Der Zweite Weltkrieg im polnischen und deutschen kulturellen Gedächtnis
Siebzig Jahre danach (1945–2015)
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Jerzy Kałążny - Zwischen Geschichte und Erinnerung. Der Zweite Weltkrieg in der deutschen Literatur der letzten zwei Jahrzehnte
- Dominika Gortych - Von der Treue des Zeugnisses bis hin zum mythischen Phantasma. Der Zweite Weltkrieg in polnischer Literatur
- Thomas Thiemeyer - Vielstimmig und nah am Menschen. Wie deutsche Museen heute an den Zweiten Weltkrieg erinnern
- Bartosz Korzeniewski - Das veränderte Bild des Zweiten Weltkriegs in polnischen Museen nach
- Eckhard Pabst - Der Zweite Weltkrieg im deutschen TV- und Kinofilm zwischen 1946 und
- Amelia Korzeniewska - Liminalität und Post-Erinnerung. Der Zweite Weltkrieg im polnischen Spielfilm nach
- Über die Autorinnen und Autoren
Der siebzigste Jahrestag des Kriegsendes veranlasst zum Nachdenken über die Art und Weise der Erinnerung an dieses Ereignis. In der Erinnerungsforschung wird oft die die Eigenart des Zeitraumes hervorgehoben, in dem Erinnerungen aus dem kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis übergehen und damit nicht mehr als Erlebnisse der Zeitzeugen zu betrachten sind, sondern zum Handlungsgegenstand von Gedächtnisinstitutionen werden. Dieser Übergang induziert Veränderungen sowohl in Bezug auf den Gegenstand als auch die Weise des Erinnerns. Ein forschender Blick auf die seit dem Kriegsende vergangene Zeit lässt die Feststellung zu, dass heute innerhalb der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg tiefgreifende Veränderungen stattfinden. Die noch lebenden Zeitzeugen und Kriegsteilnehmer haben andere Prioritäten als die Nachgeborenen, die den Krieg nur aus Familienerzählungen bzw. medialer Überlieferung kennen. Die ersteren suchen in der Erinnerung nach Bestätigung ihrer Erfahrungen und nach Legitimierungen ihrer Entscheidungen. Individuelle Erinnerungen sind stets mit starken Emotionen verbunden, denn für die Zeitzeugen sind ihre Erfahrungen nicht selten schmerzhaft und daher nur schwer zuzulassen. Dies gilt vor allem für Erinnerungen an eigenes Verhalten, das sie in einem ungünstigen Licht erscheinen lässt. Starke Emotionen, die an das Erinnern von Vergangenheit gekoppelt sind, lassen Erinnerungen Anderer kaum zu. Für nachgeborene Generationen, in denen die Weltkriegserinnerung an den Zweiten Weltkrieg nicht von persönlichen Emotionen begleitet sind, wird die Frage relevant, wie es eigentlich gewesen ist. Ihre Vertreter können sich, wenngleich nicht immer, von der Vergangenheit distanzieren, was oft in die Versuche mündet, das Bild dieser Vergangenheit zu revidieren.
Anders erzählt man über den Krieg in Anlehnung an das Familiengedächtnis, wiederum anders, wenn es Institutionen tun, die zur Aufbewahrung des kulturellen Gedächtnisses berufen sind. Die Art und Weise des Erinnerns hängt im Familiengedächtnis davon ab, ob man den Vorfahren Loyalität entgegenbringt, was oft eine Beschönigung des Vergangenheitsbildes nach sich zieht. Der Schwund des Zeitzeugengedächtnisses wirft die Frage auf, welche Erinnerung wir aufbewahren wollen. An solchen Wendepunkten werden öffentliche Vergangenheitsdebatten intensiver. Das institutionell gepflegte Gedächtnis wird durch Loyalität der eignen Gemeinschaft gegenüber determiniert. Es geht aber oft über ihre Grenzen hinweg. Deshalb ist das institutionell gestützte Gedächtnis so differenziert. Es vermag pädagogische und emanzipatorische Funktionen auszuüben und verdrängte bzw. gar vergessene heikle Erinnerungen wieder zum Objekt des Interesses zu machen. ← 7 | 8 →
Sieben Jahrzehnte nach Kriegsende werden politische Instrumentalisierungen des Krieges immer schwächer. Der russisch-ukrainische „Krieg der Erinnerung“ an den sog. Vaterländischen Krieg, der seine Ursache im politischen und militärischen Konflikt zwischen diesen Staaten hat, scheint eher eine Abweichung von dieser Tendenz zu sein. Obwohl der Zweite Weltkrieg weiterhin starke Emotionen generiert, die man nach wie vor politisch auszuspielen versucht, wird seine differenzierte Erinnerung zunehmend im Bereich der Kultur gestaltet. Das erinnerungskulturelle Bild des Zweiten Weltkrieges ist viel differenzierter als sein erinnerungspolitisches Bild. Politische Erinnerung bedarf weitgehender Vereinfachungen, was aus dem Bedürfnis resultiert, die an die Gesellschaft adressierte Überlieferung stark symbolisch aufzuladen und sie dadurch möglichst lesbar zu machen. Im Falle des kulturellen Gedächtnisses ist das Repertoire von Erinnerungsträgern viel größer.
Das Hauptthema des vorliegenden Sammelbandes ist das Bild des Zweiten Weltkrieges im polnischen und deutschen kulturellen Gedächtnis. Dieses Bild evolvierte in den vergangenen 70 Jahren sowohl in Polen als auch in Deutschland unter dem Einfluss verschiedener Faktoren, nicht zuletzt politischer Veränderungen. Im Zentrum des Interesses der Autoren dieses Bandes steht aber die Wandlung des Bildes des Zweiten Weltkrieges, die sich in der Erinnerungskultur in den letzten 25 Jahren, also nach der Wende von 1989 in Polen und nach der Vereinigung 1990 in Deutschland, vollzogen hat. Diese Perspektive öffnet den Blick auf das Zusammenspiel der Veränderungen, die sich aus dem Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis ergeben, mit denen, die durch neue politische Situation bzw. neue erinnerungskulturelle Tendenzen bedingt sind. Dies bedeutet aber nicht, dass die Zeit vor der Wende völlig aus der Betrachtung ausgeklammert wurde. Ihre wenngleich kursorische Skizzierung dient als historische Folie, um die Veränderungen nach 1989/1990 plausibler präsentieren zu können. Eine Gesamtbetrachtung der erinnerungskulturellen Bilder des Zweiten Weltkrieges in den vergangenen 70 Jahren, wie faszinierend sie als Forschungsvorhaben auch immer sein mochte, würde aber den knapp bemessenen Rahmen dieser Publikation sprengen.
Die Frage nach dem Wandel des Kriegsbildes in der polnischen und deutschen Erinnerungskultur in den vergangenen 25 Jahren wurde in Bezug auf drei Erinnerungsträger gestellt, denn diesen Wandel kann man durch die Betrachtung verschiedener Erinnerungsträger festhalten. Drei von ihnen: Literatur, Film und Museum sind wegen ihres prägenden Einflusses auf das kulturelle Gedächtnis für die Autoren dieses Bandes von besonderer Relevanz.
Der Leser wird unschwer selbst nach der Lektüre beider literarhistorischer Beiträge Ähnlichkeiten und Unterschiede in der Behandlung der Kriegsproblematik in der polnischen und deutschen Literatur finden. Hier wollen wir nur auf ← 8 | 9 → einige stillschweigende Annahmen hinweisen, die die inhaltliche Gestaltung der Darstellung jeweils entscheidend prägten. Einer näheren Erklärung bedarf wohl der verwendete Literaturbegriff und einige Einschränkungen in seinem Gebrauch, die den Spezifika der jeweiligen Literatur gerecht werden. Bei der Darstellung der kriegsbezogenen Literatur haben wir uns weitgehend auf fiktionale Prosa beschränkt, die vor allem durch die Gattungen Roman und Erzählung repräsentiert wird. Das bedeutet natürlich nicht, dass lyrische Dichter und Dramatiker zum Thema Krieg nichts zu sagen hätten. Im Gegenteil, Gedicht und Drama sind nach wie vor wichtige Mittel der Geschichtsreflexion, was man besonders deutlich in der polnischen Literatur sieht. Dennoch aber scheint eben die Prosa das wichtigste Segment der sog. Erinnerungsliteratur zu sein, in der – neben dem individuellen und kollektiven Erinnern an den Zweiten Weltkrieg – das zweite zentrale Thema die theoretische Reflexion über das Gedächtnis und seine Wirkungsmechanismen ist. Das Sujet der gegenwärtigen Erinnerungsliteratur bildet die traumatisierte Erinnerung an diesen Abschnitt in der Geschichte, den wir mit dem Sammelbegriff „Zweiter Weltkrieg“ benennen. Im Falle (nicht nur) literarischer Aufarbeitung des Krieges geht es um mehrere Ereignisse und Vorgänge von unterschiedlicher Dynamik: militärische Handlungen, Kriegsgefangenschaft, Okkupation, Holocaust u.a., und in Falle der deutschen Literatur auch um das Leid der Zivilbevölkerung und die NS-Zeit als generationelle Formationszeit. Polnische und deutsche Schriftsteller interessiert weniger Ereignisgeschichte, als vielmehr historische Reminiszenzen, Nachbilder und Phantasmen. Will man sie zur Darstellung bringen, muss man zunächst in die Psyche der literarischen Figuren eindringen und Emotionen zu verstehen versuchen, die die Aufarbeitung sowohl individueller als auch generationeller und familiärer Vergangenheit begleiten. Fiktionale Literatur scheint diese Aufgaben besser erfüllen zu können als die um Objektivität und Distanz bemühte Geschichtswissenschaft. Der Zweite Weltkrieg ist – trotz der wachsenden Zeitdistanz – weiterhin ein literarisch darstellbarer wichtiger Bezugspunkt in den polnischen und deutschen öffentlichen Debatten über Gegenwart, nationale Identität und das Verhältnis zur eigenen Geschichte, also – in etwas zugespitzter Formulierung gesagt – im Prozess des „Sich-Neuerfindens“ von Polen und Deutschen nach 1989/1990. Ausmaß und Komplexität der literarischen Aufarbeitung der Kriegsproblematik nötigten uns zur Fokussierung einiger ausgewählter Aspekte. In dem Beitrag über die deutsche Erinnerungsliteratur ging es vor allem um die Literatur als Medium deutscher „Basiserzählung“, also – zugespitzt formuliert – eine Erzählung darüber, wie die Deutschen von den Nazis „verführt“ wurden, was sie während des Krieges taten und wie sie Kriegsfolgen überwunden haben. Aus diesem Grund wurden österreichische und jüdische Autoren (mit wenigen, in diesem Zusammenhang irrelevanten Ausnahmen) aus ← 9 | 10 → der Betrachtung herausgenommen, weil ihre Kriegsnarrationen sich nicht in den Rahmen der genannten deutschen „Basiserzählung“ integrieren lassen.
Darüber hinaus ist hier auf den generationellen Charakter des Gedächtnisses hinzuweisen, welcher in der Literatur wohl deutlicher als in anderen Gedächtnisträgern zum Vorschein kommt. Das Phänomen der Generationalität gilt selbstverständlich nicht nur für die Leser, die den Krieg zunehmend nur aus medialen Überlieferungen kennen, sondern vor allem für die Schriftsteller. Der Übergang vom narrativen zum performativen Modus des Erzählens und Strategien der Konstruktion von Vergangenheitsbildern haben in den beiden Literaturen einen generationellen Charakter, was wir auch darzustellen versuchten.
Das durch Spielfilme vermittelte Bild der Vergangenheit wirkt – wegen der fortgeschrittenen Medialisierung des Gedächtnisses – besonders stark auf das kollektive Gedächtnis moderner Gesellschaften ein. Eben der Spielfilm ist jene Kunstform, die in Meinungsumfragen am häufigsten als Wissensquelle über den Zweiten Weltkrieg genannt wird. Spielfilme stützten nicht nur das kulturelle Langzeitgedächtnis ab, sondern bilden auch ein Reservoir von Motiven, die in das kommunikative Gedächtnis, insbesondere in das Familiengedächtnis, eingebaut werden. Gegenstand beider Film-Beiträge sind Kino- und TV-Filme über den Zweiten Weltkrieg, die bis 2015 in Polen und Deutschland entstanden sind. Die Auswahl einiger repräsentativer Beispiele war angesichts des extrem weiten Forschungsfeldes unentbehrlich. Unberücksichtigt sind daher in unseren Darstellungen Kurzfilme, die eher seltenen Trickfilme sowie Dokumentarfilme geblieben. Der Autor des Beitrags über den deutschen Film wählte einige exemplarische Beispiele, ohne auf Filme einzugehen, die das Kriegsgeschehen nur indirekt (als Biografien oder in retrospektiven Schilderungen von Handlungsmotivationen der Figuren) darstellen bzw. über die Nachkriegszeit erzählen. Die Erkenntnis, dass TV- und Kinofilme über den Zweiten Weltkrieg angesichts des mangelnden Geschichtswissens der jungen Generation eine wichtige Wissensquelle sind, die ihnen Einsicht ins Kriegsgeschehen ermöglicht, ließ die – im Hinblick auf polnische und deutsche historische Debatten – wichtigsten Filme in den Blick nehmen, die zu einer „Wiederentdeckung“ der Kriegszeit beitragen. Dies gilt insbesondere für den TV-Dreiteiler Unsere Mütter, unsere Väter, der beim deutschen Publikum großes Interesse erweckte und in Polen kontrovers aufgenommen wurde.
Museen gehören als Institutionen der Gedächtnisaufbewahrung zu den wichtigsten Stützen des kulturellen Gedächtnisses. Da die Zeitzeugen allmählich aussterben, fällt den Museen die Aufgabe zu, das Langzeitgedächtnis über den Zweiten Weltkrieg zu gestalten. Wie aber die Wehrmachtausstellung von 1995 zeigt, kann eine historische Ausstellung das Familiengedächtnis stimulieren und ← 10 | 11 → zum Revidieren der im kollektiven Gedächtnis der Deutschen tief verwurzelten Vorstellungen beitragen. Die durch diese Ausstellung initiierte öffentliche Debatte führte zu einer tiefen Veränderung innerhalb der deutschen Kriegserinnerung. Museale Ausstellungen werden manchmal zu Impulszündern, die Prozesse der Tradierung von Erinnerungen zwischen der Generation der Kriegsteilnehmer und der Enkelgeneration in Gang setzen. Ein Beispiel hierfür ist das Museum des Warschauer Aufstandes in Warschau, welches entscheidend zur Wiederbelebung der polnischen Erinnerung an dieses Ereignis beigetragen hat.
Gegenstand der Untersuchung sind Ausstellungen in historischen Museen, die den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust darstellen. Im Falle polnischer Museen wurden Ausstellungen in den schon vorhandenen bzw. erst im Entstehen begriffenen musealen Einrichtungen berücksichtigt. Die einschlägige Zäsur bildet dabei Mitte 2015. Unberücksichtigt sind dagegen Ausstellungen geblieben, die von anderen Institutionen, wie Biuro Edukacji Publicznej IPN [Büro für Öffentliche Edukation am Institut für Nationales Gedächtnis] oder dem Deutschen Historischen Institut in Warschau, veranstaltet wurden. In dem Beitrag über deutsche Museen wurde, neben den Ausstellungen, in denen die Anthropologisierung des Zweiten Weltkrieges fokussiert wird, auch die genannte Wehrmachtausstellung präsentiert, obwohl sie nicht von einem Museum, sondern vom Hamburger Institut für Sozialforschung (HIS) organisiert wurde. Diese Ausnahme ergibt sich aus ihrer besonderen Rolle in der Gestaltung deutscher Kriegserinnerung. Die von einem großen medialen Interesse begleitete Ausstellung wurde von einigen Hunderttausend Zuschauern besucht und erweckte zahlreiche politische Kontroversen.
Die genannten drei Bereiche des kulturellen Gedächtnisses sind miteinander eng verbunden. Diese gilt insbesondere für Literatur und Film, denn literarische Werke dienten oft als Vorlagen für die Drehbücher von Kriegsfilmen. In diesem Zusammenhang sei auf folgende polnische Spielfilme hingewiesen: Wielki Tydzień, Pierścionek z orłem w koronie und Wyrok na Franciszka Kłosa von Andrzej Wajda, Wenecja i Daleko od okna von Jan Jakub Kolski, Boża podszewka von Izabela Cywińska, Cynga von Leszek Wosiewicz, Wszystko co najważniejsze von Robert Gliński und W ciemności von Agnieszka Holland. Zusammenhänge bestehen auch zwischen musealen Ausstellungen und Kriegsfilmen. Dies stellt die Wehrmachtaustellung unter Beweis, die den in der westdeutschen Kinematografie weitgehend etablierten Mythos der „sauberen Wehrmacht“ zerstörte.
Details
- Seiten
- 218
- Erscheinungsjahr
- 2016
- ISBN (PDF)
- 9783653053647
- ISBN (MOBI)
- 9783653973099
- ISBN (ePUB)
- 9783653973105
- ISBN (Hardcover)
- 9783631659458
- DOI
- 10.3726/978-3-653-05364-7
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2016 (März)
- Schlagworte
- Filmkunst Museumswesen Erinnerungskulturen Literatur
- Erschienen
- Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 218 S.
- Produktsicherheit
- Peter Lang Group AG