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Nach Wien!

Sehnsucht, Distanzierung, Suche"- "Literarische Darstellungen Wiens aus komparatistischer Perspektive

von Norbert Bachleitner (Band-Herausgeber:in) Christine Ivanovic (Band-Herausgeber:in)
©2016 Konferenzband 361 Seiten
Reihe: Wechselwirkungen, Band 17

Zusammenfassung

«Nach Wien!» – der Titel des vorliegenden Bandes gibt das Echo der Großstadtsehnsucht von Čechovs Drei Schwestern mit einem Augenzwinkern wieder und hat dabei zugleich den Ernst der Lage derjenigen im Blick, für die Wien im symbolischen Sinn die Bewahrung ihrer kulturellen Identität und im pragmatischen Sinn das Überleben bedeutete. Die Beiträge fokussieren auf Darstellungen der Stadt aus der Distanz, auf meist erst im Nachhinein festgehaltene Wahrnehmungen, Erfahrungen, Einschätzungen vorübergehender BewohnerInnen oder BesucherInnen Wiens. Sie haben einen Teil ihres Lebens hier verbracht, bevor sie die Stadt verließen, oder sie sind Durchreisende gewesen, die sich nur für einige Zeit hier aufgehalten haben: Fremde eher als Einheimische, StudentInnen oder AutorInnen, Bildungsreisende und PauschaltouristInnen, MigrantInnen und Arbeitssuchende, nicht zuletzt Displaced Persons und HeimkehrerInnen aus der Emigration.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Nach Wien! Sehnsucht, Distanzierung, Suche. Zur Einführung
  • Sehnsuchtsort
  • Fragebogen
  • Außenansichten
  • Wien um 1800 in der französischen Literatur
  • Wien in der französischen und italienischen Literatur der Moderne
  • Wandlungen des Wienbilds in nordamerikanischen Literaturen
  • Postsowjetische Strategien in der ukrainischen Literatur der Gegenwart, mit besonderer Berücksichtigung der Darstellung Wiens
  • Von Lerneifer, Hassliebe und Desinteresse: Drei Konstruktionen Wiens aus japanischer Perspektive
  • Intermezzo
  • Als die Donau in die Themse münden wollte
  • Die Stadt im Text
  • Der Geist der Übersetzung. Wien als Paradigma der translationalen Stadt in Gérard de Nervals Pandora
  • „La renombrada y famosa Viena“. Die Stadt Wien in den Romanen Julio Cortázars, Roberto Bolaños und Alan Pauls’
  • Kafka und Mozart in Text und Paratext: „Hotel Graben“, „Fiakerfahrt“ und „Requiem“ von José Viale Moutinho
  • Wien im Roman Malina. Ingeborg Bachmanns „Röntgenbild der Stadt“
  • Wien – alternativ? Literarische Stadtdarstellung im Kontext von Migration: Barbara Frischmuths Die Schrift des Freundes, Doron Rabinovicis Ohnehin und Vladimir Vertlibs Zwischenstationen
  • Envoi
  • Der... der. Der Auch-Baum und der Baum. Anmerkungen zu Paul Celan in Wien
  • Viennavigator
  • Wer nimmt wann Stadtentwicklung wahr und was genau davon? Einige Thesen zur fatalen Beziehungsgeschichte von Großstadt, Literatur und Marketing in Österreich
  • Viennavigator: Digitale Formalisierung literarischer Topographien am Beispiel des Gesamtwerks von Ilse Aichinger
  • Viennavigator/Mapping Literature: Zu Transformationspfaden in Literaturgeographie und Location-Based Augmented Reality Games

← 6 | 7 →Norbert Bachleitner / Christine Ivanovic

Nach Wien! Sehnsucht, Distanzierung, Suche. Zur Einführung

„… das zu Erreichende hieß Wien.“
Paul Celan

„Nach Wien!“ – der Titel des vorliegenden Bandes gibt das Echo der Großstadtsehnsucht von Čechovs Drei Schwestern mit einem Augenzwinkern wieder und hat dabei zugleich den Ernst der Lage derjenigen im Blick, für die Wien im symbolischen Sinn die Bewahrung ihrer kulturellen Identität und im pragmatischen Sinn das Überleben bedeutete. Die Beiträge fokussieren nicht auf Texte aus Wien, sondern auf Darstellungen der Stadt aus der Distanz, auf meist erst im Nachhinein festgehaltene Wahrnehmungen, Erfahrungen, Einschätzungen vorübergehender BewohnerInnen oder BesucherInnen Wiens. Sie haben einen Teil ihres Lebens hier verbracht, bevor sie die Stadt verließen, oder sie sind Durchreisende gewesen, die sich nur für einige Zeit hier aufgehalten haben: Fremde eher als Einheimische, StudentInnen oder AutorInnen, Bildungsreisende und PauschaltouristInnen, MigrantInnen und Arbeitssuchende, nicht zuletzt Displaced Persons und HeimkehrerInnen aus der Emigration. In ihren Darstellungen nehmen sie Wien rückblickend oder erwartungsvoll in den Blick und verfassen Erinnerungen oder Imaginationen der Stadt – wie und als was? Als Sehnsuchtsort einer verlorenen Zeit oder als zauberhafte Destination? Voller Gram als Ort des eigenen Ausgeschlossenwerdens oder in der Sehnsucht, hier anzukommen? Entmutigt oder mit Hochmut, sympathiegetragen oder abschätzig? Es sind ephemere und nur allzu oft emotionsgesättigte Wienbilder, die da aus der Distanz heraus entstehen, weit mehr Repräsentationen der mit der Stadt assoziierten Wunschvorstellungen oder der hier erfahrenen und immer noch schmerzenden Versehrungen als nüchterne Bestandsaufnahmen der stetigen Alltagsroutine einer einst mächtigen und heute gemäßigt prosperierenden Metropole.

Aus der Perspektive solcher Texte wird das in der Mitte Europas gelegene und an seiner abgetretenen „kulturellen Pflasterung“ (Karl Kraus) erkennbare Wien – seit Jahrhunderten eine Relaisstation der Völker und Kulturen – deutlicher wahrnehmbar als Ort der Ankunft und der Abreise oder auch der Durchreise. Wien ist ein imagebeladener, imagegesättigter, vielleicht sogar durch Images überwältigter Ort, der viele anzieht, aber nicht alle bei sich behält. Von denen, ← 7 | 8 →die hierherkommen, bleiben nur wenige, einige aber für immer, und dies nicht ohne Grund: Wien ist heute wieder eine der attraktivsten Städte Europas, es verspricht ökonomische Stabilität und soziale Sicherheit. Andererseits folgen manche von denen, die hier geboren und aufgewachsen sind – und unter ihnen heute besonders die SchriftstellerInnen –, der Devise „das Leben ist anderswo“ und gehen auf Distanz zu ‚ihrer‘ Stadt. Manche taten dies aus freien Stücken, viele aber wurden gewaltsam vertrieben – ihre Rückblicke zeugen auch von den hier erlittenen Verletzungen.

Texte, die in diesem Sinn „nach Wien“ verfasst wurden oder die sich „nach Wien“ hinwenden, finden sich in unüberschaubarer Menge und Vielfalt; sie sind bisher kaum gesichtet und unter historisch und systematisch relevanten Gesichtspunkten analysiert worden – auch der vorliegende Band vermittelt eher nur stichprobenartig Einblicke als einen repräsentativen Querschnitt, zumal die jüngsten Tendenzen „Nach Wien!“ im Umfeld der zunehmend dramatischen globalen Migration literaturwissenschaftlich noch längst nicht bearbeitet worden sind. Gerade eine Untersuchung aus komparatistischer Perspektive verspricht jedoch ein erstaunlich facettenreiches Bild, ein Kaleidoskop der Distanzierungen und imaginären (Wieder)Annäherungen an eine offenbar nur schwer zu fassende Stadt. Denn was ist Wien? Museal erstarrte Hauptstadt des Habsburger Reiches oder vielversprechende neue Heimat für die nach Kriegen oder politischen Umstürzen hier Gestrandeten? Ort der Zuflucht oder nur Durchgangsstation? Stadt der Verheißungen oder erstickende Metropole bornierter ‚österreichischer Seelen‘? Touristenmagnet und Tortenhochburg? Zentrum kultureller Vielfalt, Speerspitze der Moderne oder überlebtes Relikt einer Welt von (vorvor)gestern?

Die hier versammelten Beiträge widmen sich Texten, die aus den verschiedensten Perspektiven auf Wien blicken. Mehrheitlich reflektieren diese frühere Erlebnisse und Erfahrungen in der bzw. Ansichten und Meinungen über die Stadt. Es sind Liebeserklärungen darunter, aber auch Absagen an die Donaumetropole aus vielen Richtungen. Sie reichen vom frühen 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, umfassen zuletzt auch Darstellungen in neueren Medien (so das Wienporträt einer japanischen Filmserie) oder mittels neuer Technologien (so zwei Ansätze zur Anwendung von Informationstechnologie für die Erarbeitung eines „Viennavigator“) und sie berücksichtigen AutorInnen aus diversen Sprachen und Kulturen. Im Hin- und Herwandern zwischen den diversen dabei entstandenen Ansichten von Wien mag der Leser beim Vergleich der unterschiedlichen Darstellungen zu dem Schluss kommen, dass die Synthese eines homogenen Wienbilds zwar nicht gelingen mag, dass die Wahrnehmung Wiens bei aller Diversität, Diskontinuität und Dynamik aber dennoch deutlich erkennbare Konstanten aufweist.

← 8 | 9 →Fragen, die sich stellen, lauten: Wie kommt jenseits der Postkartenansichten von Hofburg und Stephansdom, Prater und Fiaker, Strudlhofstiege und Café Central die Sehnsucht „Nach Wien!“ in den Wort- und Bildschöpfungen derer zum Ausdruck, die hierhergekommen bzw. hier angekommen oder hier durchgegangen sind? Wie imaginieren die Stadt jene, die von Wien berührt wurden und die deren Atmosphäre in der Ferne sich wieder zu vergegenwärtigen versuchen? Wie schreiben jene Wiener über die Stadt, die sie verließen und die sie in ihren Texten wieder aufsuchen? Wie wäre unter Einschluss dieser Perspektiven so etwas wie eine Wien-Literatur zu bestimmen? Was unterscheidet sie von den klassischen Großstadttexten der Moderne, die London, Paris, New York gelten? Wo ähnelt die angestaubte Hauptstadt des Habsburgerreichs der einstigen preußischen Hauptstadt, die in der einschlägigen Literatur als märkisches Dorf verschrieen wurde? Welche schon zum Mythos erstarrten Stereotypen rücken das literarisch imaginierte Wien in die Nähe seines östlichen Nachbarn, des „magischen“ Prag? Was könnte unter den gegenwärtigen Konditionen die – literarische – Zukunft Wiens sein? Formt Wien und formuliert die Literatur aus und über Wien eine Zukunft für die Menschen, die sich hier zusammenfinden: alte und neue Wiener, Alteingesessene und Zugereiste, Bewohner und Touristen, Europäer und Menschen von anderen Kontinenten, die Wien anzieht und nicht loslässt wie das „Mütterchen Prag”, ohne je wirklich „mütterlich” gewesen zu sein?

Mit diesen Ausgangsüberlegungen schlägt unser komparatistisch orientierter Ansatz einen zumindest für das literarische Städtebild Wiens bisher noch kaum systematisch begangenen Weg ein. Der Band versammelt paradigmatisch zunächst imagologisch dominierte Untersuchungen und stellt ihnen dann Beispiele aktueller raumbezogener literaturwissenschaftlicher Analyse sowie neuere, auf den Möglichkeiten der Informationstechnologie aufbauende Forschungsansätze zur Seite.

Das mit dem spatial turn seit Ende der neunziger Jahre erneut verstärkte Interesse für literarisch vermittelte Raumkonzepte verbindet die bis dahin geführte, in der deutschsprachigen Debatte maßgeblich von den Modellen Jan und Aleida Assmanns bestimmte Debatte um „Gedächtnisräume“ einerseits, Pierre Noras topisches Konzept der „lieux de mémoire“, d. h. mit kultureller Bedeutung aufgeladener Orte andererseits, mit einer erneuten Erfassung der „Stadt als Palimpsest und Geschichtsspeicher“,1 wie sie bereits bei Freud thematisiert wurde. Nicht ← 9 | 10 →nur historisches, auch literarisches Geschehen ist eng mit dem Handlungsraum verknüpft, er kann in Texten ein Instrument, ja sogar das Ziel darstellen. Oder, wie es Markus Schroer formuliert: „Die Fülle möglicher Verhaltensweisen wird durch Raum selektiert […].“2

Als wegweisend für die gegenwärtige Untersuchung literarischer Raumbezüge hat sich Barbara Piattis bereits zum Standardwerk avancierte Studie zur Literaturgeographie erwiesen, in der unter anderen auch folgende Aspekte erläutert werden: die große Bedeutung von Handlungsräumen in der Literatur; das Verhältnis des Realraums zu fiktionalen Darstellungen einer Region bzw. Stadt, die in graduell unterschiedlichem Ausmaß Transformationen unterzogen wurden; die Wechselwirkungen zwischen Realraum und literarischer Darstellung, die ihrerseits über den Umweg der kollektiven Wahrnehmung, etwa in Form der Hervorhebung bestimmter Orte in einer Stadt oder der Festigung bestimmter klischeehafter Vorstellungen wieder auf den Realraum, nicht zuletzt aber auf andere fiktionale Werke zurückzuwirken vermag.3 Für die hier interessierenden Wiendarstellungen betrifft Letzteres insbesondere Filme wie „Der Dritte Mann“ und an solche Wienbilder anknüpfende Produkte, wie etwa das von Ina Hein aus der japanischen Populärkultur präsentierte Beispiel.

Die Identifikation Wiens ist in den hier behandelten Texten meist eindeutig und nicht weiter fragwürdig. Unter den von Anselm Mahler unterschiedenen Varianten der diskursiven Stadtkonstitution (referentielle Konstitution einer bestimmten und indirekte, semantische Konstitution einer nicht näher im Realraum lokalisierbaren Stadt) haben wir es hier fast immer mit referentieller Identifikation der Stadt über ihre direkte Bezeichnung oder metonymische Teilreferenzierung (z. B. Erwähnung des Praters, der Ringstraße …) zu tun.4

In der Literatur zum literarischen Wien finden wir zunächst Reiseführer und Materialsammlungen wie jene von Joseph P. Strelka, der Texte über „Wien und die Wiener“ sowie „Zur Geschichte und Legende Wiens“ versammelt, um dann Rundgänge durch die Bezirke anzubieten – ein Buch übrigens, das der gebürtige Wiener und Absolvent der Universität Wien zusammengestellt hat, lange bevor er (nach seiner Emeritierung als Professor für Literaturwissenschaft an ← 10 | 11 →verschiedenen amerikanischen Universitäten) hierher zurückgekehrt ist.5 Ähnlich ordnet Hedwig Heger ihre Vielzahl von Zitaten, die bis ins Mittelalter zurückreichen, nach Bezirken.6 Autorzentrierte Führer bzw. Rekonstruktionen der in ihrem Leben wichtigen Wiener Lokalitäten liegen etwa zu Schnitzler vor.7 Eher als Anthologie erscheint die von Richard Reichensperger herausgegebene Textsammlung mit dem Titel Vorfreude Wien.8 Das anhaltende Interesse auch eines breiteren Publikums an der literarischen Repräsentation zeigt jüngst ein Schwerpunkt zum Thema „Wien – eine literarische Topografie“ in der online-Zeitschrift literaturkritik.de mit Beiträgen zu den erwartbaren all time-highlights Prater, Kaffeehäuser, Bachmanns Ungargassenland, jüdisches Wien bei Ilse Aichinger und Veza Canetti, Kapuzinergruft und Wiener Morbidität.9 Literarische Reiseführer – und in diesem Genre bewegten sich auch die in literaturkritik.de versammelten Skizzen – boomen, monographische Studien indes sind rar, und methodisch differenzierte Analysen zur (Groß)stadtliteratur, die aus durchaus unterschiedlichen Perspektiven heraus verfasst werden (beispielsweise von Ortsansässigen oder von Reisenden), sind immer noch Desiderat, auch wenn die Klassifikation von Texten nach der AutorInnenperspektive beispielsweise im Bereich der Gender-Forschung oder bei der MigrantInnenliteratur heute hoch im Kurs steht.

Aus kulturwissenschaftlicher Sicht stellt die Stadt einen ‚Text’ dar, der unterschiedlich ‚gelesen’ und interpretiert werden kann. Im Fall Wiens handelt es sich um einen inhomogenen, infolge der vielen hier aufeinandertreffenden Ethnien und ihren Sprachen spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts um einen hochgradig differenzierten und hybriden Raum.10 Unterschiedliche Lesarten resultieren aus der Auswahl aus dem Gesamttext Stadt, aus der jeweils dazu eingenommenen ← 11 | 12 →Perspektive; die Lesarten äußern sich in der Literatur in unterschiedlicher sprachlicher Ausgestaltung des Stadtbildes, etwa durch bestimmte Metaphorik oder durch Anschluss an vorhandene Diskurse, wie z. B. den ‚habsburgischen Mythos’, das ‚rote’ Wien u. ä. Selbstverständlich ergeben sich an diesem Punkt methodologische Querverbindungen zur Imagologie, die den Blick auf das ‚Fremde’ lange Zeit unter Rückgriff auf Auto- und Heterostereotype erklärt und realitätsnahe ‚images’ von frei erfundenen ‚mirages’ unterschieden hatte.11

Auf die starke innerstädtische kulturelle Binnendifferenzierung weist dementsprechend Stefan Simonek hin, wenn er die Grenze zwischen Zentrum und Vorstädten bzw. Provinz am Beispiel des aus Laibach nach Wien gekommenen Autors Ivan Cankar aufzeigt, der um 1900 in Ottakring wohnte und für den die Innenstadt einen exotisch-fremden Raum bildete. Mit dieser Sicht unterschied sich Cankar maßgeblich von jener anderer sich gleichzeitig in Wien aufhaltender Autoren, dem Böhmen Josef Svatopluk Machar und dem aus Lemberg gebürtigen Tadeusz Rittner, ganz zu schweigen von Arthur Schnitzler.12 Die in unserem Band vorherrschende Außenperspektive auf Wien wird darüber hinaus konsequent in den Beiträgen des von Gertraud Marinelli-König und Nina Pavlova herausgegebenen Sammelbands zu ost- und südosteuropäischen Autorinnen und Autoren13 wie auch in der von Christa Rothmeier herausgegebenen und kommentierten Anthologie zum Thema Wien in der tschechischen Literatur eingenommen.14

Die unterschiedliche Sicht auf die Stadt aus divergierenden Perspektiven stellt, wie gesagt, ebenfalls ‚Lesarten’ des Stadttextes dar. Eva Greil beschränkt sich in ihrer Dissertation auf österreichische Literatur, die sie wiederum nach Orten, die allerdings nach topographischen Merkmalen – nämlich nach Höhe- und ← 12 | 13 →Tiefpunkten – sortiert behandelt. Hochhäuser, Kirchen, Türme, das Riesenrad und die (umgebenden) Berge, die ebenso wie die in der Mehrzahl engen Gassen ein spezifisches Wiener Charakteristikum darstellen, aber auch der Blick aus der Stadtbahn gewährleisten einen Überblick, während Keller, Kanäle, Katakomben und U-Bahn das unterirdische Wien erschließen. Darüber hinaus wird nach den Techniken der Darstellung (Malen mit Worten, Metaphorik, Auswirkungen der Wiener Topographie auf die Textstruktur u. ä.) gefragt, d. h. nach den Entsprechungen zwischen Stadtformen und Satzstrukturen, der Gestaltung von Absätzen, Abschweifungen und Klammerausdrücken. Schließlich gilt die Aufmerksamkeit auch den Orten der Erinnerung, der Überlagerung von Vergangenheit und Gegenwart.15 Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang ferner das von Andrea Grill zusammengestellte Dossier „Albanisches Wien“16 und Monika Seidls Monographie über die Sicht britischer Schriftsteller auf das ‚rote’ Wien der Zwischenkriegszeit.17

Vor dem Hintergrund dieser Studien und der damit angezeigten Forschungsansätze und Forschungsdesiderate entstand der Plan zu einer Ringvorlesung, die im Wintersemester 2012/2013 an der Universität Wien abgehalten wurde. Drei weitere in den vorliegenden Band aufgenommene Beiträge (Polt-Heinzl, Ivanovic/Frank und Leihs) wurden im Rahmen des Workshops „Viennavigator“ im September 2012 in der Wien-Bibliothek im Rathaus vorgetragen und diskutiert. Hier war es darum gegangen, neue methodische Ansätze für die Erfassung und Erforschung des Zusammenhangs von Literatur und Stadt vorzustellen respektive zu entwickeln.

Dementsprechend weist der vorliegende Band nun drei Schwerpunkte auf: im ersten Teil werden kursorische Überblicke über Wiendarstellungen in bestimmten nationalen Kontexten in der Tradition der Imageforschung gegeben; der zweite Teil diskutiert literarische Konstruktionen von Stadterfahrung an ausgewählten Beispielen und schließlich widmet sich ein dritter Teil der kritischen Reflexion auf die Realität von Stadtentwicklung und Stadtvermarktung und entwirft methodisch neue Ansätze zur Analyse von Stadterfahrungen in Texten und Spielen.

Der Einstieg in die Rekapitulation literarischer Wien-Darstellungen aus der Ferne erfolgt nicht zufällig historisch, bildet sich doch die moderne (Groß-)Stadt im Verlauf des 19. Jahrhunderts heraus, was zu neuen Phänomenen und ← 13 | 14 →Wahrnehmungen führt: Masse und Bewegung, Anhäufung von Waren, Chaos, Lärm, Licht, Isolierung des Einzelnen, Theater und Unterhaltungsbetrieb u. v. a.18 In seinem Beitrag untersucht Walter Wagner Heterostereotype des Österreichischen in der französischen Literatur um 1800 vor dem Hintergrund der Klimatheorie, die zwischen ‚nördlichen’ und ‚südlichen’ Völkern unterschied, unter anderem bei Madame de Staël, Stendhal und dem Prince de Ligne, aber auch bei in der Literaturgeschichte weniger prominenten Personen wie Charles Louis Cadet de Gassicourt und Vigée Le Brun. Die Franzosen vermissten bei den Österreichern guten Geschmack, Intellektualität und Weltläufigkeit, in Wien goutierten sie aber die Theater, die Damenwelt, die Extravertiertheit der guten Gesellschaft, die Bälle sowie die Musik und Musikalität der Bevölkerung. Wagners Resümee lautet, dass den Wienern der hybride Status eines Volkes der gemäßigten Klimazone zuerkannt wurde, das Merkmale des Nordens und des Südens in sich vereint.

An italienischen und französischen Besuchern nennt Alfred Noe Casanova und Vittorio Alfieri, die beide den kaiserlichen Poeten Metastasio besuchten, ersterer äußerte sich auch kritisch-belustigt über die Sittenstrenge im Wien Maria-Theresias. Von französischer Seite kamen Madame de Staël und der schon erwähnte Nerval nach Wien und dokumentierten ihre Erlebnisse auf vergleichsweise ausführliche Art und Weise (De l’Allemagne bzw. Amours de Vienne und Pandora). In den letzten Jahrzehnten zeichnete Françoise Chandernagor (L’Archange de Vienne, 1989) das Bild einer diabolischen und dahinsiechenden Stadt, deren Verwesung in düsteren Metaphern geschildert wird; Patrick Rambaud griff in seinem historischen Roman La bataille (1997) auf den Kriegszug Napoleons zurück. Schließlich verlegt auch Santo Piazzese, ein Krimi-Autor aus Palermo, einen Teil der Spurensuche in La doppia vita di M. Laurent (1998) nach Wien.

Überraschend umfangreich und divers ist das Spektrum von Wien-Besuchern aus Nordamerika zwischen der Mitte des 19. und dem Ende des 20. Jahrhunderts, die Waldemar Zacharasiewicz in seinem Beitrag versammelt. Zu den frühen Bewunderern des „German Paris“ zählen etwa Bayard Taylor und James Johnston Pettigrew, der eine Affinität zwischen Österreichern und den Bewohnern der Südstaaten feststellte. Wieder ist es das musikalische Leben, das auch von den Amerikanern besonders gewürdigt wird. Dem Mediziner Charles H. Haeseler – diese Disziplin stellte einen weiteren Magneten für amerikanische Besucher dar – fiel wiederum die Gemächlichkeit und Trägheit der Wiener auf, Mark Twain ← 14 | 15 →pointierte den Charakter Wiens als ethnischer Schmelztiegel. Das Bild runden Auslandskorrespondenten US-amerikanischer Zeitungen ab. Auch in der fiktionalen Literatur gibt es immer wieder Bezugnahmen auf Wien und sogar gänzlich an Schauplätzen der Stadt angesiedelte Werke, zum Beispiel von John Irving.

Stefan Simonek stellt das Wienbild in der neueren ukrainischen Literatur in den umfassenden Kontext der postsowjetischen kulturellen Konstellation, die ihrerseits wiederum als eine Variante der postkolonialen Befindlichkeit erscheint. Demnach schreiben die galizisch-ukrainischen Autoren indirekt gegen das sowjetische ‚empire’ an, wenn sie die k.u.k.-Monarchie mit der Metropole Wien zwar ironisch gebrochen, aber doch verklärend darstellen. In dieser positiven Sicht auf die Vergangenheit innerhalb der Monarchie unterscheidet sich die Gegenwartsliteratur gravierend von der Position der Autorinnen und Autoren um 1900 wie z. B. Ivan Franko, die das Habsburgerreich und Wien durchaus kritisch betrachteten. Schon allein die Reisefreiheit und Zugehörigkeit zu einem europäischen Verband scheint retrospektiv ein großer Gewinn gegenüber der Abhängigkeit von der Sowjetunion. Dies wird am Beispiel von Jurij Andruchovyč und dem Lyriker und Erzähler Serhij Žadan demonstriert, deren Wien oft eher einem Raum globalisierter urbaner Erfahrungen denn einer konkreten Stadt mit spezifischer Geschichte gleicht.

In einem großen, mehrere sehr unterschiedliche Epochen umfassenden historischen Ausgriff untersucht Ina Hein die Aufzeichnungen zu Österreich bzw. Wien in einem japanischen Reisebericht aus dem Jahr 1873, diverse japanische Reiseaufzeichnungen, Tagebücher und Essays, die ca. hundert Jahre später entstanden, sowie einen populären Film aus der Serie um die komische Figur des Tora-san. Der erstgenannte Bericht ermittelte Daten und Fakten über Wien und Österreich als Grundlage für die beabsichtigte politisch-ökonomische Modernisierung in Japan. Der Essayband Tatakau tetsugakusha no Wîn aizô von Nakajima Yoshimichi nimmt Wien zum Anlass, um kritische Blicke auf die Verhältnisse in Japan zu werfen. Das Wienbild des genannten populären Films wird von einem touristischen Blick und entsprechenden Klischees dominiert.

Den zweiten Schwerpunkt des Bands mit Beispielanalysen eröffnet der Beitrag von Daniel Lange. Er widmet sich Nervals bereits bei Noe angesprochenem Wien-Text Pandora, den Lange nun auf drei Ebenen analysiert: auf jener der fremden Sprachen, Texte und Kulturen, die der Erzählung eingeschrieben sind, auf jener einer Theorie der Sprache des Fantastischen, die aus der Erinnerung an Wien abgeleitet wird, und auf der Ebene der Interpretation von Wien als Paradigma der translationalen Stadt, die insbesondere auf ihre Mehr- und Fremdsprachigkeit zurückzuführen ist. Der Text gleicht hier formal der Stadt, gleichzeitig ist Pandora, so Langes These, eine Übersetzung der älteren Wien-Beschreibungen Nervals in dessen Amours de Vienne.

← 15 | 16 →Stefan Kutzenberger untersucht den Schauplatz Wien in rezenten lateinamerikanischen Romanen, und zwar in Julio Cortázars 62/Modelo para armar (1968), Roberto Bolaños Los detectives salvajes (1998) und Nocturno de Chile (2000) und Alan Pauls’ El pasado (2003). Cortázar hielt sich Anfang der 1960er Jahre als Übersetzer für die UNO in Wien auf, war von der Atmosphäre in der Stadt aber wenig begeistert. In seinem Roman taucht Wien als barocker Ort des Surrealen auf, das Basiliskenhaus ist für ihn ebenso zentral wie die Blutgasse und eine ihr Unwesen treibende Vampirin; seine Kritik an dem hier herrschenden bourgeoisen Geist gemahnt an Thomas Bernhard. Roberto Bolaño lässt seine Protagonisten, einen Lateinamerikaner und einen Wiener mit nationalsozialistischen Neigungen, ausdauernd durch Wien wandern und nennt dabei (rekordverdächtige!) fünfzig Namen von Straßen, Plätzen, Bezirken und Gebäuden. Ähnlich irrt bei Alan Pauls ein Maler namens Riltse am Rand des Wahnsinns durch die Stadt. Wie in den übrigen behandelten Romanen ist Wien auch hier eine Art Tor zum Surrealen und Unbewussten.

In diesem Umfeld scheinen sich auch die von Stefan Lessmann erstmals in deutscher Sprache vorgestellten Texte des portugiesischen Autors José Viale Moutinho zu bewegen. Lessmann hat zwei auf Wien bezogene Prosaminiaturen von ihm übersetzt und kann in seinem begleitenden Kommentar deutlich machen, in welchem Maße Moutinho – nicht ohne Augenzwinkern – Wien als Knotenpunkt surrealer Erfahrungen re-inszeniert, wobei Lessmann auch die relevanten paratextuellen Verfahren des Autors mit berücksichtigt.

Barbara Agnese widmet sich der Rolle der Stadt in Ingeborg Bachmanns Malina. Als einer der Begründer des Mythos von Paris ist Balzac für Bachmann wichtig, deren ‚Ungargassenland’ ebenfalls als U-Topos erscheint. Es bietet Geborgenheit, die andere Plätze der Stadt nur dann vermitteln, wenn sie mit Liebe (bzw. der Figur des Ivan) assoziiert sind. Die Stadt ist bei Bachmann ein historischer Palimpsest, der verborgene Schichten zu offenbaren mag. Die Blutgasse mit ihrer unklaren Etymologie gibt Rätsel auf, musik- oder kunsthistorisch markierte Orte weisen in die Geschichte zurück, in Sachen Literatur steht diesbezüglich die Nationalbibliothek im Mittelpunkt. Ortsnamen sind für Bachmann wichtig, ihre Aura führt vom Tatsächlichen weg zur Literatur, in ein weltweites Netz von Erinnerungsorten.

Sandra Vlasta analysiert das Wienbild in Barbara Frischmuths Die Schrift des Freundes (1998), Doron Rabinovicis Ohnehin (2004) und Vladimir Vertlibs Zwischenstationen (1999), die das Thema der Migration nach Wien verbindet. Die Orte, denen besonderes Augenmerk in den Romanen gilt, sind ein Haus in der Brigittenau, in dem mehrheitlich russische Juden wohnen (Vertlib), bzw. in Ohnehin und Die Schrift des Freundes der Naschmarkt. Die zugewanderten ← 16 | 17 →Protagonisten verändern diese Räume gewissermaßen, sie verleihen ihnen multikulturelle Eigenschaften. Vertlibs „russisches Schloss“ wird zu einer Melange von russischen, israelischen und Wiener kulturellen Elementen; die Hauptperson in Ohnehin ist ein Arzt, der einen Patienten behandelt, der Mitglied der SS und Kriegsverbrecher war, und zugleich eine Filmemacherin aus Ex-Jugoslawien kennenlernt und von weiteren internationalen Charakteren umgeben ist. Die NS-Vergangenheit vermischt sich so mit der multikulturellen Gegenwart der Stadt, die räumlich durch den Naschmarkt repräsentiert wird. Die Protagonistin Anna in Frischmuths Die Schrift des Freundes trifft einen jungen alevitischen Türken, was die Verfasserin zum Anlass nimmt, um über diese religiöse Gruppierung zu informieren. Wieder ist der Naschmarkt zentraler Ort des Zusammentreffens der Kulturen.

Im Rahmen des letzten Schwerpunkts des Bandes beginnt Evelyne Polt-Heinzl ihre Rundschau der Wiener Literatur mit der Feststellung, dass der architektonische Modernisierungsschub der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Stichwort Ringstraßenbau) von den Autoren des Jungen Wien geflissentlich übergangen wurde, weil sie bzw. ihre Vätergeneration tief in die dahinterstehenden kapitalistischen Unternehmungen verwickelt waren. Abseits des literarischen Hauptstroms der Moderne, in Tagebüchern, Biographien und Essays, findet man dagegen zahlreiche, oft kritische Hinweise auf die städtebaulichen Veränderungen. In Marie von Ebner-Eschenbachs Lotti, die Uhrmacherin (1890) erkennt sie den eigentlichen Roman des Ringstraßenbaus. Auch Auguste Groner bezieht sich in ihrer Kriminalnovelle Nach zwanzig Jahren (1902) auf die einschneidenden baulichen Veränderungen. Den Strang kritischer Stadtliteratur setzt z. B. Fritz Hochwälders Arbeitslosenroman Donnerstag fort, während Romane wie Doderers Strudlhofstiege eine geradezu provinzielle Idylle zeichnen, die sich von der Nachkriegsrealität des zerbombten Wien fernhält.

Details

Seiten
361
Erscheinungsjahr
2016
ISBN (PDF)
9783653061024
ISBN (MOBI)
9783653961324
ISBN (ePUB)
9783653961331
ISBN (Hardcover)
9783631666593
DOI
10.3726/978-3-653-06102-4
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (September)
Schlagworte
Imagologie Digital Humanities Stoff- und Motivforschung
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 361 S., 10 farb. Abb., 10 s/w Abb.

Biographische Angaben

Norbert Bachleitner (Band-Herausgeber:in) Christine Ivanovic (Band-Herausgeber:in)

Norbert Bachleitner ist Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Wien. Christine Ivanovic ist Berta Karlik-Professorin für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Wien.

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Titel: Nach Wien!