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Mutter- und Vaterbilder im Familienrecht des BGB 1900–2010

von Moritz Hinz (Autor:in)
©2014 Dissertation 359 Seiten

Zusammenfassung

Die Normen des Bürgerlichen Gesetzbuchs über die Rechtsstellung von Müttern und Vätern im Bereich des Rechts der elterlichen Sorge beruhen zum Teil auf stereotypen Rollenbildern und tradierten Funktionszuschreibungen. Die langlebigsten Vorstellungen bestimmter Charaktere finden sich im Nichtehelichenrecht. Der Autor zeichnet die Entwicklung der Mutter- und Vaterbilder sowohl im Bereich des ehelichen wie auch des nichtehelichen Kindschaftsrechts in historischen Zeitabschnitten nach. Die Untersuchung beginnt mit den Grundlagen des modernen deutschen Familienrechts in der Aufklärung und folgt der Entwicklung über das deutsche Kaiserreich, die Weimarer Republik, die nationalsozialistische Periode bis in die heutige Bundesrepublik. Detailliert untersucht werden dabei die jeweils geltenden Normen, Gesetzesmaterialien, die Rechtsprechung sowie ein breites Spektrum zeitgenössischer rechtswissenschaftlicher Literatur. Der Autor nimmt Stellung zu alten und neuen Stereotypen im Familienrecht wie denen des Zahlvaters und des an seinem nichtehelichen Kinde desinteressierten Vaters und zum Bestehen eines Muttermythos.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Erster Teil – Einführung
  • A. Aufgabenstellung
  • B. Forschungsstand
  • C. Methode
  • Zweiter Teil – Untersuchung des Familienrechts des BGB und seiner Grundlagen
  • A. Grundlagen der Vater- und Mutterbilder im modernen deutschen Familienrecht
  • I. Gleichheitspostulat in Aufklärung und Vernunftrecht
  • II. Gleichheit in der Ehe im Vernunftrecht
  • III. Verhältnis von Vater und Mutter im Vernunftrecht
  • IV. Die Konzeption des Vater-Mutter-Kind-Verhältnisses bei Fichte
  • V. Vaterschaft und moderner Staat am Beispiel Preußens
  • B. Vater und Mutter im Bürgerlichen Gesetzbuch von 1900
  • I. Die Entstehung des BGB
  • 1. Die historische Situation der deutschen Familie vor Inkrafttreten des BGB
  • 2. Anknüpfen an naturrechtliche Vorbilder im Vorlauf zum BGB – Die Verhandlungen des 19. Deutschen Juristentages
  • 3. Entwurf, Verabschiedung und Inkrafttreten des BGB
  • II. Die rechtliche Ausgestaltung der Vater- und Mutterrolle im BGB von 1900
  • 1. Vater und Mutter in der Ehe
  • 2. Vater und Mutter des unehelichen Kindes
  • III. Die Motive zum BGB
  • 1. Patriarch und Zahlvater – Vaterbilder der Motive
  • a. Eheliche und uneheliche Vaterschaft
  • b. Natürliches Übergewicht – die Rolle des Vaters in der ehelichen Familie
  • 2. Die Natur der Dinge und das Ressentiment – Mutterbilder der Motive
  • a. Die Mutter in der Ehe
  • aa. Gleichberechtigte Unterordnung
  • bb. Die natürliche Aufgabe der Mutter – Zuweisung der Personensorge an die Mutter
  • b. Liederlich und leichtsinnig – die Mutter des unehelichen Kindes
  • IV. Vater- und Mutterbilder in der rechtswissenschaftlichen Literatur
  • 1. Die Kritik am Familienrecht des frühen BGB
  • a. Undeutsch und individualistisch – die Kritik Otto von Gierkes
  • b. Klassenkampf im Unehelichenrecht – die Kritik Anton Mengers
  • 2. Vater- und Mutterbilder bei anderen Autoren
  • a. Marianne Weber
  • b. Carl Bulling
  • c. Hermann Jastrow
  • d. Georg Rothe
  • e. Sonstige Autoren
  • C. Entwicklungen des Vater- und Mutterbildes in der Weimarer Republik
  • I. Die Diskussion um die Gleichberechtigung in der Ehe
  • 1. Die Vorgaben der Reichsverfassung
  • 2. Ein erster Schritt der Gesetzgebung – das Gesetz über die religiöse Kindererziehung vom 15.07.1921
  • 3. Die juristische Debatte in der Weimarer Republik
  • II. „Vater Staat“ – das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz von 1922
  • III. Die Reformbestrebungen im Unehelichenrecht und die Mütter und Väter
  • 1. Die Verfassungsvorgabe des Art. 121 WRV
  • 2. Die Entdeckung des unehelichen Vaters
  • 3. Kein Abschied vom Zahlvater – die Vorgaben des 32. Deutschen Juristentages 1921
  • 4. Die Entwürfe der Reichsregierung 1922–1929
  • a. Vorarbeiten
  • b. Der Gesetzentwurf von 1922
  • c. Der Gesetzentwurf vom Mai 1925 (Reichsratsvorlage)
  • aa. Aufwertung des Vaters des unehelichen Kindes
  • bb. Keine Bedenken mehr – Elterliche Gewalt für die ledige Mutter
  • cc. Reaktionen
  • d. Der Gesetzesentwurf der Reichsregierung vom Januar 1929
  • e. Die Agitation der Fürsorgeverbände gegen „Vaterrechte“
  • 5. Fazit zu den Reformbestrebungen im Unehelichenrecht der Weimarer Republik
  • D. Mutterkult und Führerprinzip – Das Vater- und Mutterbild des deutschen Rechts im Nationalsozialismus
  • I. Familie und Familienrecht im Nationalsozialismus
  • 1. Die Ausgangssituation
  • 2. Umwertung und Instrumentalisierung von Ehe und Familie
  • 3. Die neue Rolle der Eltern
  • II. Die Mutterideologie
  • III. Vater und Mutter in der nationalsozialistischen Ehe
  • IV. Verteilung der elterlichen Gewalt nach der Scheidung
  • V. Uneheliche Mütter und Väter im Unehelichenrecht des Nationalsozialismus
  • 1. Unehelichkeit und Nationalsozialismus
  • 2. Reformbestrebungen im Dritten Reich
  • a. Erste Entwürfe und Vorarbeiten
  • b. Entwurf und Scheitern des Nichtehelichengesetzes vom Juli 1940
  • E. Entwicklungen des Vater- und Mutterbildes im Familienrecht der BRD
  • I. Rollenbilder im ehelichen Kindschaftsrechtsrecht nach 1945
  • 1. Das Gleichberechtigungsgesetz von 1957
  • a. Einleitung – Erschütterung und Restauration des Patriarchats
  • b. Zwischenrecht vom 23. Mai 1949 bis zum 30. Juni 1958
  • c. Die gescheiterte Restauration: Bedingungen und Folgen des väterlichen Rechtsverlustes
  • aa. Versuch einer Restauration von Hausfrauenehe und gemäßigtem Patriarchat
  • bb. Rückgriff auf Preußen – Väterliche Autorität und ihre Funktion für den Staat
  • cc. Der Einfluss christlicher Leitbilder – Versuch einer Reklerikalisierung
  • dd. Klarstellung durch das BVerfG
  • 2. Die Entwicklung des Vater- und Mutterbildes nach dem Gleichberechtigungsgesetz
  • a. Das Ende der Hausfrauenehe im Eherecht
  • b. Entwicklungen im Sorgerecht nach Scheidung
  • aa. Die Scheidungsrechtsreform von 1977 und der Ausschluss des Vaters
  • bb. Väter und Gleichberechtigung
  • cc. Die gemeinsame Sorge geschiedener Eltern
  • dd. Der Einfluss nichtjuristischer Theorien auf Vater- und Mutterbild im Scheidungsfolgenrecht
  • (1) Theorien und deren Rezeption
  • (2) Verhältnis zum Vater- und Mutterbild
  • II. Vater- und Mutterbilder in den Reformen des Nichtehelichenrechts nach 1945
  • 1. Reformdebatte und das Familienrechtsänderungsgesetz von 1961
  • a. Elterliche Gewalt als Ausnahmefall – das Familienrechtsänderungsgesetz von 1961
  • b. Die schmale wissenschaftliche Basis
  • 2. Juristische Debatte – der 44. Deutsche Juristentag 1962
  • 3. Das Gesetz über die rechtliche Stellung der nichtehelichen Kinder von 1969 (Nichtehelichengesetz)
  • a. Der „Geist“ der Vorarbeiten
  • b. Das Reformgesetz von 1969
  • aa. Elterliche Gewalt für die ledige Mutter
  • bb. Rechtsstellung des Vaters
  • c. Literaturstimmen
  • aa. Kritik
  • bb. Zustimmung
  • d. Fazit zum Nichtehelichengesetz
  • 4. Das Sorgerechtsgesetz (SorgeRG) von 1979
  • 5. Der Wandel des Vaterbildes in den 1980er Jahren
  • a. Gesellschaftliche Voraussetzungen – die nichteheliche Lebensgemeinschaft
  • b. Auflösung und Wandel alter Stereotype
  • aa. Der „neue“ Vater
  • (1) Väter nichtehelicher Kinder und das BVerfG
  • (2) Väter nichtehelicher Kinder kämpfen um das Umgangsrecht
  • (3) Vaterforschung und „neue Väter“
  • bb. Beibehaltung des „natürlichen“ Muttervorrangs beim Sorgerecht und die Kritik am „Mutter-Mythos“
  • 6. Die Reformen der 1990er Jahre im Kindschaftsrecht und die Wiedervereinigung Deutschland
  • a. Die Reform des Jugendhilferechts von 1991
  • b. Das BGB und die ostdeutschen Mütter und Väter
  • c. Stärkung der Rechtsposition des Vaters durch das BVerfG
  • d. Stärkung der Rechtsposition des Vaters durch den EGMR
  • e. Das Kindschaftsrechtsreformgesetz (KindRG) von 1997
  • aa. Das neue Recht
  • (1) Elterliche Sorge
  • (2) Umgangsrecht
  • (3) Weitere Änderungen
  • bb. Die wissenschaftliche Basis der Reform – soziodemografische Ausgangsdaten
  • (1) Die reinen Zahlen
  • (2) Die Mütter nichtehelicher Kinder in den 1990er Jahren
  • (3) Die Väter nichtehelicher Kinder in den 1990er Jahren
  • (4) Fazit
  • f. Begründung und Tendenzen des neuen Kindschaftsrechts
  • aa. Die natürliche Bindung und der Muttervorrang
  • bb. Der mütterliche Vertrauensvorschuss – Mutterinteresse gleich Kindeswohl?
  • cc. Vaterrechte nur auf Umwegen
  • dd. Kindschaftsrecht und Frauenförderung?
  • 7. Der Umbruch 2010 – Abkehr vom Muttermythos
  • a. Das Urteil des EGMR vom 3. Dezember 2009
  • aa. Sachverhalt und Entscheidung
  • bb. Bedeutung und Reaktionen
  • b. Der Beschluss des BVerfG vom 21. Juli 2010
  • aa. Vorgeschichte – Die Ergebnisse des Prüfauftrages
  • bb. Sachverhalt
  • cc. Entscheidung und Bedeutung
  • dd. Konsequenzen für den Gesetzgeber
  • Dritter Teil – Schlussbetrachtung: Das Mutter- und Vaterbild im deutschen Familienrecht am Beginn des 21. Jahrhunderts
  • A. Das Ende des Vaterbildes im ehelichen Familienrecht
  • B. Beständigkeit des Mutterbildes
  • C. Brüche und Kontinuitäten im Bild der Mütter und Väter nichtehelicher Kinder
  • I. Abklingen des moralischen Ressentiments gegenüber der ledigen Mutter
  • II. Weiterbestehen einer Schwächeposition der ledigen Mutter im Mutterbild
  • III. Späte Abkehr vom Muttermythos
  • IV. Rehabilitierung des nichtverheirateten Vaters
  • D. Reformstand
  • Literaturverzeichnis

Erster Teil – Einführung

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A.  Aufgabenstellung

Das Familienrecht stellt innerhalb des deutschen Zivilrechts mittlerweile eines der am häufigsten und grundlegendsten reformierten Teilrechtsgebiete dar. Von der relativen Beständigkeit etwa des Allgemeinen Teils oder des Sachenrechts ist das Familienrecht des BGB weit entfernt. Deutlich stärker als andere Teilrechtsordnungen des BGB war und ist das Familienrecht seit jeher vom jeweiligen Sozialbild des Gesetzgebers, von dessen Familienbild und dem der Gesamtgesellschaft, von allgemeingesellschaftlichen Auffassungen von Sitte, Anstand und Moral, aber auch von wechselnden gesellschaftspolitischen, kulturellen und gesellschaftstheoretischen Tendenzen beeinflusst und geprägt. Das Recht, und hier insbesondere das Familienrecht, war und ist somit Indikator gesellschaftlicher Verhältnisse.

Das Familienrecht des BGB folgte so im Laufe der Zeit seit seinem Inkrafttreten am Übergang des 19. zum 20. Jahrhunderts zunächst dem Funktions- und Gestaltwandel der Familie. Die Auflösung des patriarchalen Familienverbandes infolge eines radikalen Wandels der agrarisch-ländlichen zur industriell-urbanen Wirtschaftsstruktur brachte soziale, gesellschaftliche und insbesondere ökonomische Veränderungen, denen das Recht früher oder später folgte. Begleitet wurde dies durch einen verstärkt nach 1945 einsetzenden gesamtgesellschaftlichen Liberalisierungsprozess, an dessen vorläufigem Ende weniger die Familie im Zentrum des nach ihr benannten Rechtsgebietes steht als vielmehr die höchstindividualisierten Rechtsbeziehungen personenrechtlich miteinander verbundener Einzelpersonen.

Die Entwicklung des Familienrechts war neben der sozioökonomischen Entwicklung vor allem auch durch Vorgaben der Verfassungsnormen vorangetrieben worden. Dies gilt in geringerem Maße für die Weimarer Reichsverfassung, aber umso stärker für das Bonner Grundgesetz, das sich explizit sowohl als direkt anzuwendendes Recht als auch als bindende Wertordnung verstand. Insbesondere hiervon betroffen war die Gleichberechtigung der Frau und Mutter in Ehe und Familie.

Im Zentrum des einem ständigen Wandlungsprozess unterworfenen Familienrechts und der begleitenden rechtspolitischen Auseinandersetzung stand das Kindschaftsrecht, also die Regelung der gegenseitigen Rechtsbeziehungen von Mutter, Vater und Kind. Die Gemengelage zwischen in höchstem Maße ← 13 | 14 → persönlichen Beziehungen der Beteiligten und einer besonders starken Abhängigkeit von historisch-kulturell bedingten Traditionen und Anschauungen ließ das Kindschaftsrecht seit jeher in erheblichem Umfang auf überlieferten Rollenzuschreibungen und zeitgenössischen Ideologemen basieren. So lagen dem autoritätsbasierten Konzept des einheitlichen und nach außen hin abgeschlossenen Familienmodells des BGB von 1900 gänzlich andere Vorstellungen von der Rolle von Mutter und Vater zugrunde als dem modernen Konzept einer offenen und partnerschaftlichen, dabei aber vollständig auf das Kindeswohl ausgerichteten Kleinfamilie. Unterschiede ergeben sich nicht nur in Hinblick auf die jeweilige Bedeutung von Mutter oder Vater für die Institution Familie, sondern auch und gerade bei der Betrachtung der jeweiligen Rechtspositionen von Mutter und Vater zueinander sowie zum Kind. Die rechtliche Ungleichheit der Eltern, also deren unterschiedliche Ausstattung mit Rechten und Pflichten im Gesetz, aber auch die in Rechtsprechung und Literatur übermittelten Auffassungen darüber zeigen sich über ein Jahrhundert hinweg als in hohem Maße abhängig von den jeweiligen Mutter- und Vaterbildern der Zeit.

Die Wechselwirkung von Familienrecht und den Anschauungen der Zeit ergibt sich auch aus dem Umstand, dass das Familienrecht in besonderem Maße ein „volkstümliches“ Rechtsgebiet ist: Nicht nur stützt sich seine normative Ausrichtung stärker als andere Rechtsgebiete auf gesellschaftlich verankerte Überzeugungen, es hat auch aufgrund seiner speziellen Regelungsmaterie für jeden Bürger, der gewollt oder ungewollt in familiäre Verhältnisse eingebunden ist, eine erhebliche rechtliche wie tatsächliche Relevanz. So sind an speziell familienrechtliche Regelungsbereiche angelehnte Begriffe wie der „Zahlvater“ oder auch der „Vater Staat“ längst in die Umgangssprache eingegangen.

In besonderem Maße gilt die Bedeutung wechselnder Anschauungen für das sich beständig wandelnde Bild lediger Mütter und Väter. Die Erscheinung nichtehelicher1 Eltern- wie Kindschaft war noch in stärkerem Ausmaß als die Institution Familie geprägt von kulturellen, moralisch-sittlichen und insbesondere auch religiösen Anschauungen. Hinzu kam der soziale, zeitweilig auch ein bevölkerungspolitischer Blickwinkel. Angesichts des heute rasant steigenden Anteils nichtehelicher ← 14 | 15 → Geburten insbesondere in Ostdeutschland erneuert sich der Blick auf diese Gruppe ständig und gewinnt daraus eine besondere Aktualität. Für die Entwicklung der stereotypen Vorstellungen von ledigen Müttern und Vätern seit Bestehen des BGB gilt insofern das, was Julius von Staudinger bereits um 1900 formuliert hat:

„In wenigen Parthien des bürgerlichen Rechts haben die grundlegenden rechtlichen Anschauungen im Laufe der Jahrhunderte so sehr gewechselt, wie in Ansehung der rechtlichen Stellung der unehelichen Kinder. Die rechtsgeschichtliche Entwicklung dieser Verhältnisse stellt zugleich ein lehrreiches Stück von Kulturgeschichte dar. Die wechselnden Anschauungen darüber, wie uneheliche Kinder zu betrachten und rechtlich zu behandeln seien, entsprechen in der Regel dem Charakter der Zeit, den jeweiligen sozialen Anschauungen, dem mehr oder minder großen Einfluß humaner Tendenzen.“2

Gegenstand der vorliegenden Arbeit sind damit die im obigen Sinne in Gesetzgebung, Rechtsprechung und Rechtswissenschaft enthaltenen, tradierten und so der juristischen wie der fachfremden Öffentlichkeit vermittelten Mutter- und Vaterbilder im deutschen Familienrecht seit Inkrafttreten des BGB am 1. Januar 1900.

Ausgehend von den tiefgehenden Traditionslinien eines althergebrachten Familienmodells am Ende des 19. Jahrhunderts über den Versuch, dessen Rollenverteilung im Bürgerlichen Gesetzbuch einer neuen Zeit anzupassen, bis hin zu den Diskussionen am Anfang des 21. Jahrhunderts über ein völlig neues Verständnis von Ehe und Familie soll sowohl ein Überblick als auch eine Analyse der Kontinuitäten und Brüche des Mutter- und Vaterbildes im deutschen Recht geleistet werden. ← 15 | 16 →

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  1.  In der derzeitigen Rechtssprache ist der Begriff „nichtehelich“ nach wie vor üblich. Der Begriff der „Unehelichkeit“ war gebräuchlicher Terminus bis zum „Gesetz über die rechtliche Stellung der nichtehelichen Kinder“ vom 19.08.1969, das dann von „nichtehelichen“ Kindern sprach. Erst das Kindschaftsrechtsreformgesetz von 1998 tilgte auch diesen Begriff aus dem BGB. Der Verfasser folgt in der Zeitabfolge aus Gründen der historischen Kongruenz der jeweiligen zeittypischen Terminologie.

  2.  Staudinger, Vorträge aus dem Gebiete des Bürgerlichen Gesetzbuchs für Verwaltungsbeamte, 267.

B.  Forschungsstand

Die rechtswissenschaftliche Literatur zur Historie des Familienrechts im Allgemeinen und zum Kindschaftsrecht im Besonderen hat inzwischen einen bemerkenswerten Umfang erreicht. Die Entstehungsgeschichte des Familienrechts des BGB findet dabei vergleichsweise wenig Beachtung in der rechtshistorischen Forschung.3 Gleiches gilt (noch) für Veröffentlichungen zum Familienrecht im Nationalsozialismus.4 Deutlich umfangreicher wird die Anzahl der Beiträge zur Entwicklung verschiedener Teilaspekte des Familienrechts in der BRD nach 1945.5 ← 17 | 18 →

Eine eingehende Berücksichtigung des Einflusses stereotyper Vorstellungen hinsichtlich der Rechtssubjekte „Mutter“ und „Vater“ bei Gesetzgeber wie Rechtsanwender blieb zumeist aus oder beschränkte sich auf Teilaspekte. Eine gewisse Ausnahme bildet dabei zunächst die Geschichte des Nichtehelichenrechts. Obgleich hier eine Vielzahl der Beiträge die Motive des Gesetzgebers in Hinblick auf die Ausgestaltung des jeweiligen Untersuchungsgegenstandes in unterschiedlichem Umfang darstellen und bewerten,6 fehlt aber bisher eine umfassende Untersuchung der Familienrechtsgeschichte des letzten Jahrhunderts unter dem zentralen Aspekt der zugrunde liegenden Rollenbilder und Stereotypen in den Rechtsverhältnissen von Müttern und Vätern. Dabei erscheint es am Beginn des 21. Jahrhunderts nach einer weitgehenden Gleichstellung von nichtehelichen Kindern wie Eltern und einer zunehmenden Erosion der rechtlichen Vorrangstellung der Institution Ehe angezeigt, beide Formen rechtlich geregelter Mutter- und Vaterschaft gemeinsam zu untersuchen.

Die bisher verfügbaren Beiträge speziell zu stereotypen Rollenbildern im Familienrecht von Scheiwe7, Limbach8, Peschel-Gutzeit,9 Coester-Waltjen10, Lucke11 sowie zuletzt speziell zum Vaterbild Kroppenberg12 waren verdienstvoll, blieben ← 18 | 19 → aber insgesamt doch vereinzelt und aufgrund ihrer Veröffentlichungsform in der Betrachtung notwendig summarisch. Eine umfangreichere Untersuchung zur Rollenverteilung im Wandel des – in der vorliegenden Arbeit nicht behandelten – Unterhaltsrechts findet sich bei Scheiwe/Wersig.13

Die verbleibende Lücke einer umfassenderen Darstellung mit dem Schwerpunkt auf der Entwicklung des Rechts der elterlichen Sorge versucht die vorliegende Arbeit zu schließen. ← 19 | 20 →

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  3.  des Bürgerlichen Gesetzbuches, 2003; Lehmann, Die Ehefrau und ih So noch der Befund von Meder, Rechtsgeschichte, 3. Auflage, 322. Dennoch können hier inzwischen als grundlegende Arbeiten zur Entstehungsgeschichte des BGB-Familienrechts genannt werden: Duncker, Gleichheit und Ungleichheit in der Ehe. Persönliche Stellung von Frau und Mann im Recht der ehelichen Lebensgemeinschaft 1700–1914, 2003; Berneike, Die Frauenfrage ist Rechtsfrage. Die Juristinnen der deutschen Frauenbewegung und das Bürgerliche Gesetzbuch, 1995; Baumgarten, Die Entstehung des Unehelichenrechts im Bürgerlichen Gesetzbuch, 2007; Grimme, Die Entwicklung der Emanzipation der Frau in der Familienrechtsgeschichte bis zum Gleichberechtigungsgesetz 1957. Unter besonderer Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte des Bürgerlichen Gesetzbuches, 2003; Lehmann, Die Ehefrau und ihr Vermögen. Reformforderungen der bürgerlichen Frauenbewegung zum Ehegüterrecht um 1900, 2006.

  4.  Hier wären etwa zu nennen Mammeri-Latzel, Justizpraxis in Ehesachen im Dritten Reich, 2002; Kannappel, Die Behandlung von Frauen im nationalsozialistischen Familienrecht, 1999; Liebler-Fechner, Der ideologisch motivierte Entzug des elterlichen Sorgerechts in der Zeit des Nationalsozialismus, 2001; Unwerth, Die Rassenmischehe in den Entscheidungen des Reichsgerichts und der Landgerichte Hamburg und Altona (1933–1944), 2005.

  5.  Für das vorliegende Thema relevant etwa Grimme, Die Entwicklung der Emanzipation der Frau in der Familienrechtsgeschichte bis zum Gleichberechtigungsgesetz 1957; Franzius, Bonner Grundgesetz und Familienrecht. Die Diskussion um die Gleichberechtigung von Mann und Frau in der westdeutschen Zivilrechtslehre der Nachkriegszeit (1945–1957), 2005; Fischer, Die Novellierung des Familienrechts unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsstellung der Ehefrau und Mutter in der Zeit von 1945 bis 1983, 1989; Vaupel, Die Familienrechtsreform in den fünfziger Jahren im Zeichen widerstreitender Weltanschauungen, 1999; Wendrich, Die Entwicklung der familienrechtlichen Entscheidungsbefugnisse der Ehefrau. Vom BGB bis zum Gleichberechtigungsgesetz vom 18.06.1957, 2002; Köhler, Die Sorgerechtsregelung bei Ehescheidungen seit 1945. Scheidungsstrafe und verordnete Gemeinsamkeit, 2006.

  6.  Insbesondere für das Nichtehelichenrecht tun dies Wagner, Die Reformbestrebungen zur Neugestaltung des Nichtehelichenrechts, 1971; Baumgarten, Die Entstehung des Unehelichenrechts im Bürgerlichen Gesetzbuch, 2007; Schumann, Die nichteheliche Familie. Reformvorschläge, 1998; Hochleitner, Die rechtliche Stellung nichtehelicher Kinder vor und nach 1970. Ein Vergleich der Zielsetzungen 1900 und 1970 anhand von vier Teilkomplexen, 1982.

  7.  Scheiwe, Vaterbilder im Recht seit 1900, in: Bereswill/Scheiwe/Wolde (Hrsg.), Vaterschaft im Wandel – Multidisziplinäre Analysen und Perspektiven aus geschlechtertheoretischer Sicht, 2006, 37 ff.

  8.  Limbach, Väter im Wandel des Rechts, Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie, 8. Jahrgang, Heft 4, 1988, 298 ff.

  9.  Peschel-Gutzeit, Die geschichtliche Entwicklung der Vaterstellung im deutschen Recht seit 1900, FPR 2005, 167, 172.

  10.  Coester-Waltjen, Die Rollen der Geschlechter im deutschen Familienrecht seit 1900, StAZ, Nr. 2, 1992, 34 ff.

  11.  Lucke, Mutterbilder im Recht. Von Rechtsschöpfern und Müttermachern, in: Schuchard/Speck (Hrsg.), Mutterbilder – Ansichtssache, 1997, 133 ff.

  12.  Kroppenberg, Vaterbilder des modernen Zivilrechts, in: Kroppenberg/Löhnig, (Hrsg.), Fragmentierte Familien. Brechungen einer sozialen Form in der Moderne, Bielefeld 2010, 89 ff.

  13.  Schweiwe/Wersig (Hrsg.), Einer zahlt und eine betreut? Kindesunterhaltsrecht im Wandel, 2010.

C.  Methode

Die Methode bei der Bearbeitung der Aufgabenstellung folgt zunächst weitgehend einer chronologischen Darstellung der Entwicklungsschritte im Familienrecht des BGB. Fixpunkt der Darstellung ist zum einen das Rechtsverhältnis von Mutter und Vater zum Kind sowie dessen Begründung im Hinblick auf jeweilige stereotype (Rollen-)Bilder. Zum anderen wird das sich ergebende Ausmaß der unterschiedlichen Ausstattung mit Rechten und Pflichten im Rechtsverhältnis zum Kind und zueinander ausgeleuchtet und wiederum unter den Aspekten der Gleichberechtigung und des stereotypen Rollen- und Geschlechterbildes diskutiert. Begleitend sollen die sich ergebenden Kontinuitäten oder Abbrüche dieser Bilder betont und herausgearbeitet werden.

Obgleich sich die Aufgabenstellung der Arbeit thematisch auf das Familienrecht des BGB konzentriert, werden im ersten Teil der Arbeit zunächst die Grundlagen familienrechtlicher Mutter- und Vaterbilder im deutschen Recht untersucht. Die Arbeit beginnt daher mit der Darstellung des Rechtsverhältnisses von Frau und Mann in der Ehe im Allgemeinen und von Mutter und Vater im Besonderen im Vernunftrecht des 18. Jahrhunderts. Ich gehe dabei von dem Gedanken aus, dass mit den Idealen der Aufklärung, der rechtlichen Gleichheit bei gleichzeitigem Begründungszwang für dennoch bestehende rechtliche Ungleichheiten, das gedankliche Fundament für jegliche nachfolgende Gleichheitsdebatte im deutschen Familienrecht bis ins beginnende 21. Jahrhundert gelegt wurde. Zusammen mit der nachfolgenden Darstellung des Ausgreifens des modernen Wohlfahrtsstaates auf familiäre Verhältnisse am Beispiel Preußens sind damit nach meiner Auffassung die Grundlagen der künftigen Tendenzen des deutschen Familienrechts nach 1900 aufgezeigt. Als letzten Aspekt der Grundlagen des BGB wird ein spezifizierter Überblick gegeben über die historische Situation der deutschen Familie zum fraglichen Zeitpunkt des Übergangs der vorindustriell-agrarischen zur industrialisierten Massengesellschaft. Dargelegt wird ebenfalls die Etablierung zeitgenössischer Geschlechtercharaktere.

Der zweite Abschnitt setzt sich mit der ursprünglichen Fassung des BGB zu Beginn des 20. Jahrhunderts auseinander. Analysiert werden neben den Materialien zum BGB und der zeitgenössischen familienrechtlichen Literatur auch bedeutende Kritiker des neuen Familienrechts. Die Betrachtung der jeweiligen Mutter- und ← 21 | 22 → Vaterbilder orientiert sich dabei parallel zur strengen Statustrennung der Zeit an der Unterteilung in eheliches und nichteheliches Kindschaftsrecht. Diese gesonderte Darstellung von ehelichem und nichtehelichem Kindschaftsrecht wird dabei bis zum Ende der Arbeit beibehalten. Sie wird nur dort durchbrochen, wo eine vergleichende Darstellung erforderlich ist.

An das Ende des deutschen Kaiserreiches anschließend wird unter Zugrundelegung der für das Thema wesentlichen Punkte der Weimarer Reichsverfassung die Reformdebatte in der ersten deutschen Demokratie dargestellt. Breiten Raum gibt der Autor der sich anschließenden äußerst dynamischen Reformgesetzgebung und ihrem letztendlichen Scheitern. Bei der umfangreichen Darstellung und Bewertung dieser und aller nachfolgenden Gesetzgebungsprojekte legt der Verfasser die Ansicht zugrunde, daß der moderne Staat seit Mitte des 19. Jahrhundert zunehmend zum Hauptakteur der Einflussnahme auf familiäre Verhältnisse geworden ist. Als neu hinzugetretene Akteure im familienrechtlichen Raum dagegen werden nun auch die Berufsvormundschaft sowie die Fürsorgeverbände in die Darstellung aufgenommen.

Für die nationalsozialistische Dekade war wiederum eine verstärkte (Neu-)Einordnung der familienrechtlichen Thematik in den politischen und ideologischen Kontext der Zeit erforderlich.

Der nachfolgende Abschnitt über Restauration und Fortentwicklung des familienrechtlichen Vater- und Mutterbildes in der jungen Bundesrepublik folgt wiederum chronologisch der Entwicklung im ehelichen wie nichtehelichen Kindschaftsrecht und seiner grundlegenden gesellschaftlichen Begleitentwicklungen. Die Wechselwirkung zwischen sozialen Trends und rechtlicher Modernisierung wird nun verstärkt diskutiert. Eine besondere Berücksichtigung erfährt dabei die gesellschaftliche wie auch nachfolgend rechtliche Etablierung nichtehelicher Lebensgemeinschaften in den 1980er Jahren. Als Kulminationspunkt dieser Entwicklung wird ebenfalls ein besonderes Augenmerk auf die Entscheidungen des EGMR und des BVerfG am Ende des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts gerichtet.

Details

Seiten
359
Erscheinungsjahr
2014
ISBN (PDF)
9783653044164
ISBN (MOBI)
9783653981315
ISBN (ePUB)
9783653981322
ISBN (Paperback)
9783631652558
DOI
10.3726/978-3-653-04416-4
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Juli)
Schlagworte
Rechtsgeschichte Nichtehelichenrecht Sorgerecht Rollenbilder
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 359 S.

Biographische Angaben

Moritz Hinz (Autor:in)

Moritz Hinz ist promovierter Volljurist. Er studierte Rechtswissenschaften an der Universität Göttingen und ist derzeit als Rechtsanwalt in Eutin tätig.

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