Lade Inhalt...

Fremdheit – Gedächtnis – Translation

Interpretationskategorien einer kulturorientierten Literaturwissenschaft

von Katarzyna Lukas (Autor:in)
©2018 Monographie 464 Seiten

Zusammenfassung

In dieser Monografie werden ausgewählte Kulturtexte des 20. und 21. Jahrhunderts unter Anlehnung an die Interpretationskategorien Fremdheit, Gedächtnis und Translation gelesen. Um das Deutungspotential dieser drei Leitbegriffe einer kulturorientierten Literaturwissenschaft zu entfalten, werden sie einer metaphorischen Extension unterzogen und in diversen Konfigurationen zusammengeführt. Der so entwickelte Analyserahmen erlaubt es aufzuzeigen, wie sich die Werke von so unterschiedlichen Autoren wie Thomas Mann, Bruno Schulz, W.G. Sebald und J.S. Foer sowie ihre interlingualen, intersemiotischen und sonstigen Translationen gegenseitig beleuchten. In den Blickwinkel rücken dabei Wechselbeziehungen zwischen kulturwissenschaftlichen Diskursen wie die Übersetzungs- und die Gedächtnisforschung.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • Einführung
  • 1. Fremdheit, Gedächtnis und Translation: kulturwissenschaftliche Leitbegriffe mit turn-Potential
  • 2. Begriffsdefinitorische Schwierigkeiten: ›harte‹ und ›weiche‹ Fachbegriffe
  • 3. Zur gemeinsamen interdisziplinären Erforschung von Fremdheit, Gedächtnis und Translation: Forschungsstand und Perspektiven
  • 4. Schwerpunkt: Kulturtexte
  • 5. Literaturwissenschaft: eine kulturwissenschaftliche? Eine inter-/transkulturelle? Eine kulturorientierte?
  • 6. Zur Auswahl der Beispieltexte
  • Kapitel I. Translation
  • 1. Translationswissenschaftliche Anschlussmöglichkeiten an die Gedächtnisforschung. Standpunkte und Konzepte im Überblick
  • 2. Vom interlingualen Transfer zur ›Kultur als Übersetzung‹: die Perspektivverschiebungen der Translationswissenschaft
  • 3. Die metaphorische Extension des Translationsbegriffs: Cultural translation als conditio humana
  • Exkurs: Wechselwirkungen zwischen Translationsauffassung und Metaphern-Theorie
  • 4. Jakobson und die Folgen, oder: An den unscharfen Rändern des Translationsbegriffs
  • 5. Translation als radiale Kategorie; übersetzungsähnliche Kulturtext-Transformationen
  • Kapitel II. Gedächtnis
  • 1. Gedächtnis und Erinnerung, Übersetzen und Dolmetschen: erste formal-lexikalische Annäherungen
  • 2. Individuelles Gedächtnis und intrapsychische Translationen
  • 2.1 Individuelles Gedächtnis und Dolmetschen aus kognitionspsychologischer und neurowissenschaftlicher Perspektive
  • 2.2 Ich-Gedächtnis, Mich-Gedächtnis und intersemiotische Translation
  • 2.3 Translation und Gedächtnis in der Psychoanalyse
  • 3. Kommunikatives Gedächtnis und Übersetzen: Formen zwischenmenschlicher Kommunikation
  • 4. Kulturelles Gedächtnis und sinnverwandte Begriffe
  • 4.1 Kultur und Tradition
  • 4.2 Fiktives Bezugsfeld (Jerzy Ziomek)
  • 4.3 (Sprachliches) Weltbild; Kultur-Code (Maria Krysztofiak)
  • 4.4 Intertextualität: das Gedächtnis des Textes (Renate Lachmann)
  • 4.5 Das paradigmatische Universum (Edward Balcerzan), Systemreferenzen (Manfred Pfister), Interdiskursivität
  • 4.6 Geschichte: Opposition oder Ergänzung zum Gedächtnis?
  • 5. Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen
  • 6. Individuelle und kollektive Gedächtnisformationen: fließende Übergänge oder »Bruch und Abgrund«?
  • 7. Strukturanalogien zwischen ›Gedächtnis‹ und ›Translation‹
  • 7.1 Mimesis und Transfer vs. Poiesis und Transformation?
  • 7.2 Übersetzungs- und Gedächtnismetaphern
  • 7.3 Der memetische Zugang zur Translation und zum kollektiven Gedächtnis
  • 7.4 Translation und Gedächtnis: Metapher oder Metonymie?
  • 8. Zur ethischen Relevanz von Erinnerungs- und Übersetzungspraktiken: Machtdiskurs und Sacrum
  • Kapitel III. Fremdheit
  • 1. Fremdes, Eigenes, Anderes: Abgrenzungen, Relationen, Systematisierungsversuche
  • 2. Xenologische Aspekte der literarischen Übersetzung
  • 2.1 Fremdheit als »Programm« in romantischen Übersetzungskonzepten
  • 2.2 Fremdheit, Übersetzung, ›Geschichte vs. Eingedenken‹ bei Walter Benjamin
  • 3. Gedächtnisrelevante Erscheinungsformen der Fremdheit
  • 3.1 »Das Fremde in mir«: das Unbewusste
  • 3.1.1 Das Unheimliche (Sigmund Freud)
  • 3.1.2 Das Abjekt (Julia Kristeva)
  • 3.1.3 Das Trauma
  • 3.1.4 Postmemory (Marianne Hirsch)
  • 3.1.5 Das Phantom (Nicolas Abraham) und das Ungewusste (Ilany Kogan)
  • 3.2 ›Das Fremde‹ im kollektiven Gedächtnis
  • 3.2.1 Das kollektive Unbewusste und seine Archetypen (C.G. Jung)
  • Exkurs: C.G. Jung und Aby Warburg. Jungs Archetypenlehre: ›das Fremde‹ der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung?
  • 3.2.2 Krypta, Archiv, Speichergedächtnis
  • 4. Ausblick: Konfigurationen von Fremdheit, Gedächtnis und Translation in einer kulturorientierten Literaturwissenschaft
  • Kapitel IV. Thomas Manns Der Erwählte und das kulturelle Gedächtnis des Mittelalters
  • 1. Vorbemerkung
  • 2. Das ›fremde‹ Mittelalter und seine Verschiebung aus dem Speicher- ins Funktionsgedächtnis
  • 3. Intrakulturelle und interdiskursive Translation von Hartmanns Gregorius im Erwählten
  • 3.1 Übernahme des Fabelgerüsts, motivische Umdeutung
  • 3.2 Der Erwählte als prosaische und parodistische Übersetzung im Sinne von Goethe
  • 4. Inszenierung der Fremdheit auf intertextueller Ebene
  • 4.1 Erzählhaltungen und konkurrierende »Modi der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses« (Astrid Erll) im Erwählten
  • 4.2 Fremdheit auf der Ebene der Stilistik und Gattungspoetik
  • 5. Das Bildgedächtnis des Mittelalters: Manns intersemiotische Translationen und ihre polnische Übersetzung
  • 6. Fremdheit und Vertrautheit auf sprachlicher Ebene
  • 6.1 Übernahme authentischer Archaismen
  • 6.2 Synonyme, Antonyme, textinterne Worterklärungen
  • 6.3 Der fiktive Dialekt im Original und in der Übersetzung
  • 7. Schlussbemerkungen: Der verbale und der visuelle Fundus des kulturellen Gedächtnisses
  • Kapitel V. »Die nebeligen Rauchkammern der Fabeln und Märchen«: Formen des Unbewussten in interdiskursiver Translation bei Bruno Schulz
  • 1. Vorbemerkung
  • 2. Bruno Schulz' Fremdheit: im biographischen, literaturhistorischen und künstlerischen Dazwischen
  • 3. Die textinterne Fremdheit: Sprache, Groteske, Entfremdung
  • 4. Translationen von/bei Bruno Schulz
  • 5. Bruno Schulz' poetische Bilder des Unbewussten
  • 5.1 Psychoanalyse als Bruno Schulz' interdiskursives Bezugsfeld
  • 5.2 Der Mythos und das kollektive Unbewusste bei Bruno Schulz und Thomas Mann
  • 6. Bruno Schulz' interdiskursive Translation in deutschen Übersetzungen
  • 6.1 Der Künstler als Medium des kollektiven Unbewussten
  • 6.2 »Mythisierung der Wirklichkeit«: Sinngebung oder Versinnlichung der Welt?
  • 6.3 Bruno Schulz' ›Gedächtnislehre‹?
  • 7. Die ästhetische Umsetzung der Mythos-Idee
  • 7.1 Iterative und unvollendete Verbformen als Mittel der »Mythisierung der Zeit«
  • 7.2 Zeitangaben und Demonstrativpronomina: scheinbare Logik, scheinbarer Realitätsbezug
  • 7.3 Die visuelle Kraft des Grotesken oder die lautmalerische Verfremdung der Sprache?
  • 8. Eine Zwischenbilanz: interlinguale Übersetzung als Grundlage für rewritings/remediations
  • Kapitel VI. ›Kulturtext Bruno Schulz‹: ein Gedächtnisort der mitteleuropäischen und globalen Erinnerungskultur
  • 1. Vorbemerkung
  • 2. Der mitteleuropäisch-galizische Hintergrund des ›Kulturtextes Bruno Schulz‹
  • 3. Das Fragmentarische und Lückenhafte an Schulz' Leben und Werk
  • 4. Bruno Schulz' Gedächtnismetaphern: Apokryph und Palimpsest als Impuls zum rewriting
  • 5. Bruno Schulz' literarische Porträts bei David Grossman, Cynthia Ozick, Ugo Riccarelli und Maxim Biller
  • 5.1 Bruno Schulz' apokryphes und palimpsestartiges Nachleben in der Postmoderne
  • 5.2 Fiktiver Schulz und ›schulzoide‹ Figuren mit hybriden Identitäten
  • 5.3 Das metapoetische Bewusstsein und die Suche nach der ›authentischen‹ Sprache
  • 6. Die Zimtläden als Comic bzw. Graphic novel: Zur visuellen Verfremdung des Originals in der intersemiotischen Translation von Dieter Jüdt
  • 7. J.S. Foers Tree of Codes: ›transmediale Translation‹ in ein hybrides Designobjekt
  • 8. Schlussbemerkung
  • Kapitel VII. Fremde Räume und Translationen als Denkfiguren der memoria im Erzählwerk von W.G. Sebald
  • 1. Fremdheit, Gedächtnis und Translation bei Sebald: textinterne Leitmotive und biographische Hintergrundfaktoren
  • 2. Zur gedächtnisprägenden Leistung ›fremder Räume‹: Sebalds Heterotopien und Nicht-Orte
  • 2.1 Bahnhöfe: Nicht-Orte mit identitätsstiftender Funktion
  • 2.1.1 Der Bahnhof in Antwerpen: Ein Ort des kommunikativen Gedächtnisses
  • 2.1.2 Liverpool Street Station: Gedächtnis als Gefängnis, Verräumlichung der Zeit und Heterochronie
  • 2.2 Scheinbarer anthropologischer Ort ›Bibliothek‹: Entfremdung und Tod des kulturellen Gedächtnisses in der Heterotopie
  • 2.3 Die Festung Breendonk: »Lebenszitadelle des Fremden« und Abwehrmechanismen des individuellen Gedächtnisses
  • 3. Im Labyrinth der Sprache: von der Aphasie zur Metonymie
  • 4. Metonymische Präsenz und metaphorische Bedeutung
  • 5. Metonymisches Zusammenspiel von Sprache und Bild
  • 6. Die babylonische Sprachverwirrung und translatio als memoria
  • 7. Sebalds Individualästhetik in polnischer Übersetzung
  • 8. Schlussbemerkung: Die Melancholie der cultural translation
  • Kapitel VIII. Illuminationen des Fremden: Zugänge zu verdrängten Traumata in J.S. Foers Roman Everything Is Illuminated und in seinen rewritings/remediations
  • 1. Zur Genese und Erzählstruktur des Romans
  • 2. Dimensionen der Alienität bei J.S. Foer und seinen rewritern
  • 2.1 Fremdheit im Idiolekt des fiktiven Übersetzers: der ›Dritte Raum‹ der Sprache
  • 2.2 Sprachliche Fremdheit in filmischer remediation
  • 2.3 Fremdheit als das ›unbekannte Draußen‹ in soziokultureller Hinsicht
  • 2.4 Alienität als metaphysisches Erlebnis: das Fremde als das verdrängte Eigene im Roman und in der Verfilmung
  • 3. Verdrängte Vergangenheit: ›beschwiegen‹, erfunden, übersetzt. Der Dolmetscher als sekundärer Zeuge
  • 4. Alternative Erinnerungsmittel: Tastsinn, Schmerz, Performanz
  • 5. Dinge, Abfall, Gegengedächtnis
  • 6. Neue kulturelle Verarbeitungsmuster für das Verdrängte: Groteske und Humor
  • 7. Schlussbemerkung: ›Everything is illuminated … in translation‹
  • Kapitel IX. Interdiskursive Translationen im Schatten der postmemory: J.S. Foers Roman Extremely Loud & Incredibly Close
  • 1. Vorbemerkung
  • 2. Zu Foers interdiskursiver Translation einer Psychopathologie in literarische Ästhetik
  • 2.1 Die posttraumatische Belastungsstörung (PTSD)
  • 2.2 Trauer und Melancholie: zwei Möglichkeiten, ein Trauma zu erleben
  • 2.3 Literarische Porträts von drei Melancholikern
  • 3. Wege aus der Trauerkrankheit
  • 3.1 Kommunikatives Gedächtnis und transgenerationelles Leibgedächtnis
  • 3.2 Zur Rolle der automatischen Übersetzung im Trauerprozess: Oskars Fremdheitserfahrung im Translationsraum des Internets
  • 3.3 Das Internet als Archiv, Krypta und Gegengedächtnis
  • 3.4 Mediale Ikonen des 9/11: vorprogrammierter Wiederholungszwang oder Muster zur Durcharbeitung des Traumas?
  • 4. Die Sprache der Bilder: Foers visuelle Verfremdungsverfahren
  • 5. Im Schatten der postmemory: J.S. Foer und die Erinnerung an den Luftkrieg
  • 5.1 W.G. Sebalds Vermächtnis: Luftkrieg und Literatur
  • 5.2 Foers Umgang mit Überlebenden-Berichten
  • 6. Schlussbemerkung
  • Schlusswort
  • Bibliographie
  • Personenregister
  • Reihenübersicht

← 14 | 15 →

Vorwort

Die vorliegende Studie entstand im Rahmen des Forschungsprojekts Pamięć, obcość i translacja jako kategorie przewodnie komparatystyki i literaturoznawstwa interkulturowego [Gedächtnis, Fremdheit und Translation als Leitbegriffe der Komparatistik und der interkulturellen Literaturwissenschaft]. Das Projekt wurde aus Mitteln des Polnischen Wissenschaftszentrums (Narodowe Centrum Nauki) gefördert, die mir laut Bescheid Nr. DEC-2013/09/B/HS2/01192 gewährt wurden und wesentliche materielle Voraussetzungen für die Arbeit an diesem Buch geschaffen haben. Allen, die an der Bewilligung der Mittel und an der Begutachtung des Projekts beteiligt waren, sei an dieser Stelle gedankt.

Im Vorfeld der Arbeit an dieser Monographie hat mir ein vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) geförderter vierwöchiger Forschungsaufenthalt an der Universität Leipzig die notwendigen Bibliotheksrecherchen ermöglicht. Dem DAAD sowie meinen Projekt-Gutachtern und Gastgebern an der Universität Leipzig: Prof. Danuta Rytel-Schwarz und Prof. Wolfgang L. Schwarz bin ich deswegen sehr zu Dank verpflichtet.

Unter den zahlreichen Fachkolleginnen und Fachkollegen, die mit ihren fachlichen Impulsen, konstruktiver Kritik und Diskussionen zur Entstehung dieser Monographie beigetragen haben, möchte ich insbesondere drei Personen namentlich erwähnen. Zuallererst gilt mein Dank Prof. em. Seweryna Wysłouch vom Institut für Polonistik der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznań, die mich auf meiner akademischen Laufbahn von Anfang an begleitet. Dieses Projekt ist in einem seit Jahren geführten Dauergespräch mit ihr gereift, wobei viele von ihren literaturwissenschaftlichen Inspirationen sowie ihre polonistische Perspektive Eingang in dieses Buch gefunden haben. Vieles verdankt meine Abhandlung auch Prof. Andrzej Kątny vom Institut für Germanistik der Universität Gdańsk, seiner ständigen Hilfsbereitschaft und seinen unschätzbaren Anregungen aus sprachwissenschaftlicher Perspektive. Schließlich gebührt mein besonderer Dank der Gutachterin dieser Monographie, Prof. Beate Sommerfeld vom Institut für Germanistik der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznań. Ich bin ihr für die gründliche Lektüre des Manuskripts und die wertvollen Verbesserungsvorschläge sehr dankbar.

Meinen Dank möchte ich darüber hinaus denjenigen aussprechen, von denen ich genau zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Hinweise bekommen habe: Dr. Janis Augsburger aus Berlin, Dr. habil. Katarzyna Kaczorowska-Bray vom Institut für Logopädie der Universität Gdańsk sowie Dr. Katarzyna Kończal vom Institut für Polonistik der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznań. Ralph Müller gab mir vor Jahren den allerersten Impuls, mich mit dem Werk von Bruno Schulz zu beschäftigen. Für diesen Gedankenanstoß, aus dem heraus sich diese Monographie entwickelt hat, bin ich ihm sehr verbunden. Dr. habil. Urszula Topczewska vom Institut für Angewandte Linguistik der Universität Warschau danke ich für ihre Hilfe bei der Beschaffung von schwer erhältlichen Quellentexten. ← 15 | 16 →

Dem Carl Hanser Verlag danke ich für die freundliche Genehmigung, die Abbildungen zu W.G. Sebalds Austerlitz in meinem Buch verwenden zu dürfen.

Mein weiterer Dank gebührt der Universität Gdańsk: der Philologischen Fakultät sowie dem Institut für Germanistik, für die großzügige Gewährung eines Druckkostenzuschusses.

***

Die Fallstudien im praktischen Teil dieser Arbeit gehen teilweise auf meine früheren Veröffentlichungen zurück, die ich für die Zwecke dieser Monographie wesentlich überarbeitet, erweitert und schwerpunktmäßig vereinheitlicht habe. Die unten aufgelisteten Beiträge sind in unterschiedlichen Zeitschriften und Sammelbänden mit diversen Profilen und thematischen Schwerpunkten erschienen, die von der Hauptproblematik dieser Studie meistens abweichen. Insbesondere die in polnischer Sprache verfassten Aufsätze waren für Polonisten gedacht und somit für ein anderes Lesepublikum als die Zielgruppe dieser Monographie. In den meisten Fällen habe ich aus bereits vorliegenden Publikationen die Textbeispiele übernommen, während die dazugehörige Argumentation erweitert und in einen neuen interpretatorischen Gesamtkontext eingebunden wurde, sodass die Buchversion mit den veröffentlichten Aufsätzen nicht identisch ist. Neu sind die Fallstudien im Kapitel IX und größtenteils im Kapitel VI sowie der gesamte theoretische Teil (Kapitel I–III), in dem die Kategorien: Fremdheit, Gedächtnis und Translation als gemeinsamer Nenner für meine Textanalysen erörtert werden. Die Publikationen, deren Teile den Fallstudien zugrunde liegen, werden nachstehend aufgelistet. Darüber hinaus werden meine früheren Veröffentlichungen, auf die ich zurückgegriffen habe, an entsprechenden Stellen der Monographie, und zwar zu Beginn des jeweiligen Unterkapitels, in einer Fußnote angegeben.

Kapitel IV:

Kapitel V:

Kapitel VII:

Kapitel VIII:

← 18 | 19 →

Einführung

1.  Fremdheit, Gedächtnis und Translation: kulturwissenschaftliche Leitbegriffe mit turn-Potential

Fremdheit, Gedächtnis und Translation gehören zu den Themen bzw. Schlagworten, die im heutigen kulturwissenschaftlichen Diskurs einen zentralen Platz einnehmen und sich als solche auch in der Öffentlichkeit durchsetzen. Künstler, Akademiker, Politiker und Journalisten gleichermaßen versuchen, mit den jeweils eigenen Mitteln diverse gesellschaftliche, zeitgeschichtliche, kulturelle und geistige Entwicklungen und Phänomene der ›flüchtigen Moderne‹ unter Rückgriff auf diese drei Begriffe zu erfassen. Translation ist mit ihrer immanenten Prozesshaftigkeit und Dynamik bestens dafür geeignet, die Wandelbarkeit von Kulturen und Weltbildern, das Aufbrechen fester Identitäten, die permanenten Deplatzierungen und Migrationen, Entfremdungen und Entwurzelungen, die den Menschen heute weltweit zuteilwerden, zu beschreiben. Die Hinwendung zur Gedächtnisproblematik wiederum entspringt dem grundsätzlichen menschlichen Bedürfnis nach Stabilität und Zugehörigkeit, der Sehnsucht nach einem unverrückbaren Orientierungspunkt im Zustand des Provisorischen und angesichts existentieller Unsicherheit. Wenn sich der homo migrans des 21. Jahrhunderts, ein Fremdling überall, seiner festen Verortung im Raum nicht mehr sicher sein darf, so will er zumindest imaginär, in zeitlicher Dimension, etwa in der Vergangenheit der Gegend, in die es ihn verschlagen hat, oder im Familiengedächtnis der Vorfahren seinen Platz finden.

Die vorliegende Studie verfolgt zwei Ziele. Erstens sollen in ihrem theoretischen Teil Parallelen, Fluchtpunkte, Schnittmengen und Übergänge zwischen den literatur- und kulturwissenschaftlich heute so relevanten Begriffen: ›Fremdheit‹, ›Gedächtnis‹ und ›Translation‹ nachgezeichnet werden. Zweitens will ich das methodologische Potential dieser drei Größen ausloten und ihre Anwendbarkeit als Interpretationskategorien an ausgewählten, vor allem literarischen, Kulturtexten des 20. und 21. Jahrhunderts überprüfen.

In der heutigen kultur-, literatur- und translationswissenschaftlichen Forschungspraxis werden die Kategorien ›Fremdheit‹, ›Gedächtnis‹ und ›Translation‹ meist separat betrachtet. Sie tauchen als »Kulturthemen« (vgl. WIERLACHER (Hg.) 1993) im Sinne der Interkulturellen Germanistik auf, es fehlen jedoch literarische Interpretationen, die auf allen drei Begriffen – verstanden als Kulturthemen und Deutungskategorien – zugleich aufbauen. Ich gehe davon aus, dass ihre Zusammenführung in diversen Konfigurationen und Gewichtungen die Möglichkeit eröffnet, anscheinend sehr verschiedene (Kultur-)Texte der ›klassischen Moderne‹ und der Postmoderne, die in mehreren ethnischen Sprachen, Medien und/oder Zeichensystemen entstanden, miteinander zu verknüpfen und aus dieser übergeordneten Perspektive in ihrer sprachlichen bzw. medialen, künstlerischen und kulturellen Spezifik zu erfassen. ← 19 | 20 →

Seit dem umfassenden ›Cultural Turn‹ der 1980er Jahre, der sich anschließend in mehrere cultural turns auffächerte (vgl. BACHMANN-MEDICK 2009),1 zieht man in der kulturorientierten Literaturforschung analytische Instrumente heran, die außerhalb der Linguistik und Literaturtheorie stehen: ›Raum‹, ›Bild‹, ›Spiel‹, ›Ritual‹, ›Identität‹, ›Trauma‹ u.v.m. Es wird ihnen das Potential zugesprochen, wenn nicht gerade einen Paradigmenwechsel, so doch eine »Neuorientierung« (SNELL-HORNBY 2009: 43) herbeizuführen. Ein turn kommt zustande, wenn ein Thema auf verstärkte Aufmerksamkeit stößt, metaphorisiert wird und dann in eine Analysekategorie umschlägt (vgl. BACHMANN-MEDICK 2009: 26).

Dieser Entwicklung unterliegen seit längerer Zeit die Begriffe ›Translation‹ und ›Gedächtnis‹, die unter den ›turn-verdächtigen‹ Kategorien deutlich in den Vordergrund rücken. Bereits 1992 stellte Jan Assmann fest: »Alles spricht dafür, daß sich um den Begriff der Erinnerung ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften aufbaut, das die verschiedenen kulturellen Phänomene und Felder – Kunst und Literatur, Politik und Gesellschaft, Religion und Recht – in neuen Zusammenhängen sehen läßt« (ASSMANN J. 62007a: 11). Diese »prophetische Bemerkung« (NÜNNING/NÜNNING 2008: 13) hat sich inzwischen bestätigt, sodass Aleida ASSMANN (2002a) mit Recht das Gedächtnis explizit zum »Leitbegriff der Kulturwissenschaften« erhebt.

Doris Bachmann-Medick erklärt hingegen die Translation zum Dreh- und Angelpunkt aller bisherigen Perspektivverschiebungen, die sie unter dem translational turn subsumieren will (vgl. BACHMANN-MEDICK 2009: 238–283). Translation bildet das Grundmuster jedes Paradigmenwechsels, weil dabei alte Analysekategorien in neue ›übertragen‹ werden. In der Kulturwissenschaft resultiert die ›translatorische Wende‹ in der Auffassung von ›Kultur als Übersetzung‹, die das Paradigma ›Kultur als Text‹ ersetzt.2

Der Begriff der Fremdheit gehört zwar einer anderen Ordnung an als ›Gedächtnis‹ bzw. ›Erinnerung‹ und ›Translation‹, da er weder ein Produkt noch einen Prozess, sondern eine Relation bezeichnet. Dennoch liegt die Vorstellung des ›Fremden‹ allen kulturwissenschaftlichen Disziplinen zugrunde, für welche die Konturierung des ← 20 | 21 → ›Eigenen‹ in Opposition zum ›Anderen‹ fundamental ist: Soziologie, Ethnologie, Volkskunde, Psychoanalyse (vgl. SHIMADA 1994: 38). Auch heute sorgt diese Kategorie für Vernetzungen diverser geisteswissenschaftlicher Diskurse, darunter der Übersetzungs- und der Gedächtnisforschung. Und nicht zuletzt ist Fremdheit, wie BACHMANN-MEDICK (2009: 28) beiläufig bemerkt, an allen turns beteiligt: Jede Neufokussierung beginnt mit einer ›Verfremdung‹ der bislang unbestrittenen, als selbstverständlich hingenommenen Begriffe, Prämissen, Methoden und Forschungsobjekte, die man aus vertrauten Sinnzusammenhängen herauslöst und kritisch umwertet. In diesem Sinne beruht Verfremdung auf der Erkenntnis, dass eine Größe oder ein Gegenstand der wissenschaftlichen Reflexion (z.B. der Textbegriff oder der weltliterarische Kanon) eine bisher unbekannte Seite besitzt sowie neue, dem Forscher bislang nicht bewusste Bedeutungsaspekte und Interpretationspotentiale entfaltet. Auf der metawissenschaftlichen Ebene sind daher sowohl Translation als auch Fremdheit Triebfedern eines jeden turn: Eingebürgerte Gegenstände, Vorstellungen und Analyseinstrumente werden verfremdet und in neue ›übersetzt‹.

Ausgangspunkt dieser Arbeit ist die Beobachtung, dass ›Gedächtnis‹ und ›Translation‹, die ihren jeweiligen Ursprung in distinkten geisteswissenschaftlichen Subdisziplinen haben (Philosophie, Psychologie, Soziologie bzw. Linguistik und Translationswissenschaft), im Zuge des ›Cultural Turn‹ der 1980er Jahre eine metaphorische und/oder metonymische Umdeutung erfuhren und zunehmend ineinander greifen. Diese Verzahnung ist durch den Umstand deutlich nachweisbar, dass sowohl translatio als auch memoria nicht etwa eine mimetische Abbildung, sondern eine Re-Konstruktion der originellen Gegebenheit (eines Textes, eines vergangenen Ereignisses) aus gegenwärtigen Positionen darstellen; beide rücken das Abwesende bzw. Entfremdete wieder in die Präsenz. Als gemeinsamer Nenner von Erinnerung und Übersetzung bietet sich die Formel der Wiederholung mit Differenz an, wobei die Letztere wiederum mit Verfremdung sinnverwandt ist. Dadurch ermöglicht die Kategorie der ›Fremdheit‹ einen zusätzlichen Brückenschlag zwischen ›Gedächtnis‹ und ›Translation‹.

2.  Begriffsdefinitorische Schwierigkeiten: ›harte‹ und ›weiche‹ Fachbegriffe

Die Hochkonjunktur, die ›Translation‹ und ›Gedächtnis‹ in der neueren Forschung erleben, ist mit dem Risiko behaftet, dass sie – wie andere kulturwissenschaftliche Modewörter – überstrapaziert werden und »schnell etwas Totalisierendes bekommen« (SIMON 2002: 225). So versteht man unter Translation heute nicht nur die herkömmliche interlinguale Übersetzung, sondern schlichtweg alle Transferleistungen (vgl. WOLF 2012: 49, STRAUB 2002b: 362). Ähnlich verhält es sich mit dem genauso ›universalen‹ memoria-Begriff, dessen semantisches Feld weit über das individuelle Gedächtnis hinaus reicht. Erinnerungsfähigkeit wird nun auch Menschengruppen zugeschrieben, die mit einem kollektiven, sozialen, kommunikativen oder kulturellen Gedächtnis ausgestattet werden. In seiner überpersönlichen Bedeutung ← 21 | 22 → mache ›Gedächtnis‹, so die Kritik, je nach dem Kontext etablierte Kategorien wie Intertextualität, Kanon, Tradition, Identität, Geschichtsbewusstsein oder gar Kultur überflüssig.

Was die Wörter ›Gedächtnis‹ und ›Translation‹ so kritikanfällig macht, sind – neben ihrer übermäßigen Expansion und dem zuweilen inflationären Gebrauch – ihr alltagssprachlicher Charakter und die daraus resultierende Verschwommenheit und Vagheit. ›Gedächtnis‹, ›Übersetzen‹3 sowie ›Fremdheit‹ gehören zu denjenigen lebens- und praxisnahen, geradezu ›naiven‹ »Common-Sense-Begriffe[n]« (BACHMANN-MEDICK 2009: 70), die sich die Kulturwissenschaft der letzten zwei-drei Dekaden mit Vorliebe aneignet. Vor der Gefahr des Proliferierens solcher ›offenen‹, mehrdeutigen, zu Fachtermini umgemünzten Alltagswörter wird vielerorts gewarnt (vgl. GAJDA 2012: 186–187, GAJDA 2004: 9–10). Ich schließe mich dennoch der Meinung an, dass es in den heutigen Geisteswissenschaften Raum für beide Typen von Fachtermini gibt: für diejenigen umgangssprachlicher Provenienz und für die exakten aristotelischen Analysekategorien (vgl. TABAKOWSKA 2005: 665, GAJDA 2004: 10); beide sind notwendig und können sich gegenseitig ergänzen.4 Die Wissenschaft und ihre Sprache sind untrennbar mit lebensweltlicher Erfahrung verbunden (vgl. BÖHME/MATUSSEK/MÜLLER 2007: 203–204), und gerade in den Memory Studies treffen präzise Fachtermini auf gedächtnistheoretisch adaptierte alltagssprachliche Ausdrücke (vgl. LEE KLEIN 2000: 144). Sichtbar wird diese Verflechtung auch in der vorliegenden Studie: Bei der Erörterung meiner Beispieltexte im Hinblick auf die darin auftretenden Kombinationen der ›weichen‹ Kategorien ›Fremdheit‹, ›Gedächtnis‹ und ›Translation‹ stütze ich mich auf etablierte Fachtermini der Linguistik und Literaturtheorie.

Die metaphorisch-metonymische Bedeutungserweiterung von ›Translation‹ und ›Gedächtnis‹ hat zur Folge, dass beide Begriffe radiale Kategorien mit einem prototypischen Kern und unscharfen Rändern bilden. Damit gerade ihre flexible Semantik der praktischen Anwendung in der Textanalyse zum Vorteil gereichen kann, werden translatio und memoria im theoretischen Teil meiner Studie (Kap. I–II) zunächst sowohl in ihrem primären (›wörtlichen‹) als auch im sekundären (›übertragenen‹) Sinne erläutert und dann über den Begriff der Fremdheit miteinander verkoppelt (Kap. III). Die Gemeinsamkeiten zwischen ›Gedächtnis‹ und ›Translation‹ ← 22 | 23 → werden dabei umso deutlicher, je weiter sich die angenommene semantische Variante von der jeweiligen Wortbedeutung sensu stricto entfernt, also je stärker der Grad der Metaphorisierung bzw. Metonymisierung ausfällt – bis die beiden Begriffe letztendlich in den metawissenschaftlichen Diskurs umschlagen. Ihre Konvergenz entspricht der analogen begriffsgeschichtlichen Entwicklung von ›Gedächtnis‹ und ›Translation‹: Beide waren in ihrer prototypischen Bedeutung (als translation proper bzw. als individuelles Erinnerungsvermögen) Objekte der vorwissenschaftlichen Reflexion seit der Antike gewesen, bevor sie im 20. Jahrhundert zunächst verwissenschaftlicht und dann im metaphorisch-metonymischen Sinne in neue Kontexte eingeschrieben wurden.

3.  Zur gemeinsamen interdisziplinären Erforschung von Fremdheit, Gedächtnis und Translation: Forschungsstand und Perspektiven

Ich kann und will im Folgenden nicht entscheiden, welcher der drei Kategorien: ›Fremdheit‹, ›Gedächtnis‹ und ›Translation‹ der Rang des kulturwissenschaftlichen Leitbegriffs gebührt; eine solche Vorrangstellung lässt sich für keine von ihnen beanspruchen. Viel ergiebiger scheint es mir, nach ihrer gegenseitigen Anschlussfähigkeit sowie nach Möglichkeiten interdisziplinärer Zusammenarbeit zwischen Gedächtnis-, Fremdheits- und Übersetzungsforschung Ausschau zu halten. Eine Inspiration dazu sehe ich in der vorsichtig formulierten Prognose von Ansgar NÜNNING (2003: 3): »a new paradigm of Kulturwissenschaft could well evolve around the concept of cultural and collective memory« (Kursivdruck von mir, K.L.). Die Präposition »around« hält den Raum ›um das Gedächtnis herum‹ für weitere Konzepte offen, die das »neue Paradigma« quasi nach dem Baukastenmodell ergänzen könnten. Diese Rolle wäre für ›Translation‹ und ›Fremdheit‹ durchaus denkbar. ›Gedächtnis‹ wird heute interdisziplinär mit diversen Diskursen und Kategorien verbunden,5 nicht unbedingt aber mit der Übersetzungsproblematik, obwohl dies vielversprechend zu sein scheint (vgl. BROWNLIE 2016: XIV). Dass die Zusammenführung von ›Fremdheit‹, ›Gedächtnis‹ und ›Translation‹ legitim und sinnvoll ist, lässt sich paradoxerweise aus der Meinung von SARYUSZ-WOLSKA (2011: 67) ableiten, die das turn-Potential von ›Gedächtnis‹ gerade bestreitet: Memoria sei nicht die Kategorie, die ein Umdenken des Verständnisses von Kultur einleiten könne, da sie sprachliche, bildliche, räumliche, performative etc. Aspekte aufweise und daher in den bereits bestehenden Forschungsansätzen längst verankert sei. ›Gedächtnis‹ versuchen mehrere (Sub-)Disziplinen mit ihren jeweils eigenen Methoden zu erfassen, was bestenfalls zu einer Multi-, nicht aber Interdisziplinarität der Gedächtnisforschung führe (vgl. SARYUSZ-WOLSKA 2011: 22–23). Falls diese Diagnose zutrifft, so regt sie m.E. umso stärker dazu an, das Spektrum der sich mit memoria-Phänomenen befassenden Disziplinen um die Translationswissenschaft ← 23 | 24 → und Xenologie zu erweitern. Umgekehrt wäre die Hinwendung zur Gedächtnisproblematik für die Translationswissenschaft ebenso produktiv. Diese hat nämlich auch keine eigene, einheitliche Methodologie erarbeitet, sondern macht Anleihen bei Nachbardisziplinen (vgl. KAINDL 2004: 47). Ihre »methodische Abhängigkeit« (ebd.) ist m.E. nicht unbedingt ein Nachteil, bedeutet sie doch Offenheit für äußere Impulse und erlaubt es, innerhalb der übersetzungsrelevanten Fragen neue Schwerpunkte zu setzen. Die Einbeziehung des (psychologischen, soziologischen, historischen etc.) Gedächtnisbegriffs sensu stricto und sensu largo dürfte die von KAINDL (2004: 63–65) postulierte reziproke Interdisziplinarität der Translation Studies begünstigen. Eine solche Zusammenarbeit würde bedeuten, dass die Translationswissenschaft nicht nur ›fremde‹ Forschungsfragen und Analyseinstrumentarien ›importiert‹, sondern auch für Partnerdisziplinen wie die Gedächtnisforschung neue Anregungen bereit hält.

Der Gedankenaustausch zwischen Translations- und Gedächtnisforschung wird bisher in vereinzelten Monographien ausdrücklich thematisiert. Bella Brodzki führt in ihrem komparatistisch angelegten Buch Can These Bones Live? Translation, Survival, and Cultural Memory (BRODZKI 2007) translatio und memoria zusammen. ›Translation‹ versteht sie vorwiegend metaphorisch im Sinne von Walter Benjamin, als jedes Verfahren, das dem ›Original‹ – einem Text, einem persönlichen Erlebnis, einem historischen Ereignis – ein ›Nachleben‹ sichert. Interlinguales Übersetzen (»translation practice as procedure or technique«, BRODZKI 2007: 12) steht aber nicht im Vordergrund ihrer Überlegungen. Am Gedächtnis interessieren die Autorin vor allem dessen Schattenseiten: Vergessen, Trauer und Trauma, die in mündliches Erzählen und autobiographisches Schreiben überführt oder transgenerationell übermittelt werden. In die Problematik der cultural memory vertieft sich Brodzki allerdings nicht.

Siobhan Brownlies Monographie Mapping Memory in Translation (BROWNLIE 2016) will die beiden »boom areas« der Translations- und Gedächtnisforschung explizit miteinander verknüpfen und so dem Umstand abhelfen, dass »the research located at the intersection of the two fields has been somewhat dispersed« (ebd.: XIV). Von den Translation Studies ausgehend, zeichnet die Autorin Verbindungslinien zwischen dem vorwiegend interlingualen Übersetzen und diversen Formen der persönlichen und kollektiven Erinnerung nach. Anders als Brodzki, hebt Brownlie den affirmativen Aspekt der translatio hervor, die das gemeinsame Gedächtnis von Menschengruppen fundiert und verstärkt. Daher klammert sie »psychological trauma, pathologies of memory, forgetting or translation as failure« (BROWNLIE 2016: 12) aus. Ihre Fallbeispiele reichen von der Literatur über Gebrauchstexte und historische Dokumente bis hin zu digitalem Computer-Gedächtnis und schriftlicher Kommunikation via Internet.

Neue Perspektiven auf interdisziplinäre Vernetzungen der Translation eröffnet Rainer Guldin in seiner Studie Translation as Metaphor (GULDIN 2016) – mit dem Ziel, das geringe Ausgreifen der Translationswissenschaft in die Nachbardisziplinen auszugleichen (vgl. ebd.: 1). Um potentielle und bereits bestehende interdisziplinäre Wechselbeziehungen zu erhellen, weist er auf die Omnipräsenz der translatio-Metapher in so unterschiedlichen Bereichen wie die Postcolonial Studies einerseits ← 24 | 25 → und Medizin und/oder Genetik andererseits hin. Überschneidungen mit der Gedächtnisproblematik ergeben sich nach Guldin beispielsweise beim Konzept des individuellen Gedächtnisses in der Psychoanalyse oder der Auffassung von »Translation as Remembrance and Mourning« (GULDIN 2016: 90) in Literatur und Geschichte.

Die vorgenannten Zugänge, welche die Verzahnungen zwischen Gedächtnis und Translation von jeweils anderen Ausgangspositionen aus erfassen, veranschaulichen den inter-, wenn nicht gar transdisziplinären Charakter beider Phänomene. Indem translatio und memoria für so weit auseinanderliegende Bereiche wie Literaturwissenschaft, Soziologie, Medizin, Neurobiologie und Informatik von Interesse sind, überwinden sie die seit Dilthey unverrückbare Grenze zwischen den Geistes- und Naturwissenschaften (vgl. ERLL 2011: 105), stellen diese aber auch zur Disposition. Auf die Notwendigkeit einer interdisziplinären Herangehensweise verweist der polnische Komparatist Tomasz BILCZEWSKI (2013), der Verbindungen zwischen Translation und dem traumatisierten Gedächtnis ins Visier nimmt. So wie Guldin macht er Abstecher in Freuds Lehre einerseits und in die Molekularbiologie andererseits, um die translatio als genetischen Transfer (Vererbung) von Kriegstraumata festzumachen. Die Bündelung von Einsichten aus der Psychoanalyse und der Epigenetik erlaubt es ihm, das Zusammenwirken von Translation und postmemory in literarischen Texten über den Holocaust nachzuweisen.

Meine Studie ist all diesen m.E. innovativen und vielversprechenden Zugängen verpflichtet. Mein eigenes Konzept unterscheidet sich von ihnen durch die Zwischenschaltung der Kategorie ›Fremdheit‹ als eine Art Gelenkstelle zwischen Translation und Gedächtnis. Die gegenseitigen Beziehungen und Wechselwirkungen dieser drei Begriffe lassen sich etwa so festhalten: Geht man vom Verständnis der ›Translation‹ als Wiederholung mit Differenz bzw. Transfer mit Modifikation aus, so entstehen alle Gedächtnisformen und -inhalte infolge von translatorischen Vorgängen (›Übersetzungen‹ zwischen dem individuellen, kommunikativen und kulturellen Gedächtnis), deren Triebkraft die Auseinandersetzung mit Fremdheit bildet: mit sprachlicher und kultureller Andersheit, mit ›Fremdkörpern‹ in der eigenen Psyche (dem Unheimlichen, dem Abjekt, mit Phantomen und Traumata) und im kollektiven Gedächtnis (dem kollektiven Unbewussten, Krypta und Archiv, dem ›Gegen-Gedächtnis‹ von Minoritäten). Die gedächtnisformende Fremdheitserfahrung oszilliert dabei zwischen der Bewusstmachung und der Aneignung des Fremden.

4.  Schwerpunkt: Kulturtexte

Translationen, die sich zwischen diversen Gedächtnisformen als Ergebnis des Umgangs mit Fremdheitsphänomenen abspielen, zeige ich an Kulturtexten des 20. und 21. Jahrhunderts auf. Unter ›Kulturtext‹ verstehe ich in Anlehnung an den kultursemiotischen Ansatz von Jurij Lotman ein Gebilde, das drei Bedingungen erfüllt. Als Kulturtext gilt erstens nur eine Zeichenfolge, die nach außen hin deutlich abgegrenzt ist, einen Anfang und ein Ende sowie eine innere Struktur besitzt. Zweitens muss ein Kulturtext in einem bestimmten Medium fixiert sein (in Stein geritzt, ← 25 | 26 → gedruckt, im virtuellen Raum des Internets gespeichert) (vgl. LOTMAN 1993: 83–85). Drittens muss ein Kulturtext im Kultursystem funktionieren, d.h. für die jeweilige Zeichengemeinschaft eine Bedeutung haben, tradiert und somit lebendig erhalten werden (vgl. PIATIGORSKI/ŁOTMAN 1975). Die Erweiterung des Textbegriffs über das Verbale hinaus entspricht der Umorientierung der Sprach- und Literaturwissenschaft im Zuge des ›Cultural Turn‹. Zu ›Texten‹ gehören demnach nicht nur Bilder oder Musikwerke, sondern auch hybride inter- oder transmediale Phänomene wie Film, Oper, Hörspiel, visuelle Poesie oder Comic.

Das Moment der medialen Fixierung und sozialen Bedeutsamkeit von Lotmans ›Kulturtexten‹ greift Jan Assmann auf, der im gedächtnistheoretischen Kontext von kulturellen Texten spricht. Darunter versteht er

Details

Seiten
464
Erscheinungsjahr
2018
ISBN (ePUB)
9783631710142
ISBN (PDF)
9783653063660
ISBN (MOBI)
9783631710159
ISBN (Hardcover)
9783631667491
DOI
10.3726/978-3-653-06366-0
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Oktober)
Schlagworte
Übersetzung Erinnerungskultur Kollektives Gedächtnis Xenologie Trauma studies Remediation
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2018. 464 S., 10 s/w Abb., 3 Tab.

Biographische Angaben

Katarzyna Lukas (Autor:in)

Katarzyna Lukas studierte Germanistik und promovierte an der Adam-Mickiewicz-Universität Poznań in Polen. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Universität Gdańsk in Polen. Ihre Forschungsgebiete sind Komparatistik, Translations- und Kulturwissenschaft.

Zurück

Titel: Fremdheit – Gedächtnis – Translation