Materialität(en) des Kultur- und Wissenstransfers in prä- und transnationalen Kontexten
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Materielle Bedingungen historischer Kulturwissenschaft im Übergang von der Print- zur Digitalepoche. Ein Versuch
- Raummetaphorik in Musikbeschreibungen und Höranweisungen
- Lunam Ottomannicam sub Mariæ pedibus. Der Halbmond, die Türken und wie ein Feindbild erzeugt und erhalten wird
- Jenseits der Gedichte: Zur medialen Inszenierung des Schriftstellers Lu Xun im China des 20. und 21. Jahrhunderts
- „Ein Deutsch schreibender jüdischer Russe, der zur Zeit in Österreich lebt“ – Vladimir Vertlib im literarischen Leben der Bundesrepublik Deutschland
- Video und Körper als Widerstandsmaterial gegen die staatliche Diskursformation: Wu Wenguangs Folk Memory Project
- Die mediale Destruktion eines Mythos. Das Geschichtsbild der Frontier und seine Zerstörung in Michael Ciminos „Heaven’s Gate“ (1980/1981)
- Zhang Yimous „Real-Life Scenery Performances“ als hyperrealer „Originalschauplatz”
- Wissenspraktiken im europäischen Bühnentanz. Ein historischer Blick auf ihre intermedialen Dispositionen
- Regie und die „Aufteilung des Sinnlichen“: Überlegungen zur Theorie der Theaterregie
- Archivalische Archäologie des Regietheaters: Anna Bahr-Mildenburgs Inszenierung von Wagners Ring des Nibelungen 1921/22 an der Bayerischen Staatsoper
- Rituale im Parkett. Zur Konstruktion von Zuschauern und Zuhörern in Theater und Konzert
- Theaterhäuser und ihre mediale Distribution. Anmerkungen zur Online-Kommunikation von Theaterhäusern am Beispiel der Bayerischen Staatsoper
- Autorenverzeichnis
- Kulturwissenschaft(en) als interdisziplinäres Projekt
Michael Gissenwehrer / Katharina Keim
Das stärkste Gedächtnis ist schwächer als die blasseste Tinte
(Chinesisches Sprichwort)
Die Beiträge dieses Bandes gehen zurück auf eine Tagung des Arbeitskreises „Kulturwissenschaft(en) als interdisziplinäres Projekt“, die vom 16. bis zum 18. November 2012 an der Theaterwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München stattfand. Während in den vergangenen Jahren Positionsbestimmungen, Praxisbezüge, Ansätze unterschiedlicher Disziplinen und Verortungen im gesamteuropäischen Kontext im Vordergrund standen, wurde nun versucht, die Entstehung und den Wandel von – meist national bzw. topographisch definierten – Kulturkonzepten und -diskursen im Hinblick auf ihre materiale Basis zu hinterfragen.
Die gegenwärtige Revolutionierung der Alltags- und Wissenskultur durch die Digitalisierung bringt bekanntlich auch eine allmähliche Abkehr von der für den Denkstil und die Wissensformationen der Neuzeit prägenden neuzeitlichen Buchkultur mit sich. Im Rahmen dieser medialen Umbruchsituation offenbart sich, in welchem Ausmaß herrschende Episteme und Wissenspraktiken an bestimmte materiale Grundlagen gebunden sind. Im Bereich der Kulturwissenschaft(en) kommt dabei der Materialität des gedruckten Textes bzw. Dokuments ein besonderer Stellenwert zu, der oftmals durch ein strukturalistisches Verständnis von „Kultur als Text“ und einer Privilegierung der symbolischen Dimension, also des Bedeutungsaspekts gegenüber dem Zeichenträger, weitgehend verdeckt blieb.
Im deutschsprachigen Raum setzte sich ein solcher, auf der Autorität des verschrifteten gedruckten Worts basierender Denkstil – den man mit Sibylle Krämer auch als „protestantischen Gestus“1 bezeichnen könnte – geistesgeschichtlich erst im späten 18. Jahrhundert, in der sog. „Sattelzeit“ vollständig durch. Das Symbol als semiotischer Modus der Sinnzuweisung löste damit das vorher dominierende, noch mit dem eingefügten Bild als Sinnträger operierende Emblem ← 1 | 2 → endgültig ab. Dieser Übergang von der Bildlichkeit hin zu einer auf der Binarität des sprachlichen Zeichens basierenden Textualität von Wissen und Wahrheit scheint selbst für Friedrich Schiller noch nicht ganz selbstverständlich gewesen zu sein. In den „Philosophischen Briefen“ resumiert er:
Unsere reinsten Begriffe sind keineswegs Bilder der Dinge, sondern bloß ihre nothwendig bestimmte und coexistierende Zeichen. […] Wahrheit ist also keine Eigenschaft der Idiome, sondern der Schlüße; nicht die Aenlichkeit des Zeichens mit dem Bezeichneten, des Begriffs mit dem Gegenstand, sondern die Uebereinstimmung dieses Begriffs mit den Gesezen der Denkkraft.2
Diese im „Reich der Zeichen“ angesiedelten Wissensanordnungen vermitteln sich erst durch bestimmte Inszenierungsformen, die ihrerseits materieller Träger und bestimmter Institutionalisierungspraktiken bedürfen. Dabei kommt der Vermittlung kultureller Güter im 18. Jh. über den wachsenden und sich im letzten Drittel des Jahrhunderts völlig neu organisierenden Buchmarkt eine privilegierte Rolle zu. Hierdurch wurde nicht nur die Verbreitung des Schriftguts der Aufklärung befördert, sondern auch die Entstehung der professionellen Kulturkritik wie auch des Literaturtheaters überhaupt erst ermöglicht.3
Die von Wolfgang E.J. Weber in seinem einführenden Beitrag zu diesem Band (unter Berufung auf Wolfgang Reinhard) diagnostizierte Tendenz der historischen Kulturwissenschaft, „Kultur auf ein Symbolsystem zu reduzieren“ wie auch die Neigung aktueller Forschungsrichtungen zur materiellen Kultur, wieder in einen „Symbolkulturalismus“ zurück zu fallen, zeugen von der Notwendigkeit, die Bedingungen der Entstehung und historischen Übermittlung derart persistenter Diskurse zu ergründen.4 Michel Foucault hat darauf verwiesen, ← 2 | 3 → dass dieses Verhältnis zwischen „Wörtern und Dingen“, das nach Schiller durch „Schlüsse“ bzw. die „Denkkraft“ bestimmt wird, in der – von Descartes Schriften beeinflussten – sog. „Logik von Port Royal“ (1662) begründet wurde und die Grundlage für die Episteme der Klassik bildet. Der dort entwickelten Zeichentheorie gesteht Foucault ein Fortwirken „vielleicht bis heute“ zu, insbesondere de Saussures „Semiologie“ (und damit verbunden weite Teile des Strukturalismus) stellt letztlich eine Wiederaufnahme dieses Konzepts dar.5
Erst mit der Akzentuierung der pragmatischen Dimension durch Sprachphilosophie, Semiotik und Linguistik, die von den Kulturwissenschaften im Rahmen des „performative turn“ rezipiert wurde, zeichnet sich hier eine folgenreiche Verschiebung ab. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass sowohl die Konstruktion wie auch der historische Wandel von Wissens- und Kunstdiskursen mit all ihren Begriffen, Objekten und Artefakten durch bestimmte (ebenfalls historisch zu verstehende) materiale, technische und institutionelle Aspekte konditioniert werden. Eine solche diachrone Perspektive fokussiert nicht allein die kommunikative Dimension, sondern versucht die Übermittlung kultureller Güter oder Narrationen in Zeit und Raum durch mediale Praktiken (wie Schrift, Bild, Skulptur, Bewegung, Musik, Theater, Film, Internet), die ihrerseits als ‚Sinnmatrix’ fungieren und denen eine jeweils spezifische Materialität zu Grund liegt, ins Blickfeld zu nehmen.6
Die Motivation, die zwar interdiziplinär angelegten aber bislang doch durch die europäische Diskussion geprägten Debatten des Arbeitskreises nunmehr mit Blick auf den fernöstlichen Kulturkreis zu erweitern, resultiert aus dem Befund, ← 3 | 4 →
dass die Episteme europäischer, seit der Aufklärung entwickelter und mit einer entsprechenden Zeichenkonzeption operierender Wissens- und Kunstdiskurse mittlerweile nicht nur in den einzelnen Fächern partiell ihre Gültigkeit eingebüßt haben, sondern sich auch für die Analyse außereuropäischer Kulturkontakte als nur sehr bedingt tauglich erweisen. So ist schon das chinesische logosyllabische Schriftsystem, wie der französische Querdenker Régis Debray konstatiert, gegenüber der westlichen Welt mit ihrem lateinischen Alphabet „die wahre chinesische Mauer“.7
Die hier versuchte erste Annäherung an den chinesischen Kulturkreis beschränkt sich zugegebener Maßen – schon aus Verständnisgründen – auf ausgewählte Fallbeispiele aus dem Bereich transnational orientierter zeitgenössischer Theater-, Propaganda- und Spektakelkultur. So untersucht Anna Stecher die sich wandelnde Inszenierung des chinesischen Schriftstellers Lu Xun (1881-1936). Der vom französischen Symbolismus beeinflusste „Erneuerer der chinesischen Literatur“ wurde unter Mao als propagandistisches Gegenbild zur konfuzianischen Tradition zu „Chinas neuem Heiligen“ stilisiert. Auf Grund seiner vielschichtigen und undogmatischen Texte ist er mittlerweile zum Referenzobjekt zeitgenössischer regimekritischer Künstler avanciert. Yinan Li zeigt anhand von zeitgeschichtlichen Video-Performance-Projekten des experimentellen Theatermachers und Dokumentarfilmers Wu Wenguang (geb. 1956) auf, wie hier mit künstlerischen Mitteln die für Theater und Filmproduktion eigentlich charakteristische Trennung von Subjekt und Objekt aufgehoben wird zugunsten einer neuartigen Medienpraxis, die sich an die traditionelle chinesische Philosophie anlehnt. Kuan-wu Lin widmet sich dem neuartigen Phänomen touristischer Freiluft-Massenspektakel an Originalschauplätzen, in denen sich Fragmente chinesischer Minderheitenkulturen mit westlicher Opernregie und filmischen Inszenierungsstrategien verbinden. In diesen Shows wird die chinesische Maxime einer „harmonischen Einheit von Mensch und Natur“ zwar postuliert, doch dienen Naturkulisse und die auftretenden ethnischen Minderheiten nur als materielle Staffage einer kommerziellen Selbst-Repräsentation chinesischer Kultur im internationalen Kontext.
Wie sehr kulturelle Stereotypen auch hierzulande noch den Kulturbetrieb beherrschen, zeigt René Kegelmann in seinem Beitrag zur sog. „Chamisso-Literatur“ auf. Anhand der Positionierung des jüdisch-russischen Emigranten Vladimir Vertlib im literarischen Leben der Bundesrepublik Deutschland und seinem teilweise biographisch motivierten Romanschaffen werden die Erwartungen ← 4 | 5 → der Kulturkritik im „Zerrspiegel der Literatur“ medial reflektiert und karikiert. Auch Eugen Kottes Ausführungen zur offiziellen narrativen Konstruktion des nordamerikanischen Landnahme-Mythos im späten 19. Jahrhundert, dem eine ganz und gar unheroische Inszenierung in Michael Ciminos umstrittenem Film „Heaven’s Gate“ entgegengesetzt wird, verweisen auf eine Diskrepanz zwischen geschichtlichen Fakten und einer nationale Mythen destruierenden Kraft der Fiktion.
Während in diesen zeitgenössischen Fallbeispielen Geschichtsbilder und kulturelle Zuschreibungen künstlerisch verhandelt werden, thematisieren die historisch ausgerichteten Beiträge fachspezifische Notationspraktiken oder diskutieren den Entstehungszusammenhang von Begrifflichkeiten oder Instanzen. So lässt Wolfgang E.J. Weber die materialen Bedingungen kulturhistorischer Arbeitstechniken im Übergang von der vordigitalen zur digitalen Epoche kritisch Revue passieren. Johannes Feichtinger untersucht aus gebrauchshistorischer Perspektive exemplarisch den Wandel eines ursprünglich religiösen frühchristlichen Symbols zu einem kulturellen Monument, das seit der Zeit der Türkenkriege die materielle Basis für die Inszenierung eines nachhaltigen Feindbildes im öffentlichen Raum darstellt. Von besonderer Relevanz ist das Problem der materiellen Überlieferung für die Tanzwissenschaft seit der Entstehung des höfischen Tanzes im späten 17. Jahrhundert: Sabine Huschka geht hier der Frage nach Übermittlungs- und Vermittlungstechniken und des historischen Stellenwerts der „Choregraphie“ im Spannungsfeld zwischen verkörpertem Wissen und Notation auf den Grund.
Vor allem in der „Sattelzeit“ formieren sich im deutschsprachigen Raum – nicht zuletzt bedingt durch den Aufschwung des Buchdrucks und die Ausdifferenzierung der einzelnen Disziplinen – neue Diskurse und Begrifflichkeiten. Am Beispiel der Entstehungen von Musikbeschreibungen ab 1800, die von der eigentlichen Musikproduktion signifikanter Weise weitgehend entkoppelt sind, zeichnet Jürgen Joachimsthaler nach, wie der Kunstdiskurs an die Stelle des religiösen tritt und ein Pendant zum Sakralraum eröffnet. Peter Boenisch verortet die – gemeinhin dem späten 19. Jahrhundert zugeschriebene – Entstehung der Theaterregie ebenfalls um 1800. Die Regie wird dabei nicht etwa als Reaktion auf die Entstehung des Literaturtheaters in jener Zeit gedeutet, sondern, unter Berufung auf Schiller, als eine durch die Krise des Regimes der Repräsentation notwendig gewordene, neue Vermittlungsinstanz zwischen materiell-sinnlicher Aktion und rationaler Reflexion. Im Musiktheater konnte sich die Regie im Sinne einer „leitenden Idee“ und Abkehr von der unreflektierten Inszenierungspraxis des historischen Naturalismus hingegen erst in der Weimarer Republik ← 5 | 6 → durchsetzen, wie Robert Braunmüller anhand der Inszenierung von Wagners „Ring“ an der Bayerischen Staatsoper aus den Jahren 1921/22 dokumentiert.
Steffen Höhne unternimmt eine umfassende Bestandsaufnahme der Disziplinierung des Zuschauers in Theater und Konzert seit dem späten 18. Jahrhundert auf der materiellen Grundlage von Anstandsbüchern. Während das Hochkultur-Publikum im Theaterraum bzw. Konzertsaal in einem Jahrhunderte langen Prozess systematisch zum Schweigen gebracht wurde, eröffnen sich heutzutage, wie Josef Bairlein in seinem, den Band beschließenden Beitrag vor Augen führt, durch die Möglichkeit der bilateralen Online-Kommunikation zwischen Theaterhäusern und Zuschauern ganz neue Möglichkeiten der Partizipation der nunmehr nicht mehr stummen Zuschauer. Das – dank Online-Übertragung der Aufführungen – nunmehr weltweite und sich in Blogs äußernde Publikum ist damit zum aktiven Bestandteil des virtuell entgrenzten Theaterhauses geworden.
In all ihrer Unterschiedlichkeit reflektieren die einzelnen Beiträge jeweils aus fachspezifischer Sicht Nahtstellen, an denen Verschiebungen kultureller Praktiken durch Analyse ihrer materialen Komponenten transparent werden. Eine methodische Konvergenz oder ähnlich geartete Analysepraxis wurde dabei weder angestrebt noch erzielt. Vielmehr versteht sich das Unternehmen „Kulturwissenschaft(en) als interdisziplinäres Projekt“ nach wie vor als offener Dialog jenseits der Fach- und Wissenskulturen. Gleichwohl bleibt zu hoffen, dass die bewusst diesseits der Mauer der chinesischen Schrift angesiedelten Reflexionen zur chinesischen Gegenwartskultur Impulse zur weiteren Auseinandersetzung mit außereuropäischen Modellen geben können.
Unser Dank gilt all jenen, die die Durchführung der Tagung und die Herausgabe des Tagungsbandes ermöglicht haben, insbesondere dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), namentlich Frau Friederike Schomaker, der Münchner Universitätsgesellschaft sowie der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) für die großzügige finanzielle Unterstützung. Für ihre organisatorische Mithilfe und ihr persönliches Engagement danken wir den Initiatoren dieser Reihe Eugen Kotte (Vechta) und Jürgen Joachimsthaler (Marburg). ← 6 | 7 →
1Sybille Krämer: Sprache – Stimme – Schrift: Sieben Gedanken über Performativität als Medialität. In: Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Hrsg. von Uwe Wirth. Frankfurt/M. 2002, S. 323-346, hier S. 325.
Details
- Seiten
- VI, 232
- Erscheinungsjahr
- 2015
- ISBN (PDF)
- 9783653040296
- ISBN (MOBI)
- 9783653989779
- ISBN (ePUB)
- 9783653989786
- ISBN (Hardcover)
- 9783631649374
- DOI
- 10.3726/978-3-653-04029-6
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2015 (Juni)
- Schlagworte
- historische Medienpraxis kulturwissenschaftliche Praktiken Buchkultur digitale Epoche
- Erschienen
- Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. VI, 232 S., 25 s/w Abb.
- Produktsicherheit
- Peter Lang Group AG