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Möglichkeiten und Grenzen einer statutarischen Haftungszurechnung von Fanausschreitungen zu den Vereinen aus verfassungsrechtlicher Sicht

von Stephanie Fickenscher (Autor:in)
©2015 Dissertation 296 Seiten

Zusammenfassung

Die Autorin beschäftigt sich mit der aktuellen Problematik des haftungsrechtlichen Umgangs mit Zuschauerausschreitungen bei Sportveranstaltungen sowie der Verfassungsmäßigkeit von Verbandsstrafen, die z. B. durch FIFA, UEFA oder DFB gegenüber Fußballvereinen verhängt werden. Sie thematisiert Fragen des Sportrechts und des Gesellschaftsrechts sowie zivilrechtliche Haftungsansprüche einschließlich der sogenannten strict liability und durchleuchtet eingehend die zugrunde liegenden verfassungsrechtlichen Voraussetzungen und Grenzen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • A Einleitung
  • I. Verfassungsrechtliche Bedeutung des Sports
  • II. Haftung für Fanausschreitungen
  • III. Probleme bei der Haftung für Fanausschreitungen
  • IV. Gang der Untersuchung
  • B Begriffe und Begriffsverwendung
  • I. „Anhänger“ und Fangruppierungen
  • 1. Begriff „Anhänger“ im Sinne von UEFA-RPO/FIFA-Disziplinarreglement/DFB-RuVO
  • 2. Fangruppierungen
  • a) Kuttenfans
  • b) Hooligans
  • c) Ultras
  • i) Begriff
  • ii) Unterschied zu Hooligans
  • iii) Feindbilder
  • 3. Hooltras
  • 4. Supporter
  • II. Ausschreitungen/konkrete Probleme
  • 1. Bengalische Feuer
  • 2. Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus
  • 3. Schwulenfeindlichkeit und Sexismus
  • 4. Problemlösungsversuche in der Praxis
  • III. Fazit
  • C Die Statutarische Bindung
  • I. Sportverein/Sportverband
  • 1. Der Verein im BGB
  • 2. Idealverein und Nebenzweckprivileg
  • 3. Auslagerung der Profisportabteilung
  • 4. Sportverbandsstruktur (insbesondere im Fußball)
  • 5. Ein-Platz-Prinzip
  • II. Bindung an Verbandsregeln
  • 1. Problem: „Mittelbare“ Mitglieder
  • a) Bindung bereits durch Verbandsmitgliedschaft des Vereins?
  • b) Bindung nur durch privatrechtliche Willenserklärung
  • c) Zwischenergebnis
  • 2. Rechtsgrundlagen für eine Bindung an Verbandsnormen
  • a) Unterschiedliche Behandlung?
  • b) Individualrechtliches Modell
  • c) Korporationsrechtliches Modell
  • i) Doppelmitgliedschaft
  • ii) Bestimmung in der Vereinssatzung oder „Satzung zugunsten Dritter“
  • iii) Satzungsmäßige Doppelverankerung
  • (1) Bestimmtheitsgrundsatz
  • (2) Verbot dynamischer Verweisungen
  • d) Beispiel Fußballbundesliga
  • III. Sportgerichtsbarkeit
  • 1. Eigene Sportgerichte
  • a) Befugnis der Vereine zur eigenen Gerichtsbarkeit
  • b) Sog. echte Schiedsgerichte
  • c) „Echte“ Schiedsgerichte und Vereinsgerichte
  • 2. CAS/TAS
  • 3. DFB-Schiedsgerichtsbarkeit
  • D Das Problem: Strict liability und Deutsches Recht
  • I. Inhalt der strict liability
  • II. Strict-liability-Regelungen in Verbandsregelwerken
  • 1. UEFA-Rechtspflegeordnung (RPO)
  • 2. FIFA-Disziplinarreglement Ausgabe 2011 (FDC)
  • 3. DFB-Rechts- und Verfahrensordnung 2001 (DFB-RuVO)
  • 4. Fazit
  • III. Die Rechtsnatur von Vereins-/Verbandsstrafen
  • 1. CAS-Rechtsprechung
  • 2. Sprachliche Nähe zum Strafrecht?
  • 3. Strukturelle Vergleichbarkeit mit Strafrecht?
  • 4. Zwischenergebnis
  • IV. Sportschäden und das deutsche Zivilrecht mit seiner Verschuldenshaftung
  • 1. Haftungsregime im deutschen Zivilrecht
  • a) Verschuldenshaftung
  • i) Inhalt
  • ii) Geschichtliche Entwicklung und Wertorientierung der Verschuldenshaftung
  • b) Gefährdungshaftung
  • i) Inhalt
  • ii) Wertorientierung der Gefährdungshaftung
  • iii) Geschichtliche Entwicklung der Gefährdungshaftung
  • 2. Veranstalterhaftung nach deutschem Zivilrecht
  • a) Wer haftet?
  • b) Haftung des Vereins aufgrund Verletzung vertraglicher Schutzpflichten aus §§ 280 I, 241 II BGB
  • i) Zuschauervertrag
  • ii) Vertrag mit Sportler
  • iii) Schutzpflichten des Veranstalters nach § 241 II BGB (ggf. i.V.m. § 311 II BGB)
  • iv) Zuschauer als Erfüllungsgehilfen des Sportveranstalters?
  • c) Haftung des Vereins aufgrund Verletzung deliktischer Verkehrssicherungspflichten aus § 823 I BGB
  • d) Inhalt und Umfang der Verkehrssicherungspflichten
  • i) Vorhersehbarkeit
  • ii) Zumutbarkeit
  • iii) Konkrete Sicherheitsmaßnahmen
  • e) Verschuldenserfordernis
  • 3. Zwischenergebnis
  • V. Vereinbarung einer strict liability
  • 1. Rechtfertigungsbedürfnis oder Sonderstatus des Sports?
  • 2. Rechtfertigungsansätze der Vereinbarung einer strict liability mittels Zivilrecht
  • a) Analogie zu § 1004 BGB
  • b) Besondere Form der Gefährdungshaftung?
  • c) Zwischenergebnis: Bestrafung ohne Verschulden als Verstoß gegen höherrangiges Recht?
  • 3. Lösung über Verfassungsrecht?
  • a) Drittwirkung der Grundrechte
  • i) Unmittelbare Drittwirkung
  • ii) Mittelbare Drittwirkung
  • b) AGB-Kontrolle nach §§ 307 ff. BGB?
  • c) Gesellschaftsrecht
  • d) Zwischenergebnis
  • E Verfassungsrechtlicher Lösungsansatz
  • I. Grundrechte von Zuschauern und Fans – muss der Verein auch für „erlaubte Fanausschreitungen“ Haften?
  • II. Grundrechte der Verbände und Vereine
  • 1. Vereinigungsfreiheit – Art. 9 I GG
  • a) Ideen- und verfassungsgeschichtlicher Hintergrund
  • b) Vereinigungsfreiheit außerhalb des Grundgesetzes
  • i) Internationale Menschenrechtspakte
  • (1) Art. 20 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR)
  • (2) Art. 22 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR)
  • ii) Auf Europaebene
  • (1) Art. 12 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ChGrEu) i.V.m. Art. 6 III EU/Art. 165 AEUV
  • (2) Art. 11 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)
  • c) Personeller Schutzbereich
  • d) Sachlicher Schutzbereich
  • 2. Autonomie des Sports – Art. 9 I GG
  • a) Staatsfreier Raum des Sports?
  • b) „Autonomie“ – Begriff und Bedeutung in Bezug auf Sport
  • c) Abgrenzung des Sporttypischen
  • d) Problem: Monopol und Missbrauch von Verbandsmacht
  • 3. Berufsfreiheit - Art. 12 I GG
  • a) Sachlicher Schutzbereich
  • b) Persönlicher Schutzbereich
  • c) Drei-Stufen-Lehre/Verhältnismäßigkeit
  • d) Bedeutung für den Sport
  • 4. Privatautonomie – Art. 2 I GG
  • a) Privatautonomie und Vertragsfreiheit (Begriff und Inhalt)
  • b) Grundlage im Grundgesetz
  • i) Art. 2 I GG
  • ii) Art. 1 I GG
  • 5. Anwendbarkeit des Art. 2 I GG im Verhältnis zu Art. 9 I GG und Art. 12 I GG
  • a) Grundsatz des Vorrangs der Spezialgrundrechte und das „Doppelgrundrecht“ des Art. 9 I GG
  • b) Vereinbarung einer Verbandsstrafe zwischen Verband und Verein: Anwendungsbereich von Art. 9 I GG oder Art. 2 I GG?
  • III. Die Frage einer Verankerung des Verschuldensgrundsatzes im Grundgesetz
  • 1. Die grundgesetzliche Rechtfertigung des Verschuldensgrundsatzes
  • 2. Allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) – Schutzbereich
  • 3. Allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) – Eingriff
  • 4. Allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) – Rechtfertigung
  • 5. Allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) – Schranken-Schranken
  • a) praktische Konkordanz
  • b) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
  • i) Legitimer Zweck
  • (1) Sühnefunktion
  • (2) Präventivfunktion
  • (3) Ausgleichsfunktion
  • (4) Zwischenergebnis
  • ii) Geeignetes Mittel
  • (1) Präventivfunktion
  • (2) Ausgleichsfunktion
  • iii) Erforderliches Mittel
  • (1) Präventivfunktion
  • (2) Ausgleichsfunktion
  • iv) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne
  • (1) Präventivfunktion
  • (2) Ausgleichsfunktion
  • c) Zwischenergebnis
  • 6. Fazit in Hinblick auf den Verschuldensgrundsatz
  • IV. Grundrechtliche Rechtfertigung der Vereinbarung einer strict-liability in Sportverbandssatzungen
  • 1. Anwendbarkeit grundrechtlicher Wertungen auf die Konstellation Monopol-Verband – Verein und das Problem der Privatautonomie unter ungleich starken Vertragspartnern
  • 2. „Einfallstor“ Generalklauseln
  • a) § 307 BGB
  • b) § 134 BGB
  • c) § 138 BGB
  • d) § 242 BGB
  • 3. Art. 2 I GG i.V.m. Art. 9 I GG bzw. Art. 12 I GG als Grundrechte sowohl der Verbände als auch der Vereine – freie Vereinbarkeit von strict liability im Rahmen der Privatautonomie?
  • 4. Vorüberlegung: Was ist der gewünschte Zweck der Vereinbarung einer strict liability des Vereins?
  • a) Die Sühnefunktion – „Punitur, quia peccatum est.“ (absolute Theorien)
  • b) Die Präventivfunktion – „ne peccetur“ (relative Theorien)
  • c) Die Vereinigungstheorie
  • 5. Verhältnismäßigkeit der Vereinbarung einer strict liability des Vereins mit Sühnefunktion
  • a) Legitimer Zweck
  • i) Einstehen für persönliches Fehlverhalten
  • ii) Einstehen für das Erschaffen einer Gefahrenquelle?
  • (1) Rassismus, Antisemitismus oder Homophobie
  • (2) Sachbeschädigung
  • (3) Körperverletzung
  • iii) Argument der freiwilligen Übernahme entsprechender Tätigkeiten
  • b) Zwischenergebnis
  • 6. Verhältnismäßigkeit der Vereinbarung einer strict liability des Vereins mit Präventivfunktion
  • a) Legitimer Zweck
  • b) Geeignetes Mittel
  • i) Spezial- und Generalprävention
  • ii) Prävention in Hinblick auf das Verhalten des Vereins
  • iii) Prävention in Hinblick auf das Verhalten der Zuschauer
  • c) Erforderliches Mittel
  • i) Prävention in Hinblick auf das Verhalten des Vereins
  • ii) Prävention in Hinblick auf das Verhalten der Zuschauer
  • d) Angemessenheit
  • i) Vergleich mit Parallelproblematik Doping
  • ii) Eigeninteresse der Vereine an geordnetem Spielbetrieb
  • e) Zwischenergebnis
  • V. Eigener Lösungsvorschlag: Vereinbarung einer strict liability des Vereins zur Regelung des Schadensausgleichs – Änderung der Rechtsfolgen der Vereins-/ Verbandsstrafen
  • 1. Umfang der Verschuldensunabhägigkeit im Störungsbeseitungsanspruch aus § 1004 BGB
  • 2. Rechtfertigung der Gefährdungshaftungstatbestände des deutschen Zivilrechts
  • 3. Verschuldensunabhängiger Schadensersatzanspruch der Geschädigten gegen die Vereine aus verfassungsrechtlicher Sicht
  • a) Legitimer Zweck, geeignetes und erforderliches Mittel
  • b) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne
  • 4. Zwischenergebnis
  • VI. Ergebnis
  • F Gesamtergebnis
  • Literaturverzeichnis

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A Einleitung

Zuschauerausschreitungen, insbesondere beim Fußball, sind ein Problem, mit dem sich sowohl die Polizei1 als auch die Vereine, die nationalen Verbände und Ligagesellschaften sowie die internationalen Dachverbände häufig beschäftigen müssen.2 Zuschauerausschreitungen im Zusammenhang mit Sportveranstaltungen gibt es schon seit jeher. Insbesondere die Geschichte des Fußballs ist auch eine Geschichte des Aufruhrs und der Ausschreitungen3: In England kämpften früher ganze Dörfer oder Stadtviertel um den Ball – damals noch nahezu ohne Regeln, was dazu führte, dass die Spiele oft in derart wüste Prügeleien und Tumulte ausarteten, dass 1314 der Londoner Bürgermeister im Namen von König Edward II. den Fußball verbot.4 Dieses Verbot wurde auch durch mehrere Nachfolger Edwards II. bestätigt und aufrechterhalten.5

Als Fußballfanausschreitung der Gegenwart bleibt inbesondere die Tragödie im Brüsseler Heysel-Stadion am 29.05.1985 unvergessen, bei der während des Europapokalendspiels zwischen dem FC Liverpool und Juventus Turin eine Gruppe alkoholisierter englischer Hooligans in einen Block mit Juventus Turin-Anhängern eindrang. Als die Menschen daraufhin in Panik fliehen wollten, jedoch keinen ← 15 | 16 → Ausweg fanden, brachten sie eine Mauer des Stadions zum Einsturz, infolge dessen am Ende 39 Zuschauer starben und über 400 verletzt wurden.6

Fanausschreitungen unterschiedlichen Ausmaßes sind vor allem im Fußball leider fast schon an der Tagesordnung und stellen eine, wohl auch durch den „Massencharakter“ bedingte, Begleiterscheinung des Sports dar, die sich inzwischen zunehmend zu einem existenziellen Problem für den Sport, insbesondere für den Fußball entwickelt.7 Die Sportverbände suchen daher angestrengt nach Wegen, die immer größer werdenden Gefahren für Spieler und Zuschauer im Rahmen von Sportveranstaltungen einzudämmen. Dabei setzen sie zum einen auf Prävention durch „Fanprojekte“ zur Deeskalation, zum anderen aber auch auf repressive, disziplinarrechtliche Maßnahmen gegen die Vereine8, die hauptsächlich Thema dieser Arbeit sein werden.

I. Verfassungsrechtliche Bedeutung des Sports

Auch wenn der Sport sehr wohl seine autonomen Strukturen und Eigengesetzlichkeiten, seine staatsfernen Bereiche und seinen Freiheitscharakter hat9, so müssen sich dennoch sportverbandliche Regelungen sowie der Sport im Allgemeinen, ebenso wie alle anderen Lebensbereiche auch an den Wertungen des Grundgesetzes messen lassen. Im Verfassungsstaat der heutigen Entwicklungsstufe ist der Sport zu einem Stück individueller Freiheitserfüllung geworden10 (man denke hierbei nur an Art. 2 I GG oder auch Art. 12 I GG). Unter der Geltung des Grundgesetzes stellt er darüber hinaus auch ein wesentliches Stück der korporativen Existenz des Menschen dar, denn das individuelle Sportgrundrecht hat sein Pendant im Sozialen, dem „Status corporativus“11, für den vor allem Art. 9 I GG eine zentrale Rolle spielt. Der Mensch wird aus seiner Vereinzelung herausgeführt ← 16 | 17 → und mit anderen verbunden, ob im Wettkampf oder als Gemeinschaftserlebnis, aktiv (als Sportler) wie passiv (als Zuschauer).12 Dabei schafft es der Sport, positives Verhalten und positive Einstellungen einzufordern und durchzusetzen, zu denen Staat und Gesellschaft nicht oder nur selten in der Lage sind13. Daher ist er nicht mehr nur ein rein privates Phänomen, mit dem sich die privaten Vereine und Verbände auseinanderzusetzen haben; er gehört inzwischen zu den Themen, die dem Verfassungsstaat heute als wichtig, sogar als Verfassungsproblem, zuwachsen.14 Zwar findet der Sport weder im Grundgesetz Erwähnung, noch gibt es in Deutschland – anders etwa als in Frankreich, Griechenland, Polen oder Ungarn – ein in sich abgeschlossenes Sportgesetzbuch15, weshalb man sich auf den ersten Blick vielleicht noch fragen mag, was all dies mit „Verfassung“ zu tun habe. Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber, dass der Sport zu den individuellen und sozialen, geistigen und körperlichen Seiten der menschlichen Existenz gehört, die durchaus verfassungsrelevant sind und Grundrechtsbezüge haben16: Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB), die größte Personenvereinigung Deutschlands, umfasst 27,6 Millionen Mitgliedschaften in über 91.000 Turn- und Sportvereinen der 98 Mitgliedsorganisationen, in denen sich 8,85 Millionen Freiwillige (1,85 Millionen in ehrenamtlichen Positionen, 6 Mio. als Helfer bei Veranstaltungen, im Spiel- und Wettkampfbetrieb) engagieren. Der ehrenamtliche Beitrag zur volkswirtschaftlichen Wertschöpfung wird auf jährlich 6,7 Milliarden Euro geschätzt, die Zahl der bezahlten Stellen im Sport liegt bei 240.000, dabei bieten 2.400 Sportvereine derzeit einen Ausbildungsplatz an. Der Marktanteil der Sportvereine im Gesundheitssektor wird auf über 20 Prozent beziffert.17 Sport bietet Identifikationsmöglichkeiten im lokalen und nationalen Rahmen und ist Anknüpfungspunkt für eine breite Kommunikation in der Bevölkerung.18 Er bietet auch Möglichkeiten zur Identifikation der Bürger mit ihrem Land und schafft ← 17 | 18 → auf diese Weise Patriotismus ohne Nationalismus.19 Die Scheu der Deutschen gegenüber der Nutzung staatlicher Symbole entfällt, wenn sie im Zusammenhang mit dem Sport zur Geltung kommen.20 Spitzensport ist daher auch Staatserfahrung und Staatspflege.21 Auch die außenpolitische Bedeutung eines erfolgreichen Abschneidens und zugleich sportlich vorbildlichen Auftretens deutscher Mannschaften und bekannter Einzelsportler in internationalen Wettkämpfen ist nicht zu unterschätzen. Das durch den Erfolg seiner Mannschaften und seiner Athleten bedingte Ansehen rechnet der Staat sich in durchaus direkter Weise im internationalen Zusammenhang selbst zu.22 Nur zu gerne wird hier zu Lande der Sport als „eine Hauptsache des Lebens“ oder „wichtigste Nebensache der Welt“ umschrieben.23 Die Bundesrepublik Deutschland ist also unter diesen Aspekten zweifelsohne ein Sportstaat.24

II. Haftung für Fanausschreitungen

Sportlicher Erfolg, das „Kräfte-Messen“ und das gemeinsame Mitfiebern der Zuschauer schaffen Gemeinschaftserlebnisse.25 Was der Sport vorlebt oder auch ver­fehlt, strahlt in die Gesellschaft insgesamt aus – auch auf die nur „passiven Sportler“, wie etwa die Fußballzuschauer.26 Hier kann dann auch viel Irrationales zum Ausbruch kommen, denn das Emotionale gehört nun einmal zur „conditio humana“.27 ← 18 | 19 → Dennoch darf niemand zu Schaden kommen, denn auch „wenn […] in einem Fußballstadion hier und da gesellschaftliche Konventionen außer Kraft gesetzt sind“, ist damit keine „Marginalisierung der Rechtsordnung […] verbunden. Wer das außer Acht lässt, dem drohen Rückgriffsansprüche in unter Umständen großem finanziellen Umfang.“28

Zuschauerverträge oder deliktsrechtliche Ansprüche bieten zwar durchaus die Möglichkeit, einen randalierenden Fan „ins Recht zu fassen“. Rein praktisch besteht dabei aber oft die Schwierigkeit, das Recht auch wirklich durchzusetzen, denn nicht immer lässt sich unter Tausenden von Fans der Übeltäter identifizieren und dingfest machen. Und selbst wenn dies gelingen sollte, braucht es Zeit und vor allem auch Geld, bis ein rechtskräftiges Urteil erstritten wird. Darüber hinaus ist es noch eine weitere Frage, ob der Fan dann, wenn ein rechtskräftiges Urteil vorliegt, tatsächlich auch zahlen kann. Im Ergebnis ist die haftungsrechtliche Inanspruchnahme der Fans selbst für Schäden des Sportveranstalters und insbesondere der Vereine in vielen Fällen also nur eine stumpfe Waffe.29 Vereinssanktionen können nur gegen Mitglieder verhängt werden oder gegen solche Personen, die die Vereinsordnungsgewalt durch Vertrag anerkannt haben. Eine Satzungsbestimmung, die gegen ein Nichtmitglied eine Ordnungsmaßnahme androht, ist nichtig30.31

Im Zentrum dieser Arbeit steht die Frage, wer die Verantwortung für Fanausschreitungen zu tragen hat. Ist der Fan selbst als Verantwortlicher zumindest praktisch schwer greifbar, dann wird ein anderer Weg zu prüfen sein – etwa der, die Vereine selbst in die Haftung zu nehmen. Dieser Weg wurde und wird bereits gegangen: Vorschriften, die sich mit der disziplinarrechtlichen Verfolgung von Zuschauerausschreitungen befassen, finden sich inzwischen sowohl in den internationalen als auch in den nationalen Regelwerken32, wie zum Beispiel der UEFA-Rechtspflegeordnung (UEFA-RpflO), dem FIFA-Disziplinarkodex (FIFA-DK) oder der DFB-Rechts- und Verfahrensordnung (DFB-RuVO). Er wirft jedoch aus rechtlicher Sicht einige Fragen und Zweifel auf. ← 19 | 20 →

III. Probleme bei der Haftung für Fanausschreitungen

Eines der gemeinsamen wesentlichen Merkmale der genannten Verbandsregeln ist, dass die Vereine verschuldensunabhängig für Ausschreitungen ihrer „Anhänger“ einzustehen haben, was bedeutet, dass die Vereine im Wege einer objektiven „Kausalhaftung“ disziplinarrechtlich belangt werden können. Die Verbandsgerichte sprechen in diesem Zusammenhang auch von einer „objektivierten Verantwortlichkeit“ der Vereine und Verbände.33 Problematisch ist hierbei, dass sowohl im deutschen Zivil- als auch Strafrecht grundsätzlich das sogenannte Verschuldensprinzip gilt, demzufolge man nur für die Schäden einzustehen hat, die man vorsätzlich oder fahrlässig zu vertreten hat. Eine reine Kausalhaftung ist dem deutschen Recht weitestgehend fremd. Zwar gibt es im Zivilrecht eine (limitierte) Anzahl von Gefährdungshaftungstatbeständen, die von diesem Grundsatz abweichen, diese lassen sich jedoch insofern rechtfertigen, als dass sie ein notwendiges Korrelat für die Zulassung technischer Risiken34 darstellen. Der Nutznießer des von der Verkehrsauffassung anerkannten Risikos35 soll zumindest den für den Betroffenen unzumutbaren Schaden tragen.36 Im Strafrecht gibt es allein schon aus Gründen der Menschenwürde keine Ausnahmen vom Verschuldens­prinzip.

Im Ergebnis lässt sich also festhalten, dass eine Haftung im deutschen Recht grundsätzlich Verschulden voraussetzt. Wenn nun Verbandssatzungen (einseitig) eine sogenannte strict liability vorschreiben, so könnte dies zunächst einmal einen Widerspruch mit dem deutschen Recht darstellen.

Zwar erkannte der Internationale Sportschiedsgerichtshof „CAS“ explizit die Rechtmäßigkeit von beispielsweise der in Art. 6 UEFA-RpflO geregelten „Kausalhaftung“ an.37 Er räumt dabei jedoch selbst ein, es möge anstößig erscheinen, dass ← 20 | 21 → ein Verein ohne eigenes Verschulden gestraft werden kann.38 Der CAS begründet die aus seiner Sicht gegebene Rechtmäßigkeit des Art. 6 UEFA-RpflO aber damit, dass die UEFA keinerlei rechtlichen Zugriff auf die Fans habe. Die „Strafe“ sei daher zwar nur an den Verein adressiert, in der Sache aber gegen dessen Anhänger gerichtet.39 Aus genau diesem Grund stünden, so Haas/Jansen, im Mittelpunkt der verbandsrechtlichen Sanktionen im Zusammenhang mit Zuschauerausschreitungen auch nicht „Ordnungsmaßnahmen“ gegen Einzelpersonen, sondern vielmehr solche gegen die an der Sportveranstaltung beteiligten Clubs, Vereine und Verbände.40

Aus praktischer Sicht mag diese Begründung durchaus einleuchten41, denn der Verein wird nur deswegen bestraft, weil dies die einzige Möglichkeit ist, zumindest mittelbar doch noch dessen Anhänger, auf die man aus oben genannten Gründen oft nicht direkt zugreifen kann, mit der Strafe zu treffen. Es stellt sich aber in Hinblick auf deutsches Recht die Frage, inwieweit die an den Besonderheiten des Sports orientierte Wertung des CAS für die Rechtmäßigkeit nach ← 21 | 22 → deutschem Recht aussagekräftig ist. Denn ein solches Rechtsmäßigkeitsurteil muss den Anforderungen des Grundgesetzes genügen.

Wie bereits festgestellt, steht den Sportvereinigungen eine aus Art. 9 I GG abgeleitete Vereinsautonomie zu, aufgrund derer die im Verein oder Verband zusammengeschlossenen Vereinsmitglieder grundsätzlich das Recht haben, das Vereins-/Verbandsleben zur Erreichung ihrer besonderen Zwecke frei zu gestalten, und die Regeln hierfür nach einer eigenen Werteordnung in Satzungen und Vereins-/Verbandsordnungen festzulegen und durchzusetzen und entstehende Streitigkeiten selbst zu entscheiden.42

Allerdings stellt sich hier nun die Frage, wie weit die Autonomie des Sports rechtlich (und faktisch) reicht, bzw., ob die Autonomie der Sportverbände als Rechtfertigung dafür genügt, von dem grundsätzlich im deutschen Recht geltenden Verschuldensprinzip abzuweichen.

Zum anderen stellt sich, selbst wenn man dem Sport oder den Sportverbänden eine derart eigene Wertung zugesteht, das Problem, dass sich auch die Vereine und nicht nur die ihnen übergeordneten Verbände auf die Vereinsfreiheit nach Art. 9 I GG berufen können. Hier könnte Freiheitsanspruch gegen Freiheitsanspruch stehen, weshalb im Rahmen praktischer Konkordanz die Rechte aller beachtet und in Einklang gebracht werden müssen. Die grundrechtlich geschützte Freiheit bedarf auch des Schutzes gegen gesellschaftliche Beeinträchtigungen, um nicht nur eine Freiheit der Mächtigen zu sein.43 Zu problematisieren ist daher die Monopolstellung der Sportverbände, aufgrund derer sich die zwischen Vereinen und Verbänden „vereinbarten“ Regelungen als einseitig aufgezwungen und daher aus rechtlicher Sicht kritisch darstellen könnten.

IV. Gang der Untersuchung

In der Arbeit wird untersucht, welche Möglichkeiten und Grenzen die statutarische Haftungszurechnung von Fanausschreitungen zu den Vereinen im Geltungsbereich des Grundgesetzes hat. Dazu werden zunächst einige Begriffe geklärt: Wer ist Anhänger, welche Arten von Anhängern und Ausschreitungen gibt es, und welche Fangruppen sind für die statutarische Haftungszurechnung überhaupt relevant. Im Anschluss wird auf die Vereins- und Verbandsstruktur im deutschen Fußball eingegangen, und es werden die möglichen rechtlichen Konstruktionen statutarischer Bindungen sowie die sportgerichtliche Durchsetzbarkeit von Verbandsregeln aufgezeigt. ← 22 | 23 →

Es folgt ein Vergleich der sogenannten strict liability in Verbandsregelwerken mit den bisherigen Haftungsregimen im deutschen Zivilrecht, auf deren Grundlage anschließend untersucht wird, wie weit die Haftungszurechnung zivilrechtlich möglich ist, und mit welchen Ansätzen einer zivilrechtlichen Rechtfertigung die Vereinbarung einer strict liability möglicherweise erklärt werden könnte.

Aufgrund der gefundenen Ergebnisse geht die Arbeit dann auf die Notwendigkeit der Verfassungskonformität auch privatrechtlicher Vereinbarungen ein und beschäftigt sich näher mit den Grundrechten der Beteiligten, auf deren Grundlage die Haftungsproblematik beurteilt werden muss. Ebenso wird auf die grundgesetzlichen Grundlagen des Verschuldensprinzips eingegangen und auf der Basis der gefundenen Ergebnisse die Möglichkeiten, Grenzen und Probleme der Statuierung oder Vereinbarung einer strict liability zwischen Verbänden und Vereinen aus verfassungsrechtlicher Sicht überprüft. Am Ende steht ein eigener Lösungsvorschlag.

1 Vgl. dazu zum Beispiel das Anti-Hooligan-Gesetz der Schweiz, näher dazu Vögeli/Netzle SpuRt 2007, 221 (221 ff.).

2 Schimke, CAS, S. 23 (23 f.).

3 Dunning, Zuschauerausschreitungen, S. 123 (124).

4 Teves, Frühe Ballspiele, http://www.planet-wissen.de/sport_freizeit/ballsport/fussballgeschichte/fussballgeschichte.jsp (Stand 29.2.2012); Dunning, Zuschauerausschreitungen, S. 123 (124); „1314. Proklamation, verkündet zum Erhalt des Landfriedens Alldiweil unser Herr und König in einem Krieg gegen seine Feine gen Schottland zieht und uns besonders befohlen hat, seinen Frieden strengstens zu wahren… und alldiweil in der Stadt großer Aufruhr ist, durch gewisse Zusammenrottungen, die von großen Fußball-Spielen auf den öffentlichen Plätzen herrühren, wodurch viel Übles – was Gott verhüten möge – entstehen könnte, befehlen wir also und gebieten hiermit im Namen des Königs, daß, bei Strafe der Einkerkerung, dieses Spiel fürderhin nicht mehr innerhalb der Stadt gespielt werde…“, Elias/Dunning, Volkstümliche Fußballspiele im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen England, S. 85 (85) (zitiert nach H.T. Riley (Hrsg.), Munimenta Gildhallae Londoniensis, Rolls. Ser., Nr. 12, London 1859–62, Bd. III, Anhang ii, aus: Liber Memorandum, S. 439–41, vgl. Endnote 4).

5 Heckert, http://www.sport-komplett.de/sport-komplett/sportarten/index_sportarten.htm -> Fußball (Stand: 29.2.2012; vgl. auch Elias/Dunning, Volkstümliche Fußballspiele im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen England, S. 85 (87).

6 Haas/Jansen, Die verbandsrechtliche Verantwortlichkeit, S. 129 (131); vgl. zum Beispiel auch BBC News vom 29.05.2000, http://news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/768380.stm (Stand: 29.02.2012); Spiegel Online vom 05.04.2005, Heysel-Tragödie. Europas schwarze Fußballnacht, http://www.spiegel.de/sport/fussball/0,1518,349774,00.html (Stand: 21.11.2012); sueddeutsche.de vom 02.02.2012, Stadionkatastrophen im Fußball. Heysel, Hillsborough, Bradford, http://www.sueddeutsche.de/sport/stadionkatastrophen-im-fussball-heysel-hillsbourough-bradford-1.1274006 (Stand: 21.11.2012).

7 Haas/Jansen, Die verbandsrechtliche Verantwortlichkeit, S. 129 (130).

8 Haas/Jansen, Die verbandsrechtliche Verantwortlichkeit, S. 129 (131).

9 Häberle, Das Grundgesetz zwischen Verfassungsrecht und Verfassungspolitik, S. 732.

10 Häberle, Das Grundgesetz zwischen Verfassungsrecht und Verfassungspolitik, S. 735: das „Recht auf Sport“ als ein Stück kultureller Freiheit.

11 Vgl. Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG, S. 367 ff.

12 Häberle, Das Grundgesetz zwischen Verfassungsrecht und Verfassungspolitik, S. 735; „Sport erweist sich als ein verbindendes, gemeinschaftsbildendes Element in einer zum Teil auseinanderstrebenden Gesellschaft“, so die Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage aus dem Bundestag (BT-Drucks. 10/1169) vom 22.3.1984), http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/10/011/1001169.pdf (Stand: 07.11.2010).

13 Steiner, Die Bedeutung des Sports im Staat des Grundgesetzes S. 1 (6 f.).

14 Häberle, Das Grundgesetz zwischen Verfassungsrecht und Verfassungspolitik, S. 715 ff.

Details

Seiten
296
Erscheinungsjahr
2015
ISBN (PDF)
9783653054002
ISBN (MOBI)
9783653971170
ISBN (ePUB)
9783653971187
ISBN (Paperback)
9783631660591
DOI
10.3726/978-3-653-05400-2
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Juli)
Schlagworte
Verbandsstrafen strict liability verschuldensunabhängige Haftung Verschuldensgrundsatz Sportverbände Sportvereine
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 296 S.

Biographische Angaben

Stephanie Fickenscher (Autor:in)

Stephanie Fickenscher ist Volljuristin. Sie studierte Rechtswissenschaften in Regensburg, absolvierte ebendort ihr Referendariat und war Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Unternehmensrecht an der Universität Regensburg. Derzeit arbeitet sie als Rechtsanwältin in einer Wirtschaftsrechtskanzlei in München.

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