Die Ansprüche der Literatur als Herausforderung für den Literaturunterricht
Theoretische Perspektiven der Literaturdidaktik
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhalt
- Nicola Mitterer, Hajnalka Nagy und Werner Wintersteiner - „Fast alles Mögliche“. Zu diesem Band
- Ansprüche und Einsprüche
- Gerhard Härle - Anspruch – Anrede – Antwort: Drei Dimensionen der Literaturvermittlung
- Werner Wintersteiner - Von der Unmöglichkeit literarischer Bildung und von ihrer Notwendigkeit
- Manifestes und Latentes. Die Macht literarischer Praxen
- Michael Baum - Lesen – Lehren – Scheitern
- Christian Dawidowski und Anna R. Hoffmann - Ko-Konstruktion literarischer Bildungsvorstellungen in der gymnasialen Oberstufe
- Hajnalka Nagy - Literatur ist Literatur ist … Interpretation? Literatur in österreichischen Schulbüchern der Oberstufe
- Das Singuläre und das Allgemeine. Ästhetische Erfahrung als Subversion
- Jens Birkmeyer - Ermöglichungen. Wodurch kann Literaturunterricht Orientierung gewinnen?
- Peggy Gehrmann - Literarische Rezeption und normative Ordnungen
- Eigenes und Fremdes: Ver-Antwortlichkeiten
- Hans Lösener und Ulrike Siebauer - Die Frage nach dem Sinn. Zur Entwicklung von Frageperspektiven in literarischen Gesprächen
- Florian Marlon Auernig und Nicola Mitterer - Wenn er nett zu den Tieren ist und böse ausschaut, weiß ich nicht… Literar-ästhetische Fähigkeiten in der frühen Kindheit
- Zu den Autorinnen und Autoren
„Fast alles Mögliche“. Zu diesem Band
Es ist so, daß Geschichten eigentlich immer Fragmente sind, auch wenn ihre Erzähler oder Schreiber das nicht wissen, und die Zuhörer oder Leser erst recht nicht. Die vollständigsten Geschichten sind die, die dort, wo sie mitten im Satz aufhören, einen Riß im Hirn hinterlassen. (Fried 1978, S. 66)
Mit diesen Worten – der Einleitung zum Text Fragment aus Erich Frieds Sammlung Fast alles Mögliche – wird die Lektüre eines Textes als eine Begegnung zwischen Text und Leser interpretiert, aus der niemand unversehrt hervorgeht. Der Text zeigt Wirkung, aber nicht im Selbstlauf, sondern erst dadurch, dass sich eine Leserin den Geschichten aussetzt und das Fragment selbst vervollständigt, das heißt, sich auf dessen Sinnangebote einlässt. Man könnte es auch so formulieren: Die Leserin hat auf den „Anspruch“ des Textes reagiert, geantwortet, oder vielleicht auch nur: ihre eigenen Reaktionen zugelassen.
Vielerlei Ansprüche
Der Begriff des „Anspruchs“ ist im Zusammenhang mit der Literatur ein diffuses und mehrdeutiges, wohl auch ein wenig vages Konstrukt. Gerade deshalb schien er uns sowohl als Motto der Tagung, aus der dieser Sammelband ursprünglich hervorgegangen ist, als auch als Titel für den vorliegenden Band sehr geeignet, weist doch dieser Begriff einige Gemeinsamkeiten mit dem hier verhandelten Gegenstand – ist es denn einer? Löst nicht bereits die bedingungslose Zuordnung zur Welt der unbelebten Dinge ein gewisses Unbehagen aus? –, der Literatur also, auf. Die „Ansprüche der Literatur“ lassen sich ganz unterschiedlich begreifen: Laut Duden bezeichnet der Begriff entweder ein „Recht“ oder „Anrecht“, eine „Forderung“ oder den „Anspruch“ bzw. die „Qualität“ einer bestimmten Sache. Bezogen auf die Literatur ergeben sich noch mehr Assoziationen: Einmal lässt ← 7 | 8 → sich dazu jenes eingangs erwähnte, mehrfach codierte Angesprochen-Sein1 oder Angesprochen-Werden der Leserin2 durch den Text assoziieren, der ihr gefällt, missfällt, sie in seinen Bann zieht, zur Weltflucht verleitet oder sie auf Gedanken bringt, die zuvor noch nicht dagewesen sind. Anders gesagt ließen sich die Ansprüche als eine Forderung des Textes deuten, der seinen Leser nicht „einfach so“ davonkommen, ja der ihn unter Umständen nicht als denselben Menschen aus der Lektüre hervortreten lässt, als der er in sie hineingegangen ist. Diese Forderung kann auch drängender, offensiver werden, wenn er sich etwa als hermetisches Gedicht, als Labyrinth von Schachtelsätzen oder schlicht als eine ganz und gar „fremde Welt“ vor einem ausbreitet, an deren Erkundung man vielleicht gerade als Schülerin kein großes Interesse hatte, die man aber dennoch auf sich nehmen muss.
Der Anspruch des Textes ließe sich, wieder ganz anders verstanden, auch als ein tatsächliches „Zur-Leserin-Sprechen“ des Textes in einem ganz unmittelbaren Sinn verstehen. Das geschieht bereits in der Kinderliteratur recht häufig.3 Es irritiert aber auch noch den erwachsenen Leser, wenn dieser sich plötzlich vor der Erzählinstanz zu rechtfertigen hat oder auch nur schlicht von dieser direkt angesprochen und etwa um Entscheidungen ← 8 | 9 → über den Fortgang der Handlung befragt wird – im Grunde das ureigenste Feld des Autors selbst.4
Eine lange hermeneutische Tradition, die spätestens mit der Bibelexegese begonnen hat, geht schließlich davon aus, dass der Text ein Recht darauf habe, „richtig“ gelesen zu werden. Aus dieser Perspektive betrachtet wäre nicht jede Leserin in gleichem Maße berechtigt, einen Text zu lesen oder ihn gar zu interpretieren. Von einer solchen Sichtweise auf Text und Leser ist man allerdings heute meist weit entfernt. Viel häufiger ist das Phänomen einer als selbstverständlich empfundenen Beliebigkeit im Umgang mit literarischen Texten und literarischen Interpretationen.
Nicht alle diese durchaus plausiblen Interpretationen des Begriffs Ansprüche hatten wir als Herausgeberinnen und Herausgeber dieses Bandes jedoch bei der Festlegung des Titels in erster Linie im Kopf. Unsere Definition des Begriffs Ansprüche ging aus einer langen und zunehmend konflikthaft verlaufenden Auseinandersetzung mit einer Strömung in Literaturunterricht und Literaturdidaktik hervor, die sich u. E. zu sehr vom dominierenden Diskurs der Kompetenzorientierung und Funktionalisierung von schulischem Lernen insgesamt beeinflussen lässt. Hinter den seit Beginn des 21. Jahrhunderts zunehmend ins Bewusstsein der Lehrer und Schüler tretenden Ansprüche einer bestimmten Form von institutionalisierter Literaturvermittlung sind Ansprüche des Textes an uns als Leserinnen zunehmend ins Hintertreffen geraten. Eine genaue Textlektüre, die sich jedes einzelnen Wortes, seiner Struktur und seiner sprachlichen Verfremdungen annimmt, die die eigenen Reaktionen auf den Text ebenso aufmerksam registriert und diese schließlich in Beziehung zur Sprache des Textes selbst bringt, schien nun eher die Ausnahme als die Regel im Umgang mit literarischen Texten (geworden) zu sein (vgl. dazu die Beiträge von Gerhard Härle und Werner Wintersteiner).
„An Hand dieses Textes können wir Folgendes üben / lernen zu…“ – diese Aussage, häufig auch als Formulierung in Schulbüchern zu finden, spricht eine Vorstellung sehr deutlich aus, die dem Literaturunterricht heute vielfach zu Grunde liegt (vgl. den Beitrag von Hajnalka Nagy). Die geradezu konstitutive Selbstzweckhaftigkeit des Literarischen – die sich dennoch keineswegs darin erschöpft! – ist zwar vielen Lehrerinnen noch als solche ← 9 | 10 → präsent und persönlich wichtig, doch die schulische Realität wird immer stärker von anderen Prinzipien gesteuert. Diese Lehrziele sind zwar nicht aus den (österreichischen) Lehrplänen verschwunden, sie werden jedoch immer mehr von einem Kompetenzdiskurs verdrängt, der sich anmaßt, der neue Bildungsbegriff schlechthin zu sein (vgl. dazu Wintersteiner 2011). Folglich werden literarische Texte heutzutage immer häufiger gelesen, um Empathiefähigkeit zu entwickeln5, um sprachliche Fähigkeiten zu verbessern, um Konzentration zu fördern oder um näher an die Lebenswelt der Schüler heranzukommen. All das kann Literatur und all das ist dennoch – so scheint es zumindest den Herausgebern dieses Bandes – nicht der Kern ihres Potentials und ihrer Wirksamkeit.
Was aber ist dieser mysteriöse „Kern“ des Literarischen, sein unersetzbar Anderes, das sich durch keine psychologische Unterweisung, durch keine grammatikalische Übung, durch keine noch so differenzierte Analyse, die uns ein Sachtext bietet, ersetzt werden kann? Um sich mit diesen und ähnlichen Fragen zu beschäftigen, haben wir hier Literaturdidaktikerinnen und Literaturdidaktiker versammelt. Ihr Nachdenken hat sich teils in sehr unkonventionellen, teils auch in konventionelleren Bahnen vollzogen. Die Leserinnen dieses Bandes haben so die Möglichkeit, ihre eigenen Ansprüche an den Literaturunterricht und die Beiträge, die dazu passen, selbst zu finden und auszuwählen.
Doch so dankbar wir als Herausgeber und Herausgeberinnen auf der Suche nach dem, was die Literatur ausmachen könnte und den Literaturunterricht ausmachen sollte, auch sind, so wenig wollen wir uns hier um die Frage herumdrücken, was das denn unserer Meinung nach sei, das Besondere, Unersetzliche des Literarischen. Wie steht es mit dem daraus resultierenden Anspruch, dem sich jeder Leser individuell stellen kann – oder auch nicht – dem aber unsere Schulen als institutionalisierte und damit wirkmächtige Instanz in der Auseinandersetzung mit Literatur gerecht werden sollten? ← 10 | 11 →
Manch Anspruchsvolles
Vielleicht kommen wir der Antwort auf diese Frage einen Schritt näher, wenn wir uns vor Augen führen, dass der Umgang mit Literatur innerhalb des Bildungssystems noch nie zweckfrei war, aber mittlerweile großteils obsolet gewordene Zwecke mitschleppt, ohne dass neue, adäquate Ziele Zustimmung gefunden hätten. War ab Mitte des 19. Jahrhunderts die Erziehung junger Menschen zu nationalen Werten und Tugenden mittels Literatur noch ein allgemein anerkanntes Ziel, so wird dies heute angesichts von zunehmend globalisierten Gesellschaften wohl niemand mehr vertreten, ohne dass sich deshalb Weltliteratur als Bildungsziel durchgesetzt hätte. In ähnlicher Weise hat die Hochliteratur auch ihre Funktion als Distinktionsmerkmal der höheren sozialen Klassen verloren – jedoch haben sich Spuren eines solchen „Erlesens von kulturellem Kapital“ bis heute erhalten (vgl. den Beitrag von Christian Dawidowski und Anna R. Hoffmann). Friedrich Schleiermacher wiederum befand die „psychologische Interpretation“, die man an Hand der Auseinandersetzung mit literarischen Texten lernen könne, die Schulung der „Divination“, als ein wesentliches Ziel literarischer Interpretation und meinte damit vor allem die Psychologie der Autorinnen. Eine derartige Einschränkung würde heute, nach der sozialhistorischen Wende der Literaturwissenschaft seit den 1960er Jahren, wohl niemand mehr vertreten. In vergleichbarer Weise ist das Verständnis für die Komplexität der Autorin-Text-Beziehung gestiegen und ist die Frage danach, was „der Autor uns mit seinem Werk sagen wollte“, literaturdidaktisch heute weitgehend verpönt, in der Schule allerdings immer noch Teil des Alltagsgeschäfts. Und ist denn nicht das, was wir heute „Entwicklung der Empathiefähigkeit“6 nennen, oft nicht viel anderes als die Verlegung der psychologischen Analyse auf die Ebene der Figuren? Egal, ob man nun die Heranbildung junger Aushängeschilder eines mutmaßlichen „Nationalcharakters“ (vgl. Frank 1973) im Kopf hat, eine Moralerziehung mit abschreckenden Beispielen oder Rollenvorbildern,7 die Schulung psychologischer Fähigkeiten, oder – wie durch die Kompetenzorientierung sehr gefördert – die Ausbildung eines ← 11 | 12 → literaturwissenschaftlichen Instrumentariums, der Umgang mit Texten wird immer auf eine Dimension fokussiert und oft auch auf diese verkürzt.
Es stellt sich aber die Frage, ob wir für diese nicht-literarischen Ziele die Literatur tatsächlich überhaupt brauchen. Würden wir die jeweiligen Werte, Kompetenzen oder Übungsvorhaben einfach explizit benennen, anstatt sie in eine Geschichte zu verpacken, wäre das nicht wesentlich ehrlicher unseren Schülerinnen gegenüber und noch dazu effizienter? Wird die Literatur, wenn wir sie zur Erreichung bestimmter Ziele nutzen wollen, nicht unter der Hand zu einer transparenten Glasscheibe, die pädagogische, fachliche oder sonstige Botschaften durchlässt, ohne selbst auch nur wirklich wahrgenommen zu werden? Wenn es uns um den Erwerb von Kompetenzen geht, die wir mittels Literatur erreichen oder verbessern wollen, dann wird der Text zumindest zu einem erfindungsreichen Spiel, das uns, bei entsprechender Ausbildung, als Sieger hervorgehen lässt. Es ist fraglich, ob dieses Spiel, diese Art Verstellung, unsere Schüler mit der Literatur verbinden kann. Oder wird, List der ästhetischen Vernunft, die Literatur vielleicht zu einem trojanischen Pferd, das in Wirklichkeit ganz andere „Botschaften“ transportiert, als die, mit der sie pädagogisch auf den Weg geschickt wurde?8
Wir hingegen meinen, dass es nicht von ungefähr kommt, dass wir von frühester Kindheit an Geschichten hören (und erzählen!) wollen und sich die Menschheit als Kollektiv immer schon in Erzählungen verstrickt hat. Offensichtlich gibt es ein starkes, historisch-anthropologisch fundiertes Bedürfnis nach einem „Anderen“ der Realität – eben um uns die Realität erst fassbar zu machen. In der Moderne ist die Kunst der privilegierte Ort dieses Anderen. Deswegen, so meinen wir, ist ein subjektiver ästhetischer Zugang die Voraussetzung für alle anderen Arten des Textumgangs (vgl. Hans Lösener und Ulrike Siebauer). The aesthetic stance, wie Louise Rosenblatt diesen Zugang bezeichnet (Rosenblatt 1995), schafft erst die Möglichkeit, ← 12 | 13 → die ethische Fragestellung, die dem Anspruch der Literatur zugrunde liegt, zu erkennen und auf sie zu reagieren.
Sich auf einen literarischen Text einlassen heißt nämlich: Da tritt uns als Leserinnen und Leser etwas, das wir „aus der Wirklichkeit“ kennen, als ein Anderes gegenüber – eine Art Verstellung, eine Form der „Lüge“9 – also als etwas, das wir negativ zu konnotieren gewohnt sind.10 Doch gerade diese Verfremdung und Verzerrung des Erwartbaren, des Gewohnten, des Legitimen, ist es, die als konstitutiver Bestandteil von Literatur eine Faszination auf uns ausübt und sie zu einem unersetzbaren Teil unseres Zugangs zur Welt und den ihr innewohnenden Möglichkeiten macht.11 Indem sie Mimikry betreibt, ja mehr noch, uns in aller Offenheit anlügt und vom Unmittelbaren entfernt, stellt die Literatur Eigentlichkeit erst her, gibt uns unsere zur Phrase erstarrte Sprache – die im übrigen noch nie die unsere war, sondern die wir von unseren Vorfahren übernommen haben – zurück. Wahre Geschichten und gültige Lügen heißt denn nicht von ungefähr der Untertitel des eingangs zitierten Bandes von Erich Fried. In diesem und ähnlichen Paradoxa richtet sich die Literatur ein (vgl. den Beitrag von Michael Baum) und tritt uns damit nicht nur als ein seltsam und verzerrt wirkendes Fremdes, sondern als ein Eigent-liches gegenüber, das wir niemals fassen können. Diese Auseinandersetzung mit einer Schimäre, die wir anhimmeln ← 13 | 14 → und zugleich als solche erkennen, scheint, wenn wir der Psychologie (und damit ist nun nicht die literarische Psychologisierung oder die Psychologisierung des Literarischen gemeint) Glauben schenken dürfen, eine grundlegende Wahrheit unserer Existenz zu sein.12 Ohne unabhängig, selbstständig oder ganz zu sein, imaginieren wir uns bereits früh als souveräne Individuen. Ohne die Sprache zu haben, ja ohne jemals zu ihr gelangen zu können, imaginieren wir uns als Sprachmächtige. Ohne das Fremde jemals begreifen oder auch nur berühren zu können (vgl. Lévinas 2005, S. 6),13 erzählen wir uns davon, wie wir über andere Leben herrschen. Die Literatur ist also in gewisser Weise die Lüge, die wir uns über das Menschsein erzählen. Aber sie ist eine „privilegierte“ Lüge, weil sie über sich selbst als Lüge nachdenkt und spricht. Damit begründet sie, die Literatur, eine „existenzielle Ethik“, die durch kein noch so herausragendes philosophisches Konstrukt ersetzt werden kann. Denn dieses spricht niemals im Modus unserer Existenz, es „lügt uns nicht an“ und baut uns keine Welt aus dieser Illusion, die jedes Menschenleben darstellt. Nicht weil sie die Wahrheit sagt oder findet, weil sie lügt und diese Lüge reflektiert, brauchen wir, wenn man diesem Gedankengang folgen möchte, die Literatur.
Nochmals als Kontrast zurück zum Literaturunterricht, wie er sich derzeit darstellt: Ein Unterricht, der versucht, der Vorgabe gerecht zu werden, dass er seine Schülerinnen zu „befähigen“ habe, kann sich keine „Lüge“ leisten und schon gar nicht deren Reflexion. Nicht-Können und Unwissenheit werden zwar, zumindest auf den niedrigeren Schulstufen, zunehmend positiv konnotiert, stattdessen gilt uns nun „das Defizitäre“ als Feind, doch auch dies ist eine pädagogische Finte, die die Absicht verfolgt, das Können letztlich doch noch zum Vorschein zu bringen. „Make them shine“, ist das verborgene Motto eines von der Kompetenz beseelten Unterrichts, der die grundlegende Lüge des Menschseins weder zugeben noch reflektieren kann oder will. Es ist immer „etwas anderes“, auf das wir in einem solchermaßen ← 14 | 15 → gestalteten „Lernsetting“ zusteuern, dem unser Denken und Handeln gilt, es sind nicht wir selbst, es ist nicht die unendliche Erzählung, die die Menschheit von jeher (über sich selbst) erzählt (vgl. den Beitrag von Peggy Gehrmann sowie von Florian Marlon Auernig und Nicola Mitterer). Ein solcher Unterricht kann zweifellos vieles, aber er bleibt an der Oberfläche und hat es sich weder zum Ziel gesetzt, die unterrichteten Individuen noch die literarischen Texte wahrhaftig zu „berühren“.14 Selbst wenn die Ziele eines solchen Unterrichts vielen als legitim und nachvollziehbar erscheinen, so ist dieses Ausblenden15 existenzieller Fragestellungen von einem ethischen Standpunkt aus problematisch. Mit Edgar Morin argumentieren wir, dass aufgrund der Marginalisierung der Philosophie und der Literatur „es in der Erziehung immer mehr daran [fehlt], sich fundamentalen und globalen Problemen des Individuums, des Bürgers, des Menschen zu stellen“ (Morin 2012, S. 163). Die Ansprüche der am Unterricht beteiligten Individuen, die Ansprüche der in ihm verwendeten literarischen Texte, werden so noch nicht einmal überhört, sie können in einem solchen Modus des Denkens und Handelns noch nicht einmal gehört werden. Das ist insofern höchst bedenklich, als jegliches Antworten, nach Bernhard Waldenfels, als von der Art des Hörens her bestimmt zu betrachten ist: „Das Antworten auf den Anspruch beginnt mit dem Hinsehen und Hinhören“ (Waldenfels 1997, S. 118; vgl. dazu auch die Ausführungen über die Relationen zwischen Antworten und Fragen bei Jens Birkmeyer in diesem Band). ← 15 | 16 →
Etwas Ansprechendes
Details
- Seiten
- 240
- Erscheinungsjahr
- 2016
- ISBN (ePUB)
- 9783631696873
- ISBN (MOBI)
- 9783631696880
- ISBN (PDF)
- 9783653056105
- ISBN (Hardcover)
- 9783631664438
- DOI
- 10.3726/978-3-653-05610-5
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2016 (August)
- Erschienen
- Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 240 S., 3 farb. Tab.