Die sozialstaatliche und freiheitsschonende Dimension des Leistungsfähigkeitsgrundsatzes im Umsatzsteuerrecht
Eine rechtsvergleichende Untersuchung zwischen Deutschland und Brasilien
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- Einleitung und Gang der Untersuchung
- I. Einführung
- II. Gang der Untersuchung
- 1. Kapitel - Die Prinzipienlehre im Rahmen der verfassungsrechtlichen Werteordnung
- A. Zur verfassungsrechtlichen Werteordnung
- B. Zur Bedeutung eines wertefundierten Steuerrechtssystems
- B.I. Zur wertungsmäßigen Folgerichtigkeit der Rechtsordnung
- B.I.1. Das Folgerichtigkeitsgebot
- B.I.2. Das Bestimmtheitsgebot
- B.II. Über die Möglichkeit und den Umfang eines offenen Systems
- B.III. Zur systematischen Auslegung innerhalb der verfassungsrechtlichen Werteordnung
- C. Das axiologisch-teleologische Wesen der Rechtsprinzipien
- C.I. Prinzipien als Optimierungsgebote
- C.II. Auflösung von Prinzipienkollisionen
- C.III. Hermeneutische-anwendbare Maßstäbe
- C.III.1. Die Verhältnismäßigkeit
- C.III.2. Die Zumutbarkeit
- D. Zur Unterscheidung zwischen Prinzipien und Regeln
- E. Regelkonflikte
- F. Zu den Verfassungszwecken
- 2. Kapitel - Verfassungsrechtliche Grundlagen und Anwendung des Leistungsfähigkeitsprinzips
- A. Zum Inhalt und zur Anwendbarkeit des Leistungsfähigkeitsprinzips nach derzeitigem Meinungsstand
- A.I. Zum Inhalt
- A.I.1. Im deutschen Verfassungssteuerrecht
- A.I.2. Im brasilianischen Verfassungssteuerrecht
- A.I.3. Zum Ausdruck „in allen Fällen, in denen dies möglich ist“ in der brasilianischen Verfassung
- A.II. Zur Anwendung bei den direkten Steuern
- A.II.1. Allgemeine Grundlagen
- A.II.2. Eigenschaften der dem Leistungsfähigkeitsprinzip unterliegenden Steuern
- A.II.2.a. Personensteuer
- A.II.2.b. Direkte Ertragsteuer
- A.II.2.c. Fiskalzwecksteuer
- A.III. Zur Anwendung bei den Lenkungszwecksteuern
- B. Die normative Einordnung der steuerlichen Leistungsfähigkeit
- B.I. Zur Betrachtung als Regel
- B.II. Zur Betrachtung als Prinzip
- B.III. Zur Betrachtung als Vergleichsmaßstab
- B.IV. Stellungnahme und eigener Ansatz
- C. Zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen des Leistungsfähigkeitsprinzips
- C.I. Das Sozialstaatsprinzip
- C.I.1. In Brasilien
- C.I.2. In Deutschland
- C.II. Der Gleichheitssatz
- C.II.1. In Brasilien
- C.II.2. In Deutschland
- C.III. Die Steuergerechtigkeit
- C.III.1. In Brasilien
- C.III.2. In Deutschland
- C.IV. Das Demokratieprinzip
- C.IV.1. In Brasilien
- C.IV.2. In Deutschland
- C.V. Die Finanzverfassung
- C.V.1. In Brasilien
- C.V.2. In Deutschland
- C.VI. Das Willkürverbot
- C.VI.1. In Brasilien
- C.VI.2. In Deutschland
- C.VII. Das Übermaßverbot
- C.VII.1. In Brasilien
- C.VII.2. In Deutschland
- C.VIII. Die Freiheitsrechte
- C.VIII.1. In Brasilien
- C.VIII.2. In Deutschland
- C.IX. Zusammenfassende Stellungnahme
- D. Durchbrechungen des Leistungsfähigkeitsprinzips
- D.I. Mögliche Rechtfertigungsgründe
- D.I.1. Fiskalische Ergiebigkeit
- D.I.2. Vereinfachungszwecke bzw. Gründe der Verwaltungsökonomie
- D.I.3. Missbrauchsbekämpfung
- D.I.4. Gemeinwohlzwecke
- D.II. Verhältnismäßigkeitsvorbehalt
- D. III. Folgerichtigkeit der Ausgestaltung der Durchbrechung
- 3. Kapitel - Zur Konkretisierung des Leistungsfähigkeitsprinzips im Rahmen des geltenden deutschen und brasilianischen Umsatzsteuerrechts
- A. Systemprägende Merkmale der untersuchten Steuerarten
- A.I. Die deutsche Umsatzsteuer
- A.II. Das brasilianische System von Steuern auf den Umsatz
- A.II.1. Die Steuer auf Warenlieferung, Beförderungs- und Kommunikationsdienstleistungen
- A.II.2. Die Steuer auf die Einfuhr
- A.II.3. Die Steuer auf industrialisierte Produkte
- A.II.4. Die Steuer auf Dienstleistungen
- A.III. Gemeinsame verbraucherbezogene Eigenschaften
- B. Das Prinzip der Selektivität entsprechend der Wesentlichkeit
- B.I. Inhalt und Zweck
- B.II. Verfassungsrechtliche Verankerung
- B.II.1. Bei der Steuer auf Warenlieferung, Beförderungsund Kommunikationsdienstleistungen
- B.II.2. Bei der Steuer auf industrialisierte Produkte
- B.II.3. Bei der Steuer auf Dienstleistungen
- B.III. Wesentlichkeit der Güter und Dienstleistungen
- B.III.1. Explizite Grundlagen zur Definition der Wesentlichkeit
- B.III.2. Implizite Grundlagen zur Definition der Wesentlichkeit
- B.IV. Selektive Gestaltung der Steuersätze der indirekten Steuern auf den Umsatz
- B.IV.1. Existenznotwendige Gegenstände und Leistungen, die (hoch) besteuert werden
- B.IV.1.a) Im Bereich der IPI
- B.IV.1.b) Im Bereich der ICMS des Bundeslandes von Rio Grande do Sul
- B.IV.2. Nicht existenznotwendige Gegenstände und Leistungen, die befreit bzw. niedrig besteuert werden
- B.IV.2.a) Im Bereich der IPI
- B.IV.2.b) Im Bereich der ICMS des Bundeslandes von Rio Grande do Sul
- B.IV.2.c) Im Bereich der ISS der Gemeinde von Porto Alegre
- B.IV.3. Nicht existenznotwendige Gegenstände und Leistungen, die ermäßigt besteuert werden sollten
- B.IV.3.a) Im Bereich der IPI
- B.IV.3.b) Im Bereich der ICMS des Bundeslandes von Rio Grande do Sul
- B.IV.3.c) Im Bereich der ISS der Gemeinde von Porto Alegre
- B.V. Kritik zur im brasilianischen Schrifttum vertretenen Ansicht
- B.VI. Unzureichender Schutz des Existenzminimums bei den Steuern auf den Umsatz
- B.VII. Ersatzgrundsatz für das Leistungsfähigkeitsprinzip bei den indirekten Steuern auf den Umsatz?
- C. Umsatzsteuergerechtigkeit im Rahmen einer Besteuerung nach der Konsumleistungsfähigkeit
- C.I. Der Konsum als rechtsethisch vertretbarer Leistungsfähigkeitsindikator
- C.I.1. Das Einkommen als für gewöhnlich gerecht betrachteter Leistungsfähigkeitsindikator
- C.I.2. Der Konsum als Alternative
- C. I. 2.a) Konsumarten, die Leistungsfähigkeit indizieren
- C.I.2. b) Subjekt des Verbrauchsvorgangs für Zwecke der Feststellung der Konsumleistungsfähigkeit
- C. I. 2.c) Zeitpunkt des Erwerbs von Gütern und Dienstleistungen, worin die Konsumleistungsfähigkeit zum Ausdruck kommt
- C. I. 3. Abstimmung beider Maßstäbe
- C.II. Zur Möglichkeit und zum Umfang der Anwendbarkeit des Leistungsfähigkeitsprinzips als Lastenausteilungsmaßstab im Umsatzsteuerrecht
- C.II.1. Die Ansicht Paul Kirchhofs und die einheitliche Betrachtung der Umsatzsteuer und der Einkommensteuer
- C.II.2. Die brasilianische Umsatzsteuerrechtsdogmatik und die Wesentlichkeit als Lastenausteilungsmaßstab
- C.II.2.a) Möglichkeitsvorbehalt
- C.II.2.b) Faktischtechnische Unmöglichkeiten und der Vorrang des bereichsspezifischen Maßstabs des Art. 153 § 3 I CF und des Art. 155 § 2 III CF
- C.II.2.c) Keine rechtsethische Gebotenheit
- C.II.3. Die Ansicht der Verfassungsgerichte
- C.II.3.a) In Deutschland
- C.II.3.b) In Brasilien
- C.II.4. Leistungsfähigkeitsprinzip und Besteuerungstechnik des Umsatzsteuerrechts
- C.II.5. Umfang des Gerechtigkeitsgehalts der Konsumleistungsfähigkeit
- C.II.5.a) Der Konsum als notwendiger freiheitsschonender Sachgerechtigkeitsmaßstab
- C.II.5.b) Kein Gerechtigkeitsgehalt im Nutzenprinzip
- C.II.6. Zulässigkeit einer progressiven Besteuerung nach der Konsumleistungsfähigkeit
- C.II.7. Schutz des Existenzminimums
- C.II.7.a) Zum System der Befreiungen und Ermäßigungen im deutschen Umsatzsteuerrecht nach derzeitigem Meinungsstand
- C.II.7.b) Allgemeines
- C.II.7.c) Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip
- C.II.7.c)aa) Zur Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips für eine Besteuerung nach der Konsumleistungsfähigkeit
- C.II.7.c)bb) Ermäßigte Umsatzsteuersätze zwecks Verschonung des Existenzminimums?
- C.II.7.c)cc) Durchbrechung des Subsidiaritätsprinzips im Bereich finanzwissenschaftlicher präferierter Ausgleichsmechanismen
- C.II.7.c)cc)∝) Kompensationen im Einkommensteuerrecht
- C.II.7.c)cc)β) Kompensationen im Sozialhilferecht
- C.II.8. Erwerbsaufwendungen und unternehmerische Investitionen
- C.III. Unzureichende leistungsfähigkeitsmäßige Gestaltung des geltenden Umsatzsteuerrechts
- Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse der Arbeit
- I. Ergebnisse zum Kapitel 1
- II. Ergebnisse zum Kapitel 2
- III. Ergebnisse zum Kapitel 3
- Literaturverzeichnis
← 16 | 17 → Einleitung und Gang der Untersuchung
I. Einführung
Der Ursprung des herkömmlichen Verständnisses des steuerlichen Leistungsfähigkeitsprinzips lässt sich auf drei verschiedene historische Gründe zurückführen. 1776 hat A. Smith darauf hingewiesen, dass die Bürger jedes Staates zur Finanzierung der Regierung so weitgehend wie möglich im Verhältnis zu ihren jeweiligen Fähigkeiten beitragen müssen, das heißt, im Verhältnis zum Einkommen, das sie unter dem Schutz des Staates genießen1. Art. 13 der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 17892 sah vor, dass zur Finanzierung der staatlichen Aufwendungen ein allgemeiner Beitrag unentbehrlich sei, der zwischen den Bürgern nach Maßgabe ihrer Fähigkeiten gleichmäßig verteilt werden sollte. Schließlich sah auch Art. 134 der Weimarer Reichsverfassung für das Deutsche Reich vor, dass alle Bürger ohne Unterschied im Verhältnis ihrer Mittel zu allen öffentlichen Lasten nach Maßgabe der Gesetze beizutragen haben.
Das steuerliche Leistungsfähigkeitsprinzip stellt sowohl im deutschen als auch im brasilianischen Steuerrecht einen Fundamentalgrundsatz und zugleich einen rechtsethischen Lastenverteilungsmaßstab der fiskalzweckorientierten direkten Personensteuern dar. Insbesondere im Einkommensteuerrecht ist die Steuerlast nach Maßgabe der individuellen steuerlichen Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen gleichmäßig zu verteilen. Dabei sollen auf der horizontalen Ebene diejenigen, die gleiches Einkommen beziehen, gleich hoch besteuert werden (horizontale Steuergerechtigkeit); auf der vertikalen Ebene sollen diejenigen, die höheres Einkommen beziehen, entsprechend höher belastet werden. Aus dem systemtragenden rechtsethischen Grundsatz der steuerlichen Leistungsfähigkeit ergeben sich das objektive Nettoprinzip und das subjektive Nettoprinzip. Das erste gebietet, dass leistungsfähigkeitsmindernde Aufwendungen, die der Sicherung der Erwerbstätigkeit dienen, von der Einkommensteuerbemessungsgrundlage abzuziehen sind. Nach dem subjektiven Nettoprinzip sind existenzsichernde Ausgaben kein Indikator steuerlicher Leistungsfähigkeit und können dementsprechend von der Einkommensteuerbemessungsgrundlage abgezogen werden.
← 17 | 18 → Bei der Konsumbesteuerung ist jedoch auffallend, dass im deutschen und im brasilianischen Steuerrecht über den Inhalt und die Anwendbarkeit des Leistungsfähigkeitsgrundsatzes und seiner Unterprinzipien keine Klarheit herrscht. Vielmehr vertreten die meisten Autoren die Ansicht, wonach bei genauer Betrachtung in der Umsatzbesteuerung der Grundsatz der Wettbewerbsneutralität durch den Mechanismus des Vorsteuerabzugs betreffend die Eingangsleistungen herrschen soll. Zudem wird diese Steuerlast auf den Endverbraucher übergewälzt, der unabhängig von seinen persönlichen Verhältnissen bzw. Besonderheiten diese Steuerlast tragen muss. In diesem Zusammenhang ist bislang noch nicht eingehend untersucht worden, ob und inwieweit die Umsatzsteuerlast nach der in der Einkommensverwendung zum Ausdruck kommenden steuerlichen Leistungsfähigkeit verteilt werden kann. Die Frage der Verteilungsgerechtigkeit bei der eigenständigen Teilrechtsordnung der Verbrauchsbesteuerung soll anhand der Zusammenwirkung der Grundrechte im Steuerstaat kritisch gewürdigt werden. Darüber hinaus ist aus der Sicht der Belastungswirkungen auf den Endverbraucher eine metagesetzliche, sich aus der verfassungsrechtlichen Werteordnung ergebende Rechtfertigungslehre der indirekten Steuern auf den Konsum zu erarbeiten.
Der brasilianische Verfassungsgeber hat 1988 versucht, einen bereichsspezifischen Vergleichsmaßstab zwecks unterschiedlicher Abstufung der Steuersätze im Bereich der indirekten Steuern auf Lieferungen und sonstigen Leistungen einzuführen. Hierbei wurde aus zwei verschiedenen Vorschriften der brasilianischen Verfassung der Grundsatz der Selektivität nach der Wesentlichkeit entwickelt. Nach diesem Grundsatz sind die Steuersätze bzw. die Bemessungsgrundlagen nach dem Grad der Unentbehrlichkeit des Gegenstands bzw. der Leistung zum menschlichen Bedarf unterschiedlich zu graduieren. Der Steuergesetzgeber hat dabei einen weiten Gestaltungsspielraum, darf aber im Wesentlichen von diesem bereichsspezifischen steuerlichen Verteilungsmaßstab nicht abweichen. Hier tauchen dennoch mindestens vier unausweichliche Fragen auf: a) inwieweit lässt sich eine solche Gestaltungstechnik im Rahmen des Grundrechts auf Gewährleistung des Existenzminimums des Endabnehmers bei der Konsumbesteuerung hinreichend rechtfertigen? ; b) öffnet dieser Grundsatz nicht zu sehr die Flanke für politischen Opportunismus und Lobbyarbeiten im Interessen kleiner Unternehmensgruppen? ; c) kann das verfassungsrechtliche bereichsspezifische Prinzip der Selektivität nach der Wesentlichkeit das systemtragende Fundamentalprinzip der steuerlichen Leistungsfähigkeit im Rahmen einer aus der Sicht des tatsächlichen Steuerlastträgers gedachten Umsatzsteuergerechtigkeit ersetzen? ; d) hat der Steuergesetzgeber Mindestaufwandspositionen zur Erfüllung des menschlichen lebensnotwendigen Bedarfs zwingend vollständig zu verschonen?
← 18 | 19 → Diese Arbeit befasst sich mit der Frage der Steuergerechtigkeit anhand der Möglichkeit und des Umfangs der Anwendbarkeit des Leistungsfähigkeitsprinzips als sachgerechtem Lastenverteilungsmaßstab im deutschen und im brasilianischen Umsatzsteuerrecht. Ausgehend davon, dass die Konzeption des Umsatzsteuerrechts in beiden Rechtssystemen auf die Entlastung des Unternehmers durch den Mechanismus des Vorsteuerabzugs und die Überwälzung der Steuerlast auf den Endverbraucher angelegt ist, soll die Untersuchung aus der Sicht der Belastungs- und Gestaltungswirkungen auf den Endkonsumenten erfolgen. Dabei ist zudem kritisch zu hinterfragen, ob und inwieweit die Ziele der Sozialgerechtigkeit im Umsatzsteuerrecht nicht eher durch Kompensationen im Einkommensteuerrecht und im Sozialhilferecht zu erreichen sind. Es gibt nicht wenige Autoren, die die Abschaffung sämtlicher Umsatzsteuervergünstigungen und eine reguläre Verbrauchsbesteuerung mittels der Einführung eines niedrigeren Steuersatzes für alle Gegenstände und Leistungen vertreten. Gleichzeitig werden notwendige Erhöhungen der Grundfreibeträge und Erweiterungen der Abzugstatbestände im Einkommensteuerrecht vorgeschlagen, die insbesondere die Umsatzsteuermehrbelastung von Geringverdienern und kinderreichen Familien im Sozialstaat ausgleichen sollen. Im Sozialhilferecht hat der Gesetzgeber ohne weiteres die notwendigen Anpassungen bei den Regelsätzen, Kosten der Unterkunft, Heizkosten und Kosten des Versicherungsschutzes hinsichtlich der existenziellen Risiken Krankheit und Pflege vorzunehmen. Diese eher finanzwissenschaftlichen Lösungsansätze sollen zunächst im Lichte einer sozialstaatlichen und freiheitsschonenden Dimension des Leistungsfähigkeitsprinzips im Umsatzsteuerrecht und zugleich anhand des verfassungskräftigen Subsidiaritätsprinzips kritisch gewürdigt werden. Es wird ebenfalls zu zeigen sein, dass gesetzestechnische Maßnahmen bereits bei den Umsatzsteuertatbeständen unternommen werden können. Dazu sind in der verfassungsrechtlichen Werteordnung beider Länder und im deutschen Sozialhilferecht Maßstäbe zu erkennen, die die Grundlagen zur Definition und Einschränkung der Wesentlichkeit der Gegenstände und Leistungen zum menschlichen Lebensbedarf vorgeben.
Das Bundesverfassungsgericht hat diese Fragen bislang noch nicht tiefgreifend behandelt. Dennoch steht die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einer Anwendung des Leistungsfähigkeitsprinzips im Bereich der indirekten Verbrauchsteuern nicht entgegen3. Zumindest für die direkten Steuern fordert das Gebot der Steuergleichheit eine Belastung nach der finanziellen Leistungsfähigkeit4. Die Ausrichtung der Besteuerung an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ← 19 | 20 → gelte insbesondere im Einkommensteuerrecht5, das auf die Leistungsfähigkeit des einzelnen Steuerpflichtigen hin angelegt sei6. Auf der anderen Seite hat die Dritte Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts die Ansicht vertreten, die Mehrbelastung von Familien mit Kindern sei „im Binnensystem der indirekten Steuern unvermeidlich und gesetzessystematisch folgerichtig“7. Diesbezügliche Kompensationen müssen im Einkommensteuerrecht unternommen werden8, beispielsweise durch eine Erhöhung des Kinderfreibetrags9. Dennoch hat 2004 der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts anlässlich der Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit der Strom- und Mineralölsteuer entschieden, dass bei indirekten Steuern auch der End- oder Letztverbraucher, der die indirekte Steuerlast tragen soll, in den Blick zu nehmen sei10. In Einklang damit steht die Aussage der Dritten Kammer des Ersten Senats, wonach sich bei dem Endverbraucher die Frage der Steuerfreiheit des Existenzminimums auch im Bereich indirekter Besteuerung stellt, da er materiell mit der Umsatzsteuer belastet ist11. Der Zweite Senat hat bereits 1999 in Anlehnung an die Begründung zum 2. Haushaltsstrukturgesetz12 darauf hingewiesen, die Vergünstigungen nur im Interesse der Verbraucher, nicht im Interesse einzelner Unternehmensgruppen systemgerecht seien13.
Das Plenum des Supremo Tribunal Federal hat 1999 die steuerliche Leistungsfähigkeit des Verbrauchers im Umsatzsteuerrecht nur allgemein erwähnt. Anlässlich dieser Entscheidung hat der Richter Ilmar Galvão darauf hingewiesen, dass bei den indirekten Steuern der Endverbraucher derjenige der Steuerträger ist, dessen steuerliche Leistungsfähigkeit berücksichtigt wird14. In 2011 hat die Zweite Kammer des brasilianischen Verfassungsgerichts ausgesprochen, dass „sämtliche Abgaben dem Leistungsfähigkeitsprinzip unterliegen, (…) zumindest ← 20 | 21 → bezüglich eines seiner drei Aspekte (objektiv, subjektiv und proportional), unabhängig von einer von rein wirtschaftlichen Maßstäben entnommenen Einordnung“15.
Eine rechtsvergleichende Untersuchung der verschiedenen Umsatzsteuergestaltungen im Lichte einer gemeinsamen leistungsfähigkeitsmäßigen Rechtfertigungslehre kann angesichts dessen grundsätzlich für beide Rechtsordnungen förderlich sein.
II. Gang der Untersuchung
Zunächst wird im 1. Kapitel auf die Prinzipienlehre im Rahmen der verfassungsrechtlichen Werteordnung einzugehen sein. Die dargestellte Unterteilung zielt darauf ab, sowohl das Wesen der verfassungsrechtlichen Werte und der Rechtsprinzipien als auch ihre Verhältnisse zu verdeutlichen. Dieses Kapitel hat dar-über hinaus als Gegenstand das Folgerichtigkeitsgebot und die Methode der Auflösung von Prinzipienkollisionen. Dabei ist zu unterscheiden zwischen Objekten der Rechtsanwendung und Maßstäben der Rechtsanwendung. Es wird näher zu zeigen sein, dass die Verhältnismäßigkeit der Rechtsidee selbst immanent ist, aber der Auflösung von Prinzipienkollisionen dient. Der Vorrang des einen oder des anderen Prinzips wird „im Lichte der Verhältnismäßigkeitsprüfung“ ermittelt. Die Verhältnismäßigkeit selbst stellt keinen Grundsatz dar, der aufgrund eines gewichtigeren widerstreitenden Grundsatzes entfernt werden kann. Sie ist kein Gegenstand der Abwägung, sondern Anwendungsmaßstab von Rechtsnormen. Das Kapitel zielt darauf ab, dem Leser einen Überblick über die Prinzipienlehre im Lichte der verfassungsrechtlichen Werteordnung zu vermitteln, um anschließend im 2. Kapitel die steuerliche Leistungsfähigkeit als rechtsethisches systemtragendes Fundamentalprinzip zu analysieren.
Im Anschluss werden im 2. Kapitel der Inhalt und die Anwendbarkeit des Leistungsfähigkeitsprinzips nach derzeitigem Meinungsstand dargestellt. Gegenstand dieses Teils sind auch dessen normative Einordnung und verfassungsrechtlichen Grundlagen. Zum Schluss wird darauf einzugehen sein, ob und inwieweit das Leistungsfähigkeitsprinzips durchbrochen werden kann. Untersucht werden die im Schrifttum und in der Rechtsprechung am häufigsten auftretenden Rechtfertigungsgründe für die Durchbrechung, nämlich die fiskalische Ergiebigkeit, Vereinfachungszwecke, Missbrauchsbekämpfung und Gemeinwohlzwecke.
← 21 | 22 → Schließlich hat das 3. Kapitel als Gegenstand die Konkretisierung des Leistungsfähigkeitsprinzips im Rahmen des geltenden deutschen und brasilianischen Umsatzsteuerrechts. Nach einer kurzen Darstellung der deutschen Umsatzsteuer und der brasilianischen Steuern auf den Umsatz ist der verfassungsrechtlich verankerte Grundsatz der Selektivität nach der Wesentlichkeit darzustellen und kritisch zu hinterfragen. Die expliziten Grundlagen zur Definition der Wesentlichkeit der Güter und Leistungen werden untersucht, um anschließend auf die selektive Gestaltung der Steuersätze der indirekten Steuern einzugehen. Ausgehend von diesem ersten Teil des 3. Kapitels soll sodann die Umsatzsteuergerechtigkeit im Rahmen einer Besteuerung nach der Konsumleistungsfähigkeit untersucht werden. Es wird zu zeigen sein, welche Konsumarten steuerliche Leistungsfähigkeit indizieren, wer das Subjekt des Verbrauchsvorgangs für Zwecke der Feststellung der Konsumleistungsfähigkeit ist und in welchem Zeitpunkt des Erwerbs von Gütern und Leistungen die Konsumleistungsfähigkeit zum Ausdruck kommt. Anschließend ist auf die Möglichkeit und den Umfang der Anwendbarkeit des Leistungsfähigkeitsprinzips nach derzeitigem deutschem und brasilianischem Meinungsstand einzugehen. Dabei sind die einheitliche Betrachtung der Umsatzsteuer und der Einkommensteuer, das Verhältnis zwischen dem Fundamentalprinzip und der Besteuerungstechnik des Umsatzsteuerrechts, der Konsum als freiheitsschonender Sachgerechtigkeitsmaßstab und die Zulässigkeit einer progressiven Besteuerung nach der Konsumleistungsfähigkeit eingehend zu untersuchen. Der eigenständige Schutz des Existenzminimums im Umsatzsteuerrecht wird im Anschluss an die vorangehenden Überlegungen und Schlussfolgerungen eingehend betrachtet. Er wird untersucht anhand der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung und am Ende im Lichte des Besteuerungsmodells, das von einer nicht unerheblichen Anzahl von Finanzwissenschaftlern vertreten wird. Dieses Modell beruht auf der Abschaffung sämtlicher oder zumindest der überwiegenden Anzahl der Umsatzsteuervergünstigungen und wird (oftmals) mit einem Ausgleich bei der Einkommensteuer und den Sozialtransfers kombiniert. Der finanzwissenschaftliche Lösungsansatz soll im Lichte des Subsidiaritätsprinzips und der sozialstaatlichen und freiheitsschonenden Dimension des Leistungsfähigkeitsprinzips im Umsatzsteuerrecht sorgfältig analysiert werden. Dabei soll auch nicht außer Acht gelassen werden, ob und inwieweit sich die Beibehaltung ermäßigter Umsatzsteuersätze zwecks Verschonung des Existenzminimums hinreichend rechtfertigen lässt.
Die Untersuchung wird überwiegend anhand des deutschen und brasilianischen juristischen Schrifttums und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Supremo Tribunal Federal durchgeführt. Die Erörterung erfolgt schwerpunktmäßig auf Verfassungsebene. Einige Beiträge der Finanzwissenschaft werden berücksichtigt und im Lichte der dargestellten Thesen kritisch ← 22 | 23 → hinterfragt. Die Überlegungen erfolgen vornehmlich anhand von Beispielen des Steuerrechts, nicht des Beitragsrechts. Dies muss hier betont werden, da das brasilianische Abgabenrecht strikt zwischen den unterschiedlichen Beitragsarten differenziert. Ausnahmsweise wird hier auf die Entscheidung des Plenums des Supremo Tribunal Federal zur Verfassungsmäßigkeit der COSIP16 einer bestimmten Gemeinde zurückgegriffen17. Diese Entscheidung ist im Rahmen der Einführung eines progressiven Steuersatzsystems unter Beachtung der steuerlichen Leistungsfähigkeit des Endkonsumenten von Bedeutung. ← 23 | 24 →
1A. Smith, Wealth of Nations, Bk. V, Ch. II, Pt. II, S. 350.
2Article 13 – Pour l'entretien de la force publique, et pour les dépenses d'administration, une contribution commune est indispensable; elle doit être également répartie entre les citoyens, en raison de leurs facultés.
3So auch K. Löhr, Optionsrecht, S. 241.
4BVerfGE 99, 216, 232.
5BVerfGE 66, 214, 223; 61, 319, 344; 105, 73, 125; 107, 27, 46.
6BVerfGE 82, 60, 86.
7Vgl. 1 BvR 2164/98, NJW 1999, 3478. Der Beschluss betraf damals die Erhöhung des Umsatzsteuernormalsatzes von 15% auf 16%.
8Vgl. 1 BvR 2164/98, NJW 1999, 3478.
9Im Beschluss gegen die mit Wirkung vom 1. Januar 2007 erfolgte Erhöhung der Umsatzsteuer hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts 2007 wiederholt darauf hingewiesen, dass eine relativ stärkere Belastung der Familien im System der Umsatzsteuer notwendig angelegt und gesetzessystematisch folgerichtig sei. Vgl. hierzu 1 BvR 2129/07, UR 2008, 159-160. Die Richter haben sich auf den Beschluss von 1999 gestützt.
10BVerfGE 110, 274, 292 (Ökosteuer).
11Vgl. 1 BvR 201/97, NJW 1997, 3368.
12Vgl. BTDrucks 9/842, S. 74.
13Siehe hierzu BVerfGE 101, 132, 141; vgl. auch UR 2000, 72, 73.
14RE Nr. 213.396, Berichterstatter: Richter Ilmar Galvão, Plenum, DJ v. 01.12.2000.
15Ag. Reg. RE Nr. 406.955, Berichterstatter: Richter Joaquim Barbosa, Zweite Kammer, DJe 20.10.2011.
16COSIP ist der Beitrag zur öffentlichen Beleuchtungsdienstleistung (Art. 149-A CF).
17Bemessungsgrundlage der COSIP war der monatliche Stromverbrauch innerhalb der jeweiligen Kategorien von Konsumenten (primär, häuslich, kaufmännisch, gewerblich oder öffentliche Hand). Vgl. RE Nr. 573.675, Berichterstatter: Richter Ricardo Lewandowski, Plenum, DJe v. 21.05.2009.
← 24 | 25 → 1. Kapitel - Die Prinzipienlehre im Rahmen der verfassungsrechtlichen Werteordnung
A. Zur verfassungsrechtlichen Werteordnung
Im deutschen Grundgesetz fällt auf, dass bereits in der Präambel der Frieden und die Freiheit als Werte des deutschen Volkes genannt werden, obwohl die Freiheit auch später als eigenständiges Grundrecht erneut in Erscheinung tritt. In Art. 1 Abs. 2 GG werden die Menschenrechte als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt genannt. Hier sind nicht nur der Frieden, sondern auch die Gerechtigkeit - die gemeinsame Ideale der Gesellschaft verkörpern - als verfassungsrechtliche Werte implizit berücksichtigt. Die Würde des Menschen, die Freiheit – in ihren unterschiedlichen Ausdrucksformen -, die Gleichheit und das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit - die ebenfalls als Werte hätten eingeordnet werden können -sind als Grundrechte vorgesehen18.
In der brasilianischen Verfassung sind die hochrangigen verfassungsrechtlichen Werte in der Präambel verankert. Die Freiheit, die Sicherheit, der Wohlstand, die Entwicklung, die Gleichheit und die Gerechtigkeit sind die höchsten Werte einer in der sozialen Harmonie gegründeten brüderlichen, pluralistischen und vorurteilslosen Gesellschaft, die der friedlichen Auflösung der Konflikten in der inneren und in der internationalen Ordnung verpflichtet ist19. Art. 1 CF verkörpert die Grundlagen der Föderativen Republik Brasiliens - eines demokratischen Rechtsstaats - nämlich die Souveränität, die Staatsbürgerschaft, die Würde des Menschen, die sozialen Werte der Arbeit und der freien Initiative und den politischen Pluralismus. Diese Pfeiler sind ebenfalls als Werte anzusehen; sie dienen dem Aufbau und der Aufrechterhaltung des Ideals einer Gesellschaft.
Es wird im deutschen Schrifttum zum Teil vertreten, dass die verfassungsrechtlichen Werte in den Prinzipien bzw. in den Grundrechten verkörpert sind. J. Englisch unterscheidet zwischen Wertprinzipien und Strukturprinzipien. Diese werden als gesetzgeberische Grundansätze dargestellt, die für bestimmte Rechtsmaterien prägend sind20. Ein Strukturprinzip verkörpert eine bestimmte ← 25 | 26 → Wertung, die ihre Grundlage in den Werten hat, die wiederum im Recht von den Wertprinzipien vermittelt werden21. In Anlehnung an F. Bydlinski versteht J. Englisch unter Wertprinzipien diejenigen, die rechtsethisch fundierte Werte bzw. Ideale verkörpern, die also ein allgemeingültiges Ziel anstreben22. Sie sind ebenfalls als Rechtsnormen einzustufen, gebieten eine bestimmte Wertung und geben Regelungen Gründe vor23. R. Alexy ist der Auffassung, dass in der juristischen Literatur gleichzeitig von Prinzipien und Werten die Rede sein könne, dass Sätze über Prinzipien in Sätze über Werte und umgekehrt ohne Gehaltsverlust umformuliert werden können, wobei die gradweise Verwirklichung von Werten der gradweisen Erfüllung von Prinzipien entspreche24. Unbeschadet dessen seien, in Anlehnung an die von v. Wright entwickelte Dreiteilung der praktischen Begriffe – der deontologischen, der axiologischen und der anthropologischen Begriffe25 -, Prinzipien Optimierungsgebote26 und als Gebote seien sie als deontologische Begriffe einzustufen27. Demgegenüber würden die Werte einen axiologischen Charakter entfalten28.
Nach der Meinung C. W. Canaris wäre es auch grundsätzlich möglich, das System als Werteordnung zu verstehen, weil sich letzten Endes jede Rechtsordnung an einigen obersten Werten orientiere und ihnen zu dienen habe29. Auf der anderen Seite soll nicht außer Acht gelassen werden, dass Prinzipien eine Stufe weiter konkretisiert seien als Werte, wobei jene eine Zweiteilung in Tatbestand und Rechtsfolge aufweisen30. Ein System oberster Werte müsse ganz ähnlich ← 26 | 27 → einem System aus Prinzipien sein, sodass sich eines in das andere umformulieren ließe31.
Details
- Seiten
- 329
- Erscheinungsjahr
- 2014
- ISBN (PDF)
- 9783653041064
- ISBN (MOBI)
- 9783653988215
- ISBN (ePUB)
- 9783653988222
- ISBN (Paperback)
- 9783631650516
- DOI
- 10.3726/978-3-653-04106-4
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2014 (Februar)
- Schlagworte
- Steuerrecht Umsatzsteuerrecht Leistungsfähigkeitsprinzip Konsumbesteuerung Schutz des Existenzminimums Finanzwissenschaftliche Ausgleichsmechanismen
- Erschienen
- Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 329 S.