ergeben sich mehrere Möglichkeiten der Bedeutungsbildung, deren Verschiedenartigkeit u. a. auf das jeweilige Verhältnis zurückzuführen ist, in dem sich Erst- und Zweitglied des Kompositums zueinander befinden. Ein Beispiel: Verena Klos stellt als Muster die Determinativkomposita Hundekuchen und Apfelkuchen einander gegenüber, denen das gleiche Zweitglied bzw. Grundwort ‚Kuchen‘ gemeinsam ist. ← 10 | 11 → Während es sich bei einem Apfelkuchen um einen Kuchen aus Äpfeln handelt, ist mit einem Hundekuchen ein solcher für Hunde gemeint.5 Wie der Blick auf diese Bezugsformen verdeutlicht, gehört zum Verstehen eines bestimmten Kompositums immer auch ein kulturelles Sprach- und Vorwissen dazu.6

Um diejenigen potentiellen Bedeutungsräume zu erschließen, die das Kunstwort SprachGefühl eröffnet, werden nun die semantischen Möglichkeiten bei der Kompositabildung genauer unter die Lupe genommen. Grundsätzlich kann zwischen den Determinativ- und den Kopulativkomposita in ihrer Bedeutungsbildung unterschieden werden. Das Determinativkompositum zeichnet sich dadurch aus, dass die erste Konstituente die zweite semantisch modifiziert und das gesamte Determinativkompositum immer eine Untermenge der durch das Zweitglied bezeichneten Entitäten benennt.7 In dieser Lesart würde es sich beim ‚Sprachgefühl‘ also um eine bestimmte Art von Gefühl handeln. Das Verhältnis von Erstglied und Zweitglied kann beim Determinativkompositum jeweils unterschiedlich paraphrasiert werden, wie das Kuchen-Beispiel gezeigt hat. So lässt sich auch das Grundwort ‚Gefühl‘ über verschiedene Verhältnisse spezifizieren: Bei einem Glücksgefühl handelt es sich um ein Gefühl des Glücks, bei einem Bauchgefühl um ein Gefühl aus dem Bauch, bei einem Ballgefühl um ein Gefühl für den Ball und bei einem Sicherheitsgefühl um ein Gefühl von Sicherheit. Das Verhältnis der Konstituenten des SprachGefühls könnte demnach durch verschiedene Präpositionen spezifiziert werden, wobei das Gefühl für Sprache nur eine unter vielen ist.

Das von Johann Heinrich Zedler zwischen 1731 und 1750 herausgegebene Universal-Lexicon aller Wiʃʃenschafften und KIllustrationnste, welches als das umfangreichste enzy­klopädische Werk im europäischen Raum des 18. Jahrhunderts gilt und eine bedeutende Quelle für das Wissen dieser Zeit darstellt, kennt noch gar keinen eigenständigen Artikel zum ‚Sprachgefühl‘. Allerdings ermöglicht es das Universal-Lexicon, den semantischen Fokus zuerst auf das determinative Grundwort ‚Gefühl‘ als Zweitglied des Kompositums scharf zu stellen, welches unter dem Lemma „Fühlen“ subsumiert wird.8 Die beiden Begriffe bezeichnen dabei zunächst ihrer lateinischen Abstammung von Tactus gemäß den Inbegriff einer Sinnesleistung: Nämlich den Sinn, bei dem durch ein Tasten prüfend oder forschend berührt und abwägend begriffen, d. h. sinnlich empfunden wird:

Einer derer fIllustrationnff Illustrationuʃerlichen Sinne, der sich Illustrationber den ganzen Leib ausbreitet. Dieʃer Sinn befindet ʃich nicht, wie die Illustrationbrigen Sinne præciʃe an einem gewiʃʃen Theile des Haupts, ʃondern wo beugʃame fibræ vorkommen, da iʃt auch der Sitz des FIllustrationhlens. ← 11 | 12 → […] Es beʃtehet aber das FIllustrationhlen darinne, daß der Spiritus, wenn die Fibræ der Haut, und anderer Theile durch einen Contactum angegriffen werden, nothwendig zugleich mit angegriffen werden mIllustrationʃʃen.9

Folgt man dieser Begriffsbestimmung, so bezieht sich ein „Fühlen“ zunächst auf eine spezifische Sinneserfahrung, die auf das Werkzeug der Haut als taktiles Organon der Wahrnehmung und Bewertung der Beschaffenheit von Objekten, Gegenständen oder Körpern ausgerichtet erscheint, denn man kann „davon nicht eher Gewißheit erlangen, bis man diesen CIllustrationrper entweder in die Hand nimt, oder auf ein andern Theil des Leibes ʃetzet“10. Vorsichtig gleiten die Finger also an den Strukturen des Untersuchungsgegenstands entlang, das „Objectum sind alle und jede Sachen, welche man in gemeinen Leben greiflich nennet“11. Im „Fühlen“ ertasten die Finger somit die ebenen oder unebenen, warmen oder kalten, nassen oder trockenen Oberflächen und spüren dem filigranen oder rauen, weichen oder harten, schweren oder leichten, bewegten oder unbewegten Aufbau derselben nach. In diesem Prozess erahnen sie aber auch gleichzeitig deren Bedeutung, wie das Universal-Lexicon betont, denn durch die taktile Wahrnehmung des Objekts, „was dem Werck=Zeuge des FIllustrationhlens eine beʃondere Bewegung eindruck[t]“, wird auch gleichzeitig „eine solche Idée in der Seele erweck[t]“12. Das „Fühlen“ im Sinne der Empfindung äußerer Reize eröffnet somit einen Weg der sinnlichen Erkenntnis, der über das Ertasten einen bleibenden inneren Eindruck hinterlässt, welcher eine Brücke hin zum ‚Gefühl‘ als einem ‚Sinnesorgan‘ des Innern schlägt. Dank der Möglichkeit, die Beschaffenheit im wahrsten Sinn der Wortbedeutung zu er-fassen, bekommt man also auch ein Gespür für die Wesensart der Dinge. Und diese Fähigkeit lässt sich durch Wiederholung schärfen:

Allein es iʃt noch weit merckwIllustrationrdiger, daß durch Ubung die Werck=Zeuge des GefIllustrationhles ʃo vollkommen gemachet werden, daß man auch die geringʃte GlIllustrationtte und Rauhigkeit derer CIllustrationrper dadurch unterʃcheiden kan. Wie man denn beʃonders an einigen Blinden hat angemercket […]. Es iʃt glaublich, daß ʃolches nicht allein von dem ʃehr guten GefIllustrationhle, ʃondern vornemlich von der guten Aufmerckʃamkeit und offtermaligen Wiederhohlung und Erfahrenheit dieser Leute herzuleiten sey.13

Diese Zuordnungen, die sich zunächst einmal auf eine materielle Dimension des ‚Erfühlens‘ von Formen und Bedeutungen zu beschränken scheinen, lassen sich im übertragenen Sinn aber auch auf die vielfältigen Dimensionen überführen, die sich aus der in diesem Sammelband vorgenommenen Verbindung von ‚Sprache‘ und ‚Gefühl‘ ergeben. Hierbei kommt die sich in der Mitte des 18. Jahrhunderts herausbildende Bedeutungsverengung von ‚Gefühl‘ als einer inneren Empfindung mit einer subjektiven Erlebniskomponente zum Tragen. Gleichzeitig bleibt aber eine seman­tische Nähe zur taktilen, äußeren Sinnesleistung, zum Wahrnehmen und Nachspüren erhalten.14 Das Changieren des Begriffs zwischen diesen Bedeutungsdimensionen umspannt ein weites Begriffsfeld, das wir über die titelgebende Bildkomposition in ← 12 | 13 → seiner Bedeutungsvielfalt einzufangen suchen: In der Brailleschrift lässt sich der dort geschriebene Begriff ‚Sprache‘ nämlich buchstäblich erfühlen. Das taktile ‚Gefühl‘ ist hierbei zum Organon geworden, um ‚Sprache‘ zu erfassen; das „Fühlen“ wird damit zur Voraussetzung, um ‚Sprache‘ wahrnehmen und verstehen zu können.

Kommen wir nun zurück zu der Frage, um welche Art von Kompositum es sich bei SprachGefühl überhaupt handeln könnte, so werden bei der Lesart als Kopulativkompositum Sprache und Gefühl in ein anderes semantisches Verhältnis gesetzt. Im Gegensatz zum Determinativkompositum besteht bei einem Kopulativkompositum ein paratak­tisches Verhältnis der einzelnen Begriffsglieder: Beide Konstituenten sind gleichwertig und vertauschbar; SprachGefühl in ‚kopulativer‘ Lesart wäre also als äquivalent mit GefühlsSprache zu verstehen. Unter diesem Gesichtspunkt lassen sich ‚Sprache‘ und ‚Gefühl‘ als reziprok zusammengehörig denken: Denn nicht nur die Option, dass das Gefühl Sprache er-fassbar macht, ist möglich, sondern auch die umgekehrte Denkoption, dass in und durch Sprache Gefühle erfasst, empfunden und erzeugt werden können. In der Emotionsforschung, die sich unter anderem diesem Zusammenhang widmet, gibt es zwei verschiedene Positionen:

Die, dass Emotionen empfunden werden können, bevor sie begrifflich benannt werden, und die, dass Emotionen erst mit einer sprachlichen Benennung überhaupt erfasst werden. Die erstere Auffassung würde eher einem biologistischen Verständnis von Emotionen entsprechen, die letztere einem kulturalistischen. Eine Einigung dieser Positionen besteht in der momentanen Emotionsforschung nicht.15

Ob es der Sprache bedarf oder nicht, um Gefühle tatsächlich zu empfinden – darüber können andere Disziplinen sich ein Urteil erlauben.16 Wenn man den kleinsten gemeinsamen Nenner dieses Bands jedenfalls unter einer ‚GefühlsSprach-Analyse‘ bündelt, findet man mühelos einen Weg aus dem apodiktischen Dilemma: Alle mit ‚Gefühl‘ in Verbindung stehenden Äußerungen, Kulturtechniken, sprachlichen Repräsentations- und Präsentationsformen mit emotivem Anteil sind prinzipiell kultursemiotisch als Text lesbar,17 sprachlich konservier- und mithin rekonstruier-, analysier- und interpretierbar. Die Metapher der ‚Körpersprache‘ trägt dieser Feststellung vielleicht besonders sinnfällig Rechnung, indem einem ,stummen‘ Körper mit der Sprachfähigkeit auch die Potenz verliehen wird, wirklichkeitskonstituierende ‚Sprechakte‘ zu initiieren: Gestik, Mimik, Proxemik etc. sind zwar nonverbal – aber nichtsdestoweniger qua (teilweise) konventionalisiertem Zeichensystem sprachlich. Ein in der Ecke kauernder Mensch mit weit aufgerissenen Augen, geweiteten Pupillen und einer abwehrenden Körperhaltung kann als Beispiel dafür dienen, dass eine spezifische ‚Körpersprache‘ als alltagsweltlicher Ausdruck eines Angst-‚Gefühls‘ – wahrscheinlich sogar transkulturell und überzeitlich – in der ← 13 | 14 → Lage sein kann, auch nonverbal gängige Kommunikationsmodelle zu bedienen.18 Nicht nur die digitale, wortverwendende, sondern auch die analoge Kommunikation19 ist also als ‚Behälter‘ für den sprachlichen Transport von Gefühlen durchaus tauglich; der verbale Hilferuf kann auch nonverbal substituiert werden. Sprache in ihren unterschiedlichen Varianten ist der Mittler zwischen Black-Box-Subjektivität und intersubjektivem Gefühlstransfer schlechthin:

Mittels der Sprache drücken wir unsere intern und subjektiv erfahrenen Gefühle aus: In sprachlichen Äußerungen erhalten Emotionen eine bestimmte Repräsentation und werden somit für andere mitteilbar. Das Verhältnis von Sprache und Emotion, von kognitivem Kenntnissystem und konzeptueller Gefühlswelt ist somit einer der wichtigsten Phänomenbereiche, wenn man den Menschen als Menschen verstehen will.20

Allerdings klingt hier und andernorts das Kernproblem semiotischer Transformationen und mithin ein etwas naives Sender-Empfänger-Modell an, da eine „bestimmte Repräsentation“ eben nur eine bestimmte und nicht die einzig mögliche – geschweige denn die adäquateste (wenn es diese überhaupt gibt) – darstellt. „Die Expressivität der Sprache, d. h. ihre Fähigkeit, neben Gedanken auch ‚Gefühle‘ und emotionale Einstellungen der kommunizierenden Personen auszudrücken […]“21, darf nicht leichtfertig mit der Annahme kurzgeschlossen werden, dass Gefühle ohne ‚Rauschen‘ zunächst in Sprache übersetzt und schließlich sprachlich codifizierte Emotionen wieder in reales Fühlen überführt werden könnten. Nicht zuletzt kulturhistorische Entwicklungen, Kontextverschiebungen und viele weitere ‚Störfaktoren‘ lassen die Hoffnung platzen, Gefühle eins zu eins sprachlich festhalten, schriftlich fixieren und theoretisch bis ans Ende der Zeit tradieren zu können. Gerade diese Bestandsaufnahme aber ermöglicht überhaupt erst die interdisziplinär und diachron gewinnbringende Beschäftigung mit SprachGefühl: Wie beengt wäre die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Sprache und Text in der Gefühlskommunikation, wenn die emotionale Bedeutung bereits fix und fertig festgeschrieben wäre? Gefühle werden in Sprache und schriftlichen Texten nicht nur thematisiert und präsentiert,22 sondern sie erschaffen sogar (gefühlte und fühlbare) Wirklichkeit, machen Emotionalisierungsangebote an Hörer und Leser und rufen Gefühle tatsächlich hervor. Nicht zuletzt sind Gefühle der Anlass dafür gewesen, dass unzählige Texte und Sprechakte das Licht der Welt erblickt bzw. das Ohr des Hörers getroffen haben.

Unter dem Kompositum SprachGefühl wendet sich der vorliegende Sammelband mit seinen geistes- und kulturwissenschaftlichen Beiträgen nun den vielfältigen Spielarten zu, die Sprache als Speichermedium und Aushandlungsort von Gefühlen eröffnet. Hans-Jürgen Heringer proklamiert für Komposita mit zwei nominalen Elementen, ← 14 | 15 → diese seien als „schwarze Löcher mit unwiderstehlichem Deutungssog“23 anzusehen. In diesen Deutungssog einer vieldeutigen Verquickung von ‚Sprache‘ und ‚Gefühl‘, ‚Sprachgefühl‘ und ‚Gefühlssprache‘ möchten wir uns anhand systematischer wie exemplarischer Analysen begeben. Die Offenheit der Ausdrucksbedeutung von SprachGefühl machen sich die Beiträge dieses Bandes dabei auf unterschiedlichste Weise zunutze. Im Wesentlichen lassen sie sich unter der Trias: Gefühl für Sprache, Gefühl in Sprache und Gefühl durch Sprache zusammenfassen und in ihren Gemeinsamkeiten beschreiben. In dieser Gliederung konfigurieren diese drei Bedeutungsbestandteile als Cluster auch den Aufbau des Sammelbands.

SprachGefühl – Gefühl für Sprache

Ein Gefühl für Sprache zu haben, ist eine Fähigkeit, die in unserer Gesellschaft augenscheinlich einen hohen Stellenwert hat. Wie bereits Gerd Antos 199424 festhält, wächst – u. a. aufgrund der zunehmenden technischen Vernetzung – der Zwang zur schnelleren und vermehrten Kommunikation, d. h. auch zur schnelleren und effektiveren Sprachproduktion. Demnach steht immer weniger Zeit zur Planung und Überarbeitung einer sprachlichen Äußerung zur Verfügung, in deren Rahmen die produzierte Äußerung noch einmal überprüft und korrigiert werden kann. Ein spontanes Gefühl für Sprache zu haben, ist also umso wichtiger; das gilt besonders für die Sprachproduktion in beruflichen oder öffentlichen Kontexten. Diese Anforderung zeigt sich auch in aktuellen Stellenausschreibungen, in denen ein Gefühl für Sprache als Einstellungsvoraussetzung von Bewerberinnen und Bewerbern gefordert bzw. als Erfolgsfaktor für den Beruf beschrieben wird:

Gesucht werden junge Studentinnen und Studenten, die Initiative zeigen, Gefühl für Sprache haben, analytisch denken und selbständig arbeiten. (nquire.at)

Wenn Sie Informatiker/in oder kompetente/r Quereinsteiger/in mit einem sicheren Gefühl für Sprache sind, freuen wir uns auf Ihre Bewerbung, per Mail oder schriftlich. (speechconcept.com)

Maßgeblich für Ihren beruflichen Erfolg ist, dass Sie ein Gespür für den richtigen Umgang mit Menschen haben, Gefühl für die deutsche Sprache besitzen und sicher in der Rechtschreibung sind. (notare-wahl-adrian.de)

Obwohl das Gefühl für Sprache in unserer Gesellschaft ein Kriterium für beruf­liche Qualifikation und möglichen Erfolg ist, spiegelt sich diese Relevanz in der linguistischen Fachliteratur indes nicht unbedingt wider: Forschung, die tatsächlich unter dem Terminus ‚Sprachgefühl‘ erfolgt, gibt es bisher kaum. Diesen Befund stellen bereits Hans-Martin Gauger und Wulf Oesterreicher 1982, indem sie konstatieren, die „Linguistik zeigt sich hinsichtlich des Begriffs ‚Sprachgefühl‘ uninteressiert bis ablehnend.“25 Bis heute hat sich an dieser Tatsache wenig geändert. Gauger und Oesterreicher nehmen als Grund für dieses mangelnde Interesse an, dass sich die Linguistik als „strenge“ Disziplin ungern mit so etwas Subjektivem wie einem Gefühl beschäftige.26 ← 15 | 16 →

Die wenigen bestehenden Definitionen lassen sich weitgehend zwei Perspektiven zu ordnen: der intrasubjektiven Perspektive von „sprachinstinct“ und der intersubjektiven Perspektive eines „sprachbewusztseins“27. Aus der intrasubjektiven Perspektive wird das ‚Sprachgefühl‘ beschrieben als intuitives, individuelles Urteil über Sprache,28 die intersubjektive Auffassung erfasst das ‚Sprachgefühl‘ als Kenntnis der Norm, die wiederum Teil des sozialen und kulturhistorischen Phänomens ‚Sprache‘ ist.29

Ein Vertreter der ersten Auffassung ist Noam Chomsky, der von einer sprach­lichen Intuition des geborenen Sprechers ausgeht.30 Gauger und Oesterreicher stellen fest, dass man Chomskys Terminus ‚Intuition‘ als Synonym für ‚Gefühl‘ betrachten dürfe, und Chomsky somit einer der wenigen Linguisten sei, der sich tatsächlich mit dem ‚Sprachgefühl‘ beschäftigt habe.31 Nach Chomskys Vorstellung ermöglicht die angeborene Kompetenz eines Sprechers die intuitive Beurteilung einer sprachlichen Äußerung. Er geht allerdings von einem idealen Sprecher aus, der in einer völlig homogenen Sprachgemeinschaft lebt. Eine solche Homogenität ist jedoch in einer natürlichen Sprachgemeinschaft nicht angelegt, in der es immer Varietäten gibt, z. B. im Rahmen von Kommunikationsstilen oder auch Dialekten. Eine natürliche, lebendige Sprache besteht nach Eugenio Coseriu als System von Subsystemen, die sich räumlich (z. B. Dialekt), soziokulturell (z. B. Jugendsprache) und hinsichtlich der Kommunikationssituation (z. B. Bewerbungsschreiben) unterscheiden lassen.32

Danach lässt sich ‚Sprachgefühl‘ als das Urteil eines Sprechers darüber verstehen, was die ‚normale‘, die geläufige Realisierung innerhalb einer Auswahl verschiedener Varianten ist. Die ‚normale‘ Realisierung bezeichnet Coseriu als diejenige Sprachnorm, die seiner Auffassung nach Bestandteil jeder Einzelsprache und damit ein historisches Kulturprodukt ist. Bei dem Urteil darüber, was zur Norm gehört, greift der Sprecher auf sein Sprachwissen und seine Spracherfahrungen zurück. In diesem Sinn kann ‚Sprachgefühl‘ als interindividuelles Konzept gelten, das eine Kenntnis der Norm voraussetzt, und durch die Vielfalt des Deutschen in seinen verschiedenen Ausprägungen von Dialekten, Soziolekten oder Fachsprachen bedingt wird. Denn das ‚Sprachgefühl‘ kommt überhaupt nur dann zum Einsatz, wenn es ein Nebeneinander an Varianten gibt und der Sprecher sich für eine Version als die normgerechte bzw. standardsprachliche zu entscheiden hat.33

Die folgenden Beiträge dieses Clusters untersuchen und diskutieren SprachGefühl als Gefühl für Sprache aus linguistischer, sprachdidaktischer, literaturwissenschaftlicher und philosophischer Perspektive und dies sowohl theoretisch als auch empirisch. Die Beiträge setzen dabei verschiedene Schwerpunkte: zum einen die Diskussion des Grundworts ‚Gefühl‘ im engeren Sinn als Bestandteil des ‚Sprachgefühls‘, zum anderen die Untersuchung der Bedingungen des Erwerbs bzw. des Vorhandenseins von ‚Sprachgefühl‘.

Details

Seiten
325
Erscheinungsjahr
2015
ISBN (PDF)
9783653037357
ISBN (ePUB)
9783653991369
ISBN (MOBI)
9783653991352
ISBN (Hardcover)
9783631648278
DOI
10.3726/978-3-653-03735-7
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (November)
Schlagworte
Emotionsforschung Diskursanalyse Sprachfähigkeiten Kompositum
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 325 S., 7 s/w Abb.

Biographische Angaben

Miriam Langlotz (Band-Herausgeber:in) Nils Lehnert (Band-Herausgeber:in) Susanne Schul (Band-Herausgeber:in) Matthias Weßel (Band-Herausgeber:in)

Die Herausgeber sind Kollegiaten des Geistes- und Kulturwissenschaftlichen Kollegs (GeKKo) der Universität Kassel. Miriam Langlotz ist germanistische Linguistin. Nils Lehnert germanistischer Literaturwissenschaftler. Susanne Schul germanistische Mediävistin. Matthias Weßel germanistischer Literaturwissenschaftler.

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Titel: SprachGefühl